Leitzinsexperimente

Die Notenbanken, denen alle Mittel zur Verfügung stehen, Geld in den Markt zu pumpen, und die sich in schönster Unabhängigkeit dabei gerne auch einmal von den Wünschen der Politik leiten lassen, stehen vor dem Problem, eine Inflation, die keine ist, mit geldpolitischen Mitteln bekämpfen zu sollen.

Ob sie es wollen, das steht auf einem anderen Blatt Papier.

Es gehört zum Standard-Repertoire meiner geldpolitischen Aufsätze, dass, wer vernünftig agieren will, die Unterscheidung zwischen Inflation und Teuerung treffen muss.

Teuerung ist unabhängig  vom Verhältnis zwischen Liquidität und Angebot. Die Preise steigen nicht, weil zu viel Geld am Markt ist. Die Preise steigen, weil bei den Waren Knappheit, im schlimmeren Fall „Mangel“ herrscht. Die Teuerung sorgt dafür, dass die weniger kaufkräftigen Nachfrager vom Bezug der knappen Waren ausgeschlossen werden und versuchen müssen, preiswerten Ersatz zu finden. Gelingt  dies nicht, wie es bei Mikrochips und Kabelbäumen für die Automobilindustrie der Fall war, geht die Produktion von Neuwagen zurück.

Die Automobilkonzerne, denen damit Umsätze und mit den Umsätzen Gewinne entgehen, können die Knappheit der Neufahrzeuge nutzen, um die Verkaufspreise anzuheben und Rabatte zu reduzieren, was schließlich auch die Händler dazu zwingt, ihre Kunden sehr nahe an den Listenpreisen zu bedienen.

Hohe Neuwagenpreise führen dazu, dass Autokäufer eher dazu neigen, statt des Neuwagens einen Gebrauchten ins Auge zu fassen. Die Zahl der auf dem Markt angebotenen Gebrauchten sinkt jedoch zugleich, weil  wiederum manche Kunden die Neuwagenbeschaffung aufschieben und ihr Fahrzeug ein Jahr länger nutzen als ursprünglich geplant. In der Folge steigen auch die Preise für Gebrauchtfahrzeuge.

Wenn nun die Banken aufgrund der Zinsenscheidungen der EZB dazu übergehen müssen, die Finanzierung des Neuwagenkaufs zu verteuern, wenn sie also an der Zinsschraube drehen, dann rollt deswegen kein einziger Neuwagen zusätzlich vom Band. Die Knappheit an neuen Automobilen, ausgelöst von fehlenden Zulieferteilen bleibt bestehen und die Nachfrage, die ja in erheblichem Maße nicht befriedigt werden kann, wird nicht soweit zurückgehen, dass sich Angebot und Nachfrage ausgleichen können.  

Nun ist die mangelnde Verfügbarkeit von Neuwagen nichts, was die Mobilität der Bevölkerung auf kurze und mittlere Sicht bedenklich einschränken würde. Für die Industrie kann sich eine Minderauslastung der Kapazitäten jedoch sehr ungünstig auswirken, zumal sich die Kapitalkosten (Abschreibungen, Zinsen) durch die Minderauslastung nicht reduzieren.

In anderen Wirtschaftsbereichen kann die Zinserhöhung vor dem Hintergrund einer Teuerung jedoch auch kurzfristig zu massiven Problemen führen.

Die Herstellung von Backwaren ist energieintensiv. Auf dem Energiemarkt herrschen – knappheitsbedingt – derzeit Höchstpreise. Die Herstellung von Backwaren erfordert den Einsatz von Getreide. Auf dem Getreidemarkt herrschen – knappheitsbedingt – derzeit Höchstpreise. Die Bäckereien sind nicht in der Lage, die knappheitsbedingten Kostensteigerungen in ihrer Kalkulation aufzufangen. Erhebliche Preiserhöhungen treffen die Verbraucher bereits heute. Die Möglichkeit von Wanderungsbewegungen, hin zu Lebensmitteln mit niedrigeren Preisen sind  begrenzt. Es kann Bäckereibrot durch Supermarktbrot ersetzt  werden, doch auch hier sind die Preise bereits gestiegen, zudem wird die zusätzliche Nachfrage nach den billigeren Backwaren zu Knappheiten in diesem Produktsegment führen, was nochmals  preistreibend wirken wird.

In Anbetracht von rund 6 Millionen Menschen, die in Deutschland von mageren Transferleistungen leben müssen, bahnt  sich da eine Katastrophe an, die durch  Zinserhöhungen nur noch zusätzlich verschärft werden kann.

Staatliche Hilfsprogramme, wie die geplante Ausschüttung  von Hilfsgeldern an die Bedürftigen helfen dabei nicht wirklich. Es fehlt ja nicht am Geld, das Geld ist schließlich nicht weniger geworden. Es fehlt  am Brot. Brot ist ein notwendiges Nahrungsmittel. Geld kann man nicht essen.

 

Natürlich hat die Zinserhöhung neben der verteuernden Wirkung auf dem Binnenmarkt auch eine wichtige Wirkung im internationalen Devisenhandel. Je höher der Zins, der Anlegern in einem Währungsraum geboten wird, desto stabiler (im Verhältnis zur Wirtschaftskraft) verhält sich der Außenwert der Währung.

Die US-Notenbank ist der EZB mit ihren Zinsschritten davongezogen, das wurde nicht nur am Kursverhältnis Dollar/Euro erkennbar, es hat – unter ungünstigen weltwirtschaftlichen Bedingungen – sogar zu einem Einbruch der Aktienkurse im DAX geführt.

Damit verteuern sich Importe aus dem Dollar-Raum, die Exporteure allerdings freuen sich, denn ein niedriger Euro-Kurs verbilligt ihre Produkte für die Kunden im Ausland.

Sollte – und das  ist noch völlig offen – der Euro-Kurs zu einer Belebung der Produktion im Inland beitragen, was zugleich Devisen in den Wirtschaftsraum bringen könnte, dann – und nur dann – wäre es möglich, eine wirtschaftliche Überhitzung und die damit einhergehende Gefahr einer echten Inflation zu erwarten, die durch Erschwerung des Zugangs zu Liquidität, also Zinserhöhung, bekämpft werden könnte.

Davon sind wir jedoch m.E. noch weit entfernt.

Bleibt die Frage zu beantworten, ob eine durch Zinserhöhungen ausgelöste Steigerung des Euro-Kurses helfen könnte, zur Preisstabilität zurückzukehren.

Es zeigen sich dabei Schwierigkeiten.

Erstens ist die Fed mit Ihren Zinserhöhungsschritten schon zu weit vorne, um den Dollar mit behutsamen Schritten der EZB noch einholen zu können. Zweitens sind die Staatsschulden – samt der als „Sondervermögen“ deklarierten Sonderschulden – im Euroraum so hoch, dass jeder halbe Prozentpunkt Zinserhöhung die Staatsausgaben für den Schuldendienst (mittel- und langfristig/Laufzeiten der Anleihen) um etwa 60 Milliarden Euro in die Höhe treiben würde. Etwa ein Fünftel davon entfiele auf Deutschland.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch diese Zinslasten nur durch Netto-Neuverschuldung finanziert werden können. Die „Schwarze Null“, soweit es sie je wirklich gegeben hat, muss damit definitiv beerdigt werden. Einige EU-Südländer dürften dabei in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Es wird aber mit einem halben Prozentpunkt nicht getan sein. Nach meiner Einschätzung wird es – alleine zur Kurspflege – notwendig werden, bis Ende 2023 das Leitzins-Niveau auf mindestens 3 Prozent anzuheben. Wir sprechen dann von zusätzlichen Zinslasten im Bereich von 350 Milliarden Euro, die sich allerdings nicht bei der EZB als Gewinn niederschlagen werden, sondern bei den Geschäftsbanken, die wiederum fröhlich Dividenden an ihre Aktionäre verteilen, statt Rücklagen zu bilden. Schließlich kann die Rettung durch die Staaten für den Fall neuerlicher Schieflagen als gesichert angesehen werden.

Alleine der letzte Absatz ist Anlass genug, die Unzulänglichkeiten des herrschenden Geldsystems wieder einmal in den Fokus zu rücken.

Die Zentralbanken sind zwar in der Lage, den Banken praktisch unbegrenzt Liquidität zur Verfügung zu stellen, und haben davon auch vor allem mit Ankauf von „Wertpapieren“ in einem unglaublichen Umfang Gebrauch gemacht, sie sind auch in der Lage, die Sätze der Kredit- und Guthabenzinsen der Geschäftsbanken ein Stück weit zu beeinflussen, aber es fehlt ihnen an geeigneten Instrumenten zur Regulierung der Geldmenge und der Liquidität.

Ob es eine Geldschwemme oder eine Kreditklemme gibt, das bestimmen alleine die Geschäftsbanken, und zwar unabhängig von den jeweiligen Leitzinsen der Zentralbanken.

Des Weiteren ist es ein Unding, dass es Banken gestattet ist, Kredite für Spekulationsgeschäfte bereitzustellen und sich selbst in mannigfacher Weise an Spekulationsgeschäften zu beteiligen.

Kredite sollten in erster Linie dazu da sein, Investitionen in realwirtschaftliche Projekte der gewinnorientierten Wirtschaft zu finanzieren. Dazu kann auch die Ausreichung von Konsumentenkrediten gehören, wenn dies für die Realisierung eines qualitativen und ggfs. auch eines erwünschten quantitativen Wachstums erforderlich ist.

Daneben sollten verlorene Zuschüsse /Subventionen für gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben – unabhängig vom Bankensystem – durch ein eigenständiges Geldschöpfungsrecht der Staaten, analog zum Münzregal, nur in größerem Maßstab und mit gesetzlich fixierter Zweckbindung ausgereicht werden können. Damit entstünde ein realwirtschaftlicher Liquiditäts-Sockel der nicht permanent durch Tilgung vernichtet wird und folglich durch Neuverschuldung wieder angehoben werden muss, wie dies heute der Fall ist.

Zum Abbau des Einflusses international agierender Konzerne, durch deren Wirken erhebliche Mengen an Liquidität aus einem Wirtschaftsraum abgezogen werden können, ist der Außenhandel wieder auf jenes vernünftige Maß zu begrenzen, bei dem sich ausgeglichene Handels- und Zahlungsbilanzen einstellen. Permanente Unterdeckungen oder Überschüsse sind volkswirtschaftlich gleichermaßen von Übel, auch wenn die Protagonisten der Globalisierung das Gegenteil behaupten.

Leider besteht keine Hoffnung, dem bestehenden Geldsystem zu entkommen. Dafür ist es für die Gewinner viel zu lukrativ – während Politiker immer noch glauben, um Schaden abzuwenden, sei Neuverschuldung das beste Mittel.