Alm bei Grainau

Freitag, 25. November 2022

 

Am Vormittag war Schnee gefallen. Viele große Flocken. Anfangs waren sie am Boden schnell geschmolzen, doch als der Schneefall anhielt, bildete sich auf dem hügeligen Gelände bald eine etwa zehn Zentimeter dicke, matschige Schicht von Nassschnee. Wer sich darauf, ohne zu stürzen bewegen wollte, brauchte gutes Schuhwerk.

Unter den Freien Siedlern breitete sich Unruhe aus. Die meisten hatten sich im Sommer auf den Weg gemacht, kaum einer hatte viel Gepäck dabei, was halt so in einen kleinen, leichten Stadtrucksack passt. Der Oktober war noch sehr warm gewesen, auch im November hatte noch bis Mitte des Monats häufiger die Sonne geschienen. Die ersten nebligen Tage hatten sie noch gut überstanden. Doch der erste Schnee war ein Schock. Nicht nur, dass die Zeltplanen, die den meisten der dicht an dicht aneinander gelehnten Konstruktionen aus Ästen und grob zugeschnittenen Stämmen junger Nadelbäume als Dach dienten, der Last des Schnees nicht standhielten und nun, wo sie nicht schon gerissen waren,  wie schwere Wannen bedrohlich über den Köpfen hingen. Es gab auch keine Chance, etwas zu reparieren. Wer sich ins Freie wagte, lag über kurz oder lang auf der Nase. Der Slum der Freien Siedler ähnelte mehr dem unüberschaubaren Durcheinander von eng an eng aufgebauten Budenreihen eines Jahrmarkts, denn an menschliche Behausungen. Als Harald das Gelände gestern beim Aufstieg aus mehreren Perspektiven erkundet hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass der Hang auf eine Länge von gut anderthalb Kilometern in einem Streifen von vierhundert bis fünfhundert Metern Breite von den Bauten der Freien Siedler überzogen war. Überschläglich hatte er ausgerechnet, dass dieser Slum mindestens fünfzigtausend, wahrscheinlich aber noch mehr Menschen als Lebensraum dienen musste.

Harald, der Knuds Hütte, die ein gutes Stück oberhalb der Hauptsiedlung lag, übernommen hatte, amüsierte sich am Morgen, als er zum Luftschnappen vor die Tür getreten war, köstlich. Selbst dieser leichte, erste Schneefall hatte viel Schaden angerichtet. Es bestand erheblicher Reparaturbedarf, an vielen Stellen wohl sogar akute Einsturzgefahr, doch irgendwie Material zu beschaffen, um abzustützen oder abzudichten, schien kaum möglich. Von seinem Standort hoch über dem Lager, bot sich ihm der Anblick eines chaotischen Gewusels.

„Wie die Ameisen! Wie die Ameisen!“, murmelte er belustigt vor sich hin. „Ich geh jetzt runter, und fang mir eine.“

Mit Knuds Wanderstecken in der Rechten machte er sich an den Abstieg. Es waren zwar nur 50 Höhenmeter, doch bei diesen Witterungsverhältnissen war der direkte Abstieg über den steilen, schneebedeckte Hang nicht zu empfehlen, und ein Unfall in dieser kritischen Phase würde die Ausführung seines Auftrags wahrscheinlich gefährden, wenn nicht gar unmöglich machen. Der sichere Weg zwischen der Siedlung und seiner Hütte wand sich mit mehreren Kehren am Hang entlang, so dass er – auch wegen des frischen Schnees – doch eine ganze Weile brauchte, um den Randbezirk der „Siedlung“ zu erreichen. Haralds Erstaunen war groß, als er von Unterschlupf zu Unterschlupf, von Hütte zu Hütte gehend, nirgends mehr einen Menschen antraf, wo er doch von oben vor Kurzem noch ein wildes Gewusel wahrgenommen hatte.

„Wo sind die bloß alle hin?“, fragte er sich. Fußspuren, die sich – erst einzeln von den Hütten und Verschlägen kommend – mehr und mehr in den nassen Matsch hinein bewegten, wiesen ihm den Weg zur Mitte der Siedlung, wo eine große, ebene Wiese unbebaut geblieben war, weil es der Yogi so angeordnet hatte. Der Yogi war kein Yogi, noch nicht einmal ein Inder. Der Yogi war ein Berliner, kaum dreißig Jahre alt, mit sauber rasierter Vollglatze und John-Lennon-Brille, aber er hatte in der Siedlung das Sagen. Er war nicht der erste gewesen, der hierher auf die Alm gezogen war, doch als er in Berlin davon gehört hatte, dass hier ein großartiges Experiment gestartet wurde, hatte es ihn in der Hauptstadt nicht mehr gehalten. Er wollte dabei sein, er wollte gestalten, und so kam es, dass er, der er als überzeugter Anarchist losgezogen war, bald so etwas wie der unumstrittene Bürgermeister der Freien Siedler von Grainau geworden war.

Yogi hatte kraftvoll den Gong geschlagen, der vor seiner Hütte in einer groben Balkenkonstruktion aufgehängt war. Wo der Klang nicht mehr hinreichte, erfuhren es die Leute von ihren Nachbarn, so dass, wer sich zutraute, durch den Matsch zu laufen, ohne sich die Füße zu erfrieren, sich eiligst auf den Weg machte. Alle strömten zur Wiese, ängstlich, aber voller Hoffnung, dass Yogi ihnen den richtigen Rat in der Zeit der Not geben würde.

Harald ahnte, ja er wusste, was jetzt kommen würde. Im Geist hörte er Yogi schon sprechen, und dann wusste er, wie es gehen könnte. Erschien ihm sein Plan zunächst auch vollkommen undurchführbar, kam er beim Überdenken der Details mehr und mehr zu der Gewissheit, dass ihm der Plan gelingen würde – und zwar nicht erst am Ende des ihm gesetzten Termins, sondern noch vor Ablauf der ersten Woche seines Einsatzes.

Er drängte sich durch die dicht stehende Menschenmenge vor bis in die erste Reihe, die sich in respektvollem Abstand etwa fünf Meter vor Yogi gebildet hatte. Yogi selbst stand etwas erhöht, konnte die Menge gut überblicken und als er den Eindruck hatte, die Wiese sei voll, mehr würden gar nicht mehr Platz finden, begann er mit seiner Ansprache.

 

Liebe Freie Siedlerinnen und Siedler,

 der erste Schnee in diesem Jahr hat uns alle überrascht und besorgt gemacht. Ich frage euch: Was würde Sven Groot an unserer Stelle wohl tun? Nun, ich gebe euch auch die Antwort. Sven Groot würde sich mit dem Universum verbinden und Dank sagen. Er würde Dank sagen, für das schöne Stück Land, Dank für die warmen Sommertage, Dank für den schönen, sonnigen Herbst, und er würde Dank sagen, für diesen ersten Schnee. Dann würde er das Universum bitten, ihm eine Antwort zu geben, wie diese Prüfung am besten zu bestehen sei. Ich bin sicher, ihr wisst, Sven Groot hätte so gehandelt, und nicht anders. Hab‘ ich recht?

 Die Menschen in der Masse stimmten zu. Erst alle durcheinander: „Ja, du hast recht.“ – „Groot hätte das so gemacht.“ – „Natürlich, was den sonst?“ – doch dann verschmolzen die Stimmen, bis Tausende immer wieder skandierten: „Ja, ja, ja! Du hast recht! Ja, ja, ja! Du hast recht!“

Erst als Yogi beschwichtigend beide Hände hob, verstummten die Stimmen allmählich und Yogi setzte seine Rede fort.

Ich habe heute getan, was Sven Groot in unserer Lage getan hätte. Ich habe mich mit dem Universum verbunden, ich habe meinen Dank bezeugt, auch für den Schnee, und ich spürte Wärme und Geborgenheit, und ich hörte eine Stimme, die mir sagte: „Nehmt alles, wie es kommt, ihr seid geborgen in meiner Hand.“

 Nun, das heißt für mich nichts anderes, als dass das Universum wünscht, dass wir hierbleiben, auf unserem Land, in unserer Siedlung der Freien, und dass wir Regen, Schnee und Kälte nehmen, wie sie kommen. Es wird auch wieder Frühling!“

 Das war der Augenblick, auf den Harald gewartet hatte. Mit ein paar schnellen Schritten stand er neben Yogi auf der von der Natur geschaffenen Bühne und schubste den Berliner grob zur Seite.

„So, so! Das Universum hat dir also gesagt, nehmt alles wie es kommt?“

„Natürlich. Was tust du da überhaupt, wie kommst du dazu, meine Versammlung zu stören. Geh zurück in deine Reihe. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“, empörte sich Yogi, denn er glaubte immer noch, Harald sei eines seiner friedfertigen Schafe, die ihm hier ein fürwahr himmlisches Leben bereitet hatten. Erst als ihm Harald unvermittelt mit der Faust voll ins Gesicht schlug, so dass die Brille zerbrach und er zu Boden ging, wurde ihm klar, dass es sich bei diesem Mann um etwas anderes handelte.

„Nehmt alles wie es kommt?“, höhnte Harald und trat dem noch am Boden liegenden mit seinen stabilen Bergschuhen kräftig in die Rippen.

„Möchtest du, dass noch etwas kommt, wofür du dich bei deinem Universum bedanken kannst? Dann steh‘ auf, und nimm es entgegen. Direkt vom Universum persönlich! Ich hab da auch einen guten Draht, zum Universum.“

Yogi, benommen von dem Schlag an den Kopf, war seine missliche Lage immer noch nicht ganz klar geworden. Irgendwie erwartete er sogar, seine Freien Siedler würden ihm zu Hilfe kommen, wenn er jetzt seinerseits zum Schlag ausholen würde. Also rappelte er sich hoch, baute sich vor Harald auf, und sagte: „Ich glaube wirklich, es ist besser, du gehst jetzt wieder. Du bist allein. Da, auf der Wiese stehen Tausende. Dagegen kannst du nicht bestehen.“

Doch Harald blieb einfach nur breitbeinig stehen, warf abschätzige Blicke auf Yogi und wartete auf dessen nächste Aktion. Die auf der Wiese waren still geworden und wagten sich kaum noch zu bewegen. Nein, niemand würde Yogi zu Hilfe kommen. Sie sahen, dass auch er nehmen musste, was da kam, und jetzt war dieser Mann gekommen, der Yogi vermutlich in weniger als einer Minute totschlagen würde, sollte dieser nicht freiwillig das Feld räumen.

Yogi spürte die wachsende Spannung. Etwas lange in ihm Vergrabenes klopfte zaghaft bei ihm an und ließ ihn glauben, seine Ehre hinge davon ab, sein Revier zu verteidigen, diesen Mann anzugreifen und möglichst auf Dauer zu vertreiben. Er meinte, die Kraft des Universums in sich zu spüren, ballte beide Hände zu Fäusten, hielt sie in Abwehrhaltung vor dem Gesicht, wie er es bei einem Film über Boxer gesehen hatte und sprang auf Harald zu.

Es sah aus, als sei Harald einfach regungslos stehengeblieben, während Yogi von ihm abprallte wie ein Ball von einer Wand.  Ein einfacher, blitzschnell ausgeführter Judogriff, hatte genügt, Yogi zu Fall zu bringen, und als er taumelnd wieder in die Höhe wollte, hatte Harald keine Mühe, den Karateschlag punktgenau auf Yogis Halsschlagader zu setzen. Der sackte unmittelbar endgültig zusammen und blieb in einer sonderbar unwirklichen Stellung reglos liegen.

„Ihr alle bleibt hier!“, rief Harald nun in die Menge, „ich habe euch noch viel zu sagen.“ Dann zeigte er mit der Hand auf zwei kräftige Männer, die er in der ersten Reihe entdeckt hatte und befahl: „Ihr beide, schafft den da weg. Möglichst weit, damit ich diesen Schwachkopf nicht mehr sehen muss.“

Danach richtete er sich auf, sammelte noch einmal seine Gedanken und hielt seine Rede an die Freien Siedler.

Ihr habt gesehen, wie schnell es gehen kann, wenn man einfach alles nimmt, wie es kommt. Ich weiß, ihr glaubt, diesem Groot glauben zu müssen. Ihr glaubt, nur nach seiner Lehre verhalte sich der Mensch als Mensch. Doch ihr habt gesehen, wie zerbrechlich der Mensch ist – und ob es nun so etwas wie eine Seele, einen Astralleib gibt, ob Yogi also irgendwie in einer anderen Dimension weiterlebt, das wisst ihr nicht und es ist auch vollkommen egal. Er kann nicht mehr zu euch sprechen, euch nicht mehr anleiten, ihr seid abgeschnitten von ihm und würdet davonfliegen wie die Luftballons, wäre ich nicht jetzt für euch da. Glaubt meinetwegen, das Universum habe mich gesandt, das soll mir nur recht sein.

Ich werde jedenfalls von jetzt an euer Anführer sein – und ich werde euch in Sicherheit bringen. Denn wenn es hier oben erst einmal richtig schneit, dann seid ihr innerhalb von drei Tagen alle tot. Mit dem Winter im Gebirge ist nicht zu scherzen. Auch wenn unsere Alm hier nur zwischen acht- und neunhundert Metern über dem Meer liegt: Keiner von euch würde das überstehen. Nicht in diesen Hütten! Nicht mit dieser Ausstattung. Die Hälfte von euch hat kein vernünftiges Schuhwerk an den Füßen, und die Pullover, die ihr euch im Sommer mitgebracht habt, für den Fall, dass einmal ein kalter Wind weht, die helfen auch nicht weiter. Heute Nacht bleiben wir noch hier. Das Wetter sieht so aus, als würde es bis Sonntag trocken, also auch schneefrei bleiben. Morgen verlassen wir diese Siedlung und ich führe euch in eine neue, bessere, schönere – ins gelobte Land.

Bei seinen letzten Worten konnte sich Harald ein überlegenes Lachen nicht verkneifen. Er hatte erst einmal erreicht, was er wollte. Yogi war weg – und diese Leute waren jetzt seine Leute, und gefügig, wie sie waren, ließe sich mit diesem Haufen viel erreichen. Zum Schluss gab er noch den Befehl für den nächsten Morgen aus.

„Wir sehen uns hier morgen Früh um acht Uhr. Pünktlich um acht Uhr. Wer nicht da ist, hat Pech gehabt, denn wir werden diese lausigen Hütten zum Abschied anzünden und niederbrennen, dass der Rauch bis nach München zu sehen sein wird. Zieht euch warm an und holt eure festesten Schuhe heraus. Alles andere bleibt hier, ihr braucht es nicht mehr. Außer: Jede Art von Werkzeug. Wer kräftiges Werkzeug hat, Hämmer, Sägen, starke Messer, Brechstangen, auch einfache Eisenstangen, der bringt es mit und stellt sich mit seinem Gerät am unteren Ende der Wiese an, alle anderen versammeln sich auf dem höheren Teil. Ich werde mir vor dem Abmarsch einen Überblick beschaffen, worüber wir verfügen und euch dann entsprechend ausrüsten und einteilen.

Danach stieg er noch einmal hinauf zu Knuds Hütte, wo er die Nacht verbringen und am nächsten Morgen, voll bepackt mit seiner dort gelagerten Ausrüstung, wieder zu seiner Truppe stoßen würde. 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.