Berlin
Sonntag, 27. November 2022

 

Von Henningsberg befand sich gegen halb vier Uhr morgens in jenem Zustand zwischen höchster nervlicher Anspannung und erheblichem Schlafmangel, der einerseits zu Höchstleistungen befähigt, andererseits aber auch gefährliche Fehlleistungen hervorrufen kann.

„Disziplin, Gunther! Disziplin! Wir sitzen hier mit rauchenden Köpfen, spekulieren wild durcheinander, kommen dem Kern des Problems aber offensichtlich nicht näher. Wir wissen was wir gesehen haben. Nämlich fast nichts, obwohl wir so nahe am Tatort waren. Wir hörten vom Bürgersteig aus die Schüsse auf dem Mittelstreifen. Direkt auf unserer Höhe brach das Opfer ohne hörbaren Schrei zusammen.  Aber was haben wir vom Täter gesehen? Wir hatten die Straße die ganze Zeit beobachtet. Da war doch nirgends ein Polizist. Der tauchte auf, wie vom Himmel gefallen und blieb nach den Schüssen einfach stehen, wo er stand. Als nach ein paar Minuten der erste Streifenwagen eintraf, schien Verwirrung zu herrschen. Die glaubten wohl, er sei zufällig als erster am Tatort gewesen. Ich weiß nicht mehr wie lange es gedauert hat, bis sie ihm endlich Handschellen anlegten und ins Auto verfrachteten. Da hatten die Sanitäter das Opfer längst im Wagen und waren mit Blaulicht und Martinshorn auf und davon. Aber jetzt sind wir nicht klüger als alle Passanten, die gleichzeitig mit uns unterwegs waren. Dann haben wir das Video gesehen, das auf Youtube hochgeladen worden war. Darauf war eher weniger zu erkennen. Der Typ, der das aufgenommen hat, muss auf der anderen Straßenseite postiert gewesen sein. Die Sequenz hat mit dem Zusammenbrechen des Opfers begonnen. Erst danach der Schwenk auf den irgendwie hilflos wirkenden Schützen. Wir wissen nicht, ob dieses Video zufällig entstanden ist, haben aber Grund zu der Annahme, dass es gezielt produziert wurde, um die Reaktion des Mobs hervorzurufen, vor dem wir uns ja, keine halbe Stunde nach der Tat, schleunigst in Sicherheit gebracht haben.

Die offene Frage ist doch jetzt nur noch: Auf was wollte uns der anonyme Tippgeber hinweisen? Was haben wir schlicht übersehen? Lass uns einfach noch einmal, langsam und bedächtig, Schritt für Schritt festhalten, was wir wissen, woher wir es wissen – und was wir nicht wissen, und von wem wir es unter Umständen erfahren könnten. Du hast also gestern Nachmittag kurz bevor du mich angerufen hast, die Information erhalten, dass am Abend ein Mord geschehen wird. Wer hat dir diese Information gegeben oder zugespielt?“

„Ich habe dir das schon mindestens zehn Mal beantwortet. Ein Fahrradkurier brachte diesen anonymen Brief, der da neben dir auf dem Tisch liegt.“

„Und du hast wirklich nicht die leiseste Ahnung, nicht den geringsten Verdacht, wer dahinterstecken könnte?“

„Nein. Ganz sicher nicht.“

„Dann haben wir ein Problem, mein lieber Gunther. Wir sind aufgeflogen. Wer würde dir, der du weder Politiker noch Journalist bist, auch kein Polizist, sondern der erfolgreiche Gründer und Alleineigentümer einer veganen Lebensmittelkette mit zwölf Filialen alleine in Berlin, vom Online-Geschäft gar nicht zu reden – also wer sollte dir ein solches Überraschungsei in den Briefkasten legen? Jemand von uns kann es nicht gewesen sein. Der hätte sich zu erkennen gegeben und nicht unbedingt einen Fahrradkurier auf die Reise schicken müssen. Also sieht alles so aus, dass es mindestens einen Menschen auf dieser Erde gibt, der entweder uns, also unsere  Bewegung, den „Konservativen Mittelstand“ kennt, und weiß welche Absichten wir verfolgen, oder der zumindest weiß, wie du tickst und welche Möglichkeiten dir zur Verfügung stehen, um ggfs. etwas bewegen zu können.“

„Stimmt. So weit war ich noch gar nicht. Wir haben möglicherweise tatsächlich ein Problem. Ich sehe es aber eher so, dass es sich um einen Sympathisanten handeln müsste. Ein Gegner hätte uns nicht auf diese heiße Spur gesetzt – zumal ja alles haarklein eingetroffen ist. Magst du noch einen Kaffee, Fritz?“

„Gerne. Warte, ich komme mit zu deiner kaffeespuckenden Höllenmaschine. Espresso doppio, mit soviel Kaffee, wie es das Mahlwerk hergibt.“

Einen Augenblick später standen sie vor der seit zwanzig Jahren klaglos arbeitenden Jura-Maschine, und trotz des Lärms, den diese dabei von sich gab, setzte Fritz, der Biochemiker, der inzwischen seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen war, seinen Versuch, das Rätsel zu lösen, fort.

„Denk bitte nach. Gibt es irgendjemanden in deinem Unternehmen, in deinem Bekanntenkreis, in der Sauna oder im Fitnessstudio, der etwas entdeckt haben könnte, zum Beispiel, weil Unterlagen, die für den Tresor bestimmt waren, für einen unbewachten Moment offen herumlagen? Hat dich im Laufe der vergangenen zwölf Monate irgendjemand auf eine Weise angesprochen, die dich stutzig gemacht hat? Denk scharf nach. Auch ein Sympathisant kann uns gefährlich werden, sollte er anfangen Gerüchte in die Welt zu setzen.“

Als Gunther auch diese Frage nur mit einem „nein, ich kann mir nicht vorstellen, wer das sein könnte“, beantwortete, resümierte von Henningsberg: „Gut, dann halten wir fest: Die Information stammt höchstwahrscheinlich von einem uns unbekannten Sympathisanten der Komiker-Bewegung, der uns in guter Absicht zuarbeitet. Die Sache hat nur einen Haken: Der Mann, falls es einer ist, es könnte ja genauso gut auch eine Frau sein, muss mehr als nur uns kennen. Er muss ebenso Augen und Ohren da haben, wo dieser perfide Plan ausgeheckt und so umgesetzt wurde, das immer noch alle Welt glaubt, es habe sich um die spontane rassistische Tat eines drogensüchtigen Polizisten gehandelt. Wem also ist Planung und Ausführung dieser False Flag Action zuzutrauen, und wer könnte sowohl über dieses als auch über unser Umfeld so gut informiert sein, dass dich dieser Brief per Fahrradkurier mehr als acht Stunden vor der Tat erreichen konnte?“

Gunther gähnte ausgiebig. „Weißt du, Fritz, mir fallen jetzt gleich die Augen zu. Lass uns die offenen Fragen mit ins Bett nehmen. Ich würde vorschlagen: Frühstück um neun, dann sind wir wieder halbwegs frisch – und dann dürften die Nachrichten auch bereits ergiebiger sein, so dass wir vielleicht doch das eine oder fehlende Puzzleteilchen noch dazu gewinnen. So wird das jetzt nichts mehr. Jedenfalls nicht bei mir. Das Gästezimmer kennst du ja. Ich sage schon mal gute Nacht.“

„Gut, Gunther, du hast – wie immer – vollkommen recht. Wir kommen jetzt nicht weiter, und den Komplex „Garmisch und Freie Siedler“, den haben wir noch nicht einmal gestreift. Lass uns schlafen. Gute Nacht. Ich freu mich schon darauf, beim Frühstück wieder mal ein bisschen mit deiner Frau flirten zu können.“

„Ich warne dich, Fritz. Lisa ist meine Frau, du alter Macho!“

 

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.