Berlin Siemensstadt
7. Februar 2023

 

Ingo Kolb benötigte heute kein Megaphon. Hatten sich vor zwei Monaten noch etwa zweihundert Aktivisten in der leeren Kabelwerkshalle versammelt, waren dem Aufruf auf Indymedia diesmal nur drei Dutzend Leute gefolgt. Es fiel auf, dass vor allem die Studenten fehlten. Womöglich hatten sie versucht, den „Jahrhundertwinter“, wie er jetzt schon offiziell hieß, bei ihren Eltern zu überstehen, wo für Heizung ebenso gesorgt war, wie für warme Mahlzeiten und überhaupt so manche Bequemlichkeit, während dieser Winter in den WGs in Berlin nichts anderes ermöglichte, als ödes Herumhocken in tristen, oft genug kalten Räumen, wo man sich doch schnell gegenseitig auf die Nerven ging. Weihnachten war ja auch noch, und die katastrophale Gesamtsituation ließ dann doch auch bei den hartgesottensten Straßenkämpfern die Sehnsucht nach so etwas wie Heimat, Familie, Sicherheit und Geborgenheit aufkommen.

So oft man sich auch über die bourgeoisen Rituale und Gepflogenheiten als überkommene Gefühlsduselei empört hatte, die nur den Blick für die revolutionäre Situation und die Verbrechen des Schweinesystems verstellte: Ein einziger heftiger Schlag der Natur hatte genügt, um selbst wieder, gänzlich unreflektiert, den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zu folgen und die Zuflucht bei der Familie zu suchen, die nach wie vor als Basis jeder höheren Organisationsform unverzichtbar ist, weil eine Gesellschaft, in der es keine familiären Bindungen mehr gibt, einfach zum Untergang in unerbittlicher Konkurrenz, jeder gegen jeden verurteilt ist. Nur in der Familie können jene Verhaltensmuster erfahren und erlernt werden, die ein konfliktfreies Zusammenleben erst ermöglichen, beziehungsweise Möglichkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung erst eröffnen. Gerade das können Kitas, Tagesmütter, Kindergarten und Schule auch mit den raffiniertesten pädagogischen Mitteln nicht leisten, denn dort fehlt jenes Band zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern, das als Urvertrauen des Neugeborenen mit in die Welt kommt und nur durch grobe und nachhaltige Verletzungen zerrissen werden kann.

„Schön, dass wenigstens ihr gekommen seid“, sagte Ingo zur Begrüßung und verzog sein Gesicht zu einem schiefen, abfälligen Grinsen.

„Ist ja wohl nicht viel Staat zu machen, mit euch. Aber ich gebe nicht auf, bevor dieses Schweinesystem nicht besiegt ist, und ihre werdet auch nicht aufgeben, das weiß ich, das sehe ich euren entschlossenen Gesichtern an. Natürlich seid ihr enttäuscht, dass unsere hübsche Inszenierung vom letzten Jahr, nachdem sich alles so schön angelassen hatte und der Krieg gegen die Paläste schon in allen Städten in vollem Gange war, durch ein paar läppische Schneeflocken abgewürgt worden ist. Scheiße war das. Scheiße, scheiße, scheiße. Aber, wie heißt es so schön: Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter!

Nächstes Wochenende gibt es zwei wichtige Termine. Von Samstag auf Sonntag sind Verschönerungsaktionen angesagt. Ihr zieht in Zweiergruppen los – mehr ist jetzt einfach nicht drin. Einer sichert, einer malt. Sucht euch schon mal eure Partner aus, ich gebe jeder Gruppe jeweils drei Adressen, die nahe beieinander liegen und bequem in einer Nacht abgearbeitet werden können. Sprühdosen könnt ihr euch dann hier aussuchen. Sind alles Nazi- oder Bullenschweine. Schöne große Hakenkreuze sprühen, möglichst so, dass die dann auch von der Straße aus gut sichtbar sind. Wo es Gartenmauern gibt, sind die der Malgrund. Ich erwarte gute Arbeit. Die Fotodokumentation übernehme ich am Sonntagmorgen. Die Adressen sind innerhalb von zwei Stunden abgefahren. Kommst du mit mir, Rita und übernimmst das Fotografieren? Ich hol dich dann morgen Früh so gegen neun zuhause ab.

Nachdem das nun geklärt ist, die zweite wichtige Sache. Es ist wieder einmal „Bunkerstunde“ angesagt. Am Sonntag, zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr. Ihr wisst ja. In dieser Zeit vergraben sich alle, wirklich alle, irgendwo in geschlossenen Räumen, am besten in Kellern, Tiefgaragen und so weiter. Wer so was mag, kann sich auch im Aquarium die Haie ansehen. Das passt auch. Wichtig ist, dass nirgends Tageslicht hereinkommt. Von der strikten Einhaltung der Bunkerstunde ist unsere Finanzierung abhängig. Also haltet euch daran.“

Während Ingo Kolb seine Anweisungen gab, hatte sich eine Seitentür der Halle noch einmal geöffnet und ein Nachzügler, mit tief über die Stirn gezogener Pudelmütze hatte sich der kleinen Gruppe wortlos angeschlossen. Kolb hatte ihn immer wieder gemustert, irgendwie kam der ihm bekannt vor, aber die Beleuchtung war zu schlecht, um den Neuankömmling wirklich zu erkennen.

Jetzt ging Kolb direkt auf ihn zu, baute sich drohend vor ihm auf und fragte: „Wer bist du, wie kommst du hier herein? Sollten wir dich kennen?

„Aber Ingo“, grinste der so Angesprochene, zog sich die Pudelmütze von der spiegelblanken Glatze und rückte die Nickelbrille mit den kreisrunden Gläsern auf seiner Nase zurecht, „erkennst du mich jetzt wieder?“

„Ich glaub’s nicht! Yogi, altes Haus! Wo kommst du denn her?

„Ist eine lange Geschichte. Bin ja unter die Freien Siedler gegangen. Riesengaudi. Denen kannste echt alles erzählen, und die spuren wie die Hunde. Ich war da echt der King, bis der Schnee kam, und mit dem Schnee dieser Rambo, der mir meinen Platz als Anführer streitig gemacht hat. Als ich ihn verjagen wollte, hat er mich halbtot geschlagen. Ich war lange bewusstlos. Er glaubt, er hätte mich erledigt, aber die beiden Jungs, denen er befohlen hat, mich wie Dreck wegzuschaffen, die haben mich in meine Hütte gebracht und aufgepäppelt. Er war alleine. Als er den ganzen Verein von der Alm nach Garmisch geführt hat, konnte ich schon wieder einigermaßen mithumpeln. Er hat mich nicht mehr bemerkt – aber ich habe ihn beobachtet. Ich habe sogar sein Autokennzeichen. Der wird noch sein blaues Wunder erleben, und ich denke, ihr werdet mir gerne dabei behilflich sein.“

„Aber sicher, immer wieder gerne, Yogi. Und wie bist du dann wieder nach Berlin gekommen?“

„War gar nicht so einfach, und ist auch egal. Kurz vor Weihnachten war ich wieder da. Die alte Clique ausgeflogen, nicht aufzufinden. Glücklicherweise habe ich die Siedlerkasse gerettet. Du glaubst ja gar nicht, was die freiwillig alles abgedrückt haben. Alles für die Gemeinschaftsaufgaben, klar … Ich hab mich erst in einer Pension eingemietet, neue Klamotten hatte ich mir schon in Garmisch gegriffen. Ist ja nicht wahr, dass es da friedlich geblieben ist. Als ich weg bin, gab es kein einziges heiles Schaufenster mehr in dem Kaff – aber es blieb eben auch vollkommen bullenfrei, das war das Schöne. Inzwischen habe ich in Zehlendorf eine Wohnung angemietet und schick eingerichtet. Einen alten Golf konnte ich mir aus Siedlerkasse auch noch leisten. Ja, ich habe mich ein paar Tage ausgeruht, und nun kam der Aufruf zum Treffen und ich dachte, schau mal im Kabelwerk vorbei, vielleicht treffen sie sich ja immer noch dort – und da bin ich nun.“

„Du bist also wieder voll aktiv und am Wochenende dabei?“

Yogi hatte diese Frage erwartet. „Nein, Ingo, geht leider nicht. So fit, wie ich aussehe, bin ich leider noch nicht. Irgendwie ist das psychisch. Depressiv. Fühle mich auch oft desorientiert, kraftlos. Ich würde wohl nur irgendwie dumm im Weg herumstehen. Dabei bin ich ganz und gar auf diesen Typen fixiert, von dem ich erzählt habe, und eure Hilfe, die ich brauche, ist für euch ja ein Klacks. Bitte macht einen Aufruf. Gesucht wird der dunkle SUV, Mitsubishi Pajero, mit dem Kennzeichen E-HM 201. Das hat doch schon oft funktioniert, wenn wir jemanden gesucht haben. Es genügt, mir die Standortmeldungen per SMS durchzugeben. Wenn ich dann alles erledigt habe, schmeiß‘ ich ne Party für euch.“

Ingo gefiel es nicht, dass Yogi sich nicht mehr aktiv beteiligen wollte. Und er hatte einen Verdacht.

„Du warst also auf einer Alm unter den Freien Siedlern. Den ganzen Sommer über. Seit du hier weg bist, gab es für dich keine Bunkerstunde mehr,
oder?“

„Wie denn auch? Erstens gab es da, wo ich war, weder eine Tiefgarage noch einen Zoologischen Garten mit Haifischbecken, und zweitens habe ich ja nie etwas davon erfahren. Das war ja immer so geheim, dass du es nur bei unseren Treffen bekanntgegeben hast. Kann ja aber so schlimm auch nicht sein, denk ich mal.“

„Sorry, Yogi, damit bist du raus. Dein ganzer Psychokram rührt daher, dass du mehrmals zum falschen Zeitpunkt ungeschützt im Freien warst. Es wird nicht mehr lange dauern, und du wirst ebenso zum Schlafschaf geworden sein, wie deine Freien Siedler. Wir hatten schon mehr solche Fälle. Was da passiert, während der Bunkerstunden, das weiß ich nicht. Aber es passiert etwas mit allen Weißen, die sich im Freien aufhalten. Den SUV finden wir für dich noch. Hoffentlich bist du bis dahin noch in der Lage, deine Rache auszuleben. Aber auf deine Party verzichten wir. Komm nie wieder hierher – und jetzt verschwinde.“

Yogi schlich davon wie ein begossener Pudel. Er hatte erreicht was er erreichen wollte – und jetzt war er einfach nur noch müde und wollte seine Ruhe. Irgendwie war er froh, dass Ingo ihn davongejagt hatte. Wenigstens brauchte er jetzt keine Ausreden mehr erfinden, warum er sich nicht mehr beteiligen wollte.

 

 

Zurück zur Folge „Der Winter“       Weiter zu Folge 17           

Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.