Frankfurt am Main
Donnerstag, 20. April 2023

 

Als kurz nach neun Uhr die ersten Horrormeldungen über den katastrophalen Handelsauftakt an der Frankfurter Börse über den Ticker kamen, liefen überall auf der Welt die Telefone heiß. War das der lange erwartete Crash, der die Weltwirtschaft in den Abgrund reißen sollte, der Crash, mit dem die Große Transformation, der Reset, in die heiße Phase gebracht werden sollte? Oder handelte es sich nur um ein riskantes Spekulationsmanöver, bei dem viele innerhalb weniger Stunden alles verloren, während wenige, genüsslich abwartend, alles gewannen?

Die Ängstlichen folgten dem Trend wie die Lemminge. Die Masse der Verkaufsorders war kaum zu bewältigen. Nach einer Stunde hatte der DAX die magische Grenze von sechstausend Punkten im Sturzflug nach unten durchbrochen. Der Handel hätte längst ausgesetzt werden müssen. Doch genau das geschah nicht.

Im Finanzministerium breitete sich Unruhe aus. In eilig zusammengerufenen Sitzungen schlug man sich beinahe die Köpfe ein. Wieder einmal verhärteten sich die Fronten zwischen den konservativ Denkenden und ihren sich als progressiv bezeichnenden Gegenspielern bis zur Entscheidungsunfähigkeit. Sollte der Staat eingreifen, um den weiteren Absturz zu bremsen? Oder sollte der Staat, ganz im Gegenteil, mit verunsichernden öffentlichen Äußerungen gerade dazu beitragen, die Selbstzerstörung des Kapitalismus zu forcieren, um endlich eine bessere neue Welt zu realisieren, in welcher allen Menschen in absoluter Gleichheit gerechte Teilhabe ermöglicht würde.

Waldo Fuchs nahm an keiner dieser Sitzungen teil. Er ging davon aus, dass es sich bei dieser Inszenierung um einen Vergeltungsschlag handelte, mit dem Ziel, am Ende des Tages mit Einkaufswagen voller Aktien, die zum Super-Schnäppchen-Preis im Angebot waren, die Mehrheit in den deutschen Konzernen zu erlangen. Dass Aktienkurse fallen und steigen, ändert ja nichts am inneren Wert, an der Ertragskraft der Aktiengesellschaften. Diese feine Unterscheidung war im Bewusstsein der Allgemeinheit, bis hinauf in höchste Führungsebenen, jedoch durch eine verlogene, irreführende Berichterstattung gelöscht. Die Menschen hielten die Aktien selbst, das Papier der Anteilsscheine, für den eigentlichen Wert. Was diese Anteile realwirtschaftlich repräsentierten, das lag außerhalb des Vorstellungsvermögens der meisten.

Das erste Gespräch mit dem Schweizer Bankier führte Waldo Fuchs schon gegen halb zehn. Da war es nur ein erster Austausch der Einschätzungen und ein Abwägen, ob man eingreifen sollte.

Kurz nach zehn griff Fuchs wieder zum Hörer.

„Ich habe mit Gunther und Fritz Rücksprache gehalten. Wir kaufen. Ganz vorsichtig, so unauffällig wie möglich.  Der Tiefpunkt ist vermutlich noch lange nicht erreicht. Beginne jetzt zu kaufen. Ob du zwischendurch noch einmal abstößt, um das Chaos anzuheizen, oder ob du dich aufs Kaufen beschränkst, ob du alles über deine Bank abwickelst, oder Strohmänner einschaltest, das weißt du besser als ich. Mit unseren vierhundertfünfzig Millionen wirst du allerdings nur ein Stück weit vorankommen. Für dich aber kein Problem. Offiziell erkläre ich dir jetzt, als Vertreter der Bundesregierung im Finanzministerium, und mit den notwendigen Vollmachten ausgestattet, dass wir einen Kreditvertrag in zunächst unbegrenzter Höhe mit einer Laufzeit von dreißig Tagen, von heute an, eingehen. Verbunden damit ist der Auftrag, im Laufe dieses Tages jede erreichbare deutsche Aktie, möglichst zum Tiefstkurs aufzukaufen und einem mit einem Kennwort gesicherten Depot der Bundesrepublik Deutschland zuzuführen. Das Depot steht dir als Sicherheit zur Verfügung, bis der Kredit getilgt ist.“

„Gut. Vielen Dank für den Auftrag. Ich lege auf, es gibt viel zu tun.“

Kurz vor halb zwölf hatte der DAX mit zweitausendfünfhundert Punkten den Tiefpunkt erreicht. Von da an bewegten sich Kurse für eine Weile seitwärts, zum Börsenschluss ging der DAX knapp über viertausend Punkten aus dem Handel.

Der Kredit der Bundesrepublik Deutschland beim Bankhaus Silberstein & Cie. war auf rund sechzehn Milliarden angewachsen. In einem gesperrten Depot der Bundesrepublik Deutschland befanden sich Aktien deutscher Unternehmen, die am Vortag noch mit einem Kurswert von fast hundert Milliarden an der Tafel gestanden hatten und nach der leichten Erholung vom Nachmittag jetzt einen Kurswert von achtundzwanzig Milliarden repräsentierten.

In Paris kratzte sich einer der Herren, die sich gestern in London getroffen hatten, bedächtig am Kopf.

„Sie kommen schneller aus den Löchern als gedacht. Das kann tatsächlich noch spannend werden.“

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.