Berlin
Freitag, 3. März 2023

 

Am Morgen des dritten März lag eine erste Bilanz der Schreckensnacht vor. Bundesweit waren über siebenhundert Tote und annähernd zweitausend Verletzte gezählt worden.

Im immer noch tagenden Koalitionsausschuss beharkten sich Falken und Tauben, als handle es sich um das inzwischen sprichwörtlich gewordene „Zusammentreffen von Großfamilien“. Die einen erkannten ihre offensichtliche Unfähigkeit, die entstandene Lage noch korrigieren zu können, plädierten für die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen, die Einsetzung eines Interimskanzlers und einer Riege nur noch geschäftsführender Minister, um sich aller Verantwortung an dem, was zweifellos noch kommen würde, durch klammheimliches Verschwinden zu entziehen. Die anderen argumentierten immer wieder mit dem Bekennerschreiben, das die Attentäter an allen Anschlagsorten gleichlautend zurückgelassen hatten. Dort hatte es geheißen:

An das deutsche Volk! Allahu Akbar!

Wenn ihr die Toten gezählt und die Verwundeten versorgt haben werdet, werdet ihr feststellen, dass wir eine Arbeit übernommen haben, für die ihr nicht mehr die Kraft aufgebracht habt, und dass keinem von euch ein Haar gekrümmt wurde.

Wir haben für euch jene Verbrecher und Verräter, die Allah ein Gräuel sind, in ihre Schranken verwiesen. Dabei mag auch das Blut von Unschuldigen geflossen sein, doch wer ein Krebsgeschwür entfernen will, muss dabei auch tief ins gesunde Fleisch schneiden.

Es waren aufrechte Männer aus eueren Reihen, voller Nationalstolz und Ehrgefühl, Männer, die lange vergeblich das harte Einschreiten der Polizei gefordert hatten. Diese Männer haben uns gebeten, unsere Brüder zu bestrafen, und sie haben die notwendigen Mittel für diese Aktion zur Verfügung gestellt.

Ihnen sollt ihr danken.

Allahu Akbar!

 

„Wenn wir das veröffentlichen, richtig geframt, dann ist das wie eine Superwaffe im Kampf gegen Rechts! Wer sich diese Chance entgehen lassen, wer sich feige drücken will, der muss sich fragen lassen, welchen faschistischen Großvater er bisher verschwiegen hat.“

„Leute! Klingelts bei euch denn immer noch nicht? Merkt ihr nicht, dass wir in einer Falle sitzen, von der wir weder wissen, wer sie aufgestellt hat, noch, wie wir je wieder herauskommen können? Wer hat die Story von den Leichen in den Alpen lanciert? Keine Ahnung, oder? Warum hat sich der Kanzler wirklich erschossen? Keine Ahnung, oder? Warum liegt da in Bayern ein abgeschossener Kampfhubschrauber auf der Wiese? Keine Ahnung, oder? Wer ist dieser verfluchte Q, woher hat er seine Informationen? Keine Ahnung, oder?

Mit keine Ahnung alleine kommen wir nicht weiter. Auch wenn es gereicht hat, uns hierher zu bringen. Da draußen gibt es ein echtes Problem. Und ich sehe hier im Raum niemandem, von dem ich wüsste, dass er schon einmal ein echtes Problem gelöst hätte. Gendersternchen malen ist kein echtes Problem. Gegen Rassismus, den es hierzulande faktisch nicht gibt, auf die Straße zu gehen, ist auch kein echtes Problem. Bei einer Demo gegen rechts mitzulaufen, ist kein Problem, noch nicht einmal bei der Randale mit eingeworfenen Schaufenstern und brennenden Autos erwischt zu werden, ist ein Problem, weil wegen solcher Peanuts kein Richter mehr seinen Talar überstreift.

Ihr lebt doch in einer Parallelwelt der Selbstgefälligen.“

„Blödsinn! Wer sitzt denn hier in der Falle. Wir können jetzt die AfD verbieten lassen, das ist doch die Chance! Wer will uns dann noch hindern, die Wohnungen zu enteignen, die Banken zu verstaatlichen, endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchzusetzen, endlich das Bedingungslose Grundeinkommen auf den Weg zu bringen? Wer denn noch? Die FDP?“

„Und wie erklären wir dann das ganze Schlamassel, in das wir geraten sind, um nicht zu sagen, in das ihr uns mit hineingezogen habt?“

„Wieso erklären? Was müssen wir denn erklären? Eure große Vorsitzende hat doch gezeigt, wie es geht! Wir sagen, wie sie, vielleicht mit geringfügig angepasstem Wortlaut so etwas wie: „Wir schaffen das!“, und dann ists gut. Das ist jahrelang gutgegangen, das geht auch weiter gut. Schließlich haben wir uns ja kein neues Volk gewählt. Ist von Brecht, wenn ich mich recht erinnere.

Ich habe von dieser Dauersitzung jetzt die Schnauze voll. Wir drehen uns ja doch nur im Kreis. Ich fordere eine Abstimmung. Wer ist dafür, dass wir bekanntgeben, der Kanzler sei an einer heimtückischen Krankheit gestorben, gegen die er seit Jahren tapfer angekämpft hat, wer ist dafür, dass wir Ilka Schilling-Krämer im Bundestag zur Nachfolgerin wählen, wer ist dafür, dass wir unseren Kurs, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, unbeirrt weiterverfolgen? Wer ist dafür, der hebe jetzt die Hand.“

Der Antrag wurde mit knapper Mehrheit angenommen. Es waren die Stimmen jener taktisch denkenden Unionspolitiker, denen im Augenblick überhaupt nicht daran gelegen war, den Kanzler aus ihren Reihen stellen zu müssen, die den Ausschlag für die kurze Amtszeit der von den Grünen vorgeschlagenen Kandidaten gaben.

 

 

 

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.