München
Donnerstag, 17. November 2022

 

Kevin steht ungefähr in der Mitte. Die abwärts fahrende Rolltreppe zur U3, tief unter dem Marienplatz, bewegt sich seit einer halben Stunde nicht mehr. Seitdem ist auch kein Zug mehr eingefahren. Unten brüllt einer hysterisch: „Ich will hier raus! Lasst mich raus! Scheiße. Scheiße. Scheiße.“
Dann ist wieder Ruhe. Ruhe – nicht zu verwechseln mit Stille. Auf den Bahnsteigen, auf den Treppen und Rolltreppen bis nach oben ins Zwischengeschoss stehen dicht gedrängt mindestens zweitausend Menschen. Oben muss es auch voll sein, denn niemand schafft es, sich einen Weg zurück zu bahnen. Auch wenn die meisten schweigen, verursachen sie einen steten Lärmpegel, ein nicht lokalisierbares, allgegenwärtiges an- und abschwellendes Brummen wie im Bienenstock. Die glatten gekachelten Wände verstärken den Geräuschpegel noch.
„Jetzt bloß keine Panik“, denkt Kevin, der selbst immer unruhiger wird. Er versucht zuhause anzurufen, um seine Verspätung anzukündigen. Kein Netz.
Beim ersten Mal, vor ungefähr einem halben Jahr, hatte es von nachmittags um fünf bis dreiviertel acht gedauert. Am nächsten Tag hatte der MVV in ganzseitigen Anzeigen in AZ, TZ und SZ versprochen, dass sich ein solches schwerwiegendes Problem nie wiederholen würde. In diesem Monat war es nun schon der dritte Fall – und Kevin ärgerte sich, dass er wegen des strömenden Regens nicht zu Fuß gegangen war. Dann wüsste er wenigstens, wann er zuhause eintreffen würde – und höchstwahrscheinlich hätte er oben auch ein Netz, obwohl auch das längst nicht mehr sicher war. Das Schlimmste war die Luft. Die vielen Menschen, die nassen Klamotten, es roch nach Kloake, und der Sauerstoffgehalt lag wahrscheinlich schon jetzt deutlich unter 18 Prozent.
Der Mann im schweren dunkelgrauen Lodenmantel, auf der Stufe vor, also unter ihm, drehte sich allmählich um, suchte Blickkontakt mit Kevin und fragte dann: „Wie alt sind Sie?“
Kevin war so überrascht, dass er spontan wahrheitsgemäß antwortete: „Achtunddreißig“, um dann nachzufragen, „warum interessiert Sie das?“
Ohne darauf einzugehen, fragte der andere weiter: „Und, körperlich fit?“
„Ja, sicher!“, kam die mürrische Antwort.
„Gut, dann sage ich Ihnen jetzt, was wir machen. Ich muss hier dringend raus – und Sie haben sicherlich den gleichen Wunsch. Alleine ist das nicht zu schaffen. Zu zweit geht’s, wenn man gut zusammenarbeitet.“
„Und wie?“
„Sie drehen sich jetzt um, halten sich mit der rechten Hand am Handlauf gut fest und versuchen einen Fuß auf die nächste Stufe zu bekommen. Ich stell mich mit dem Rücken zum Geländer. Da wird auf meiner Stufe ein bisschen Platz. Drängen Sie jetzt erst die Person neben Ihnen nach unten weg und dann die Person über Ihnen in die entstandene Lücke.“
„Das funktioniert doch nie. So wie die von oben drücken!“
„Vertrauen Sie mir. Und los jetzt!“

Der Lodenmantel hatte sich bereits zur Seite gedreht. Kevin machte sich ein bisschen breit – und schon war der Mann neben ihm nach unten ausgewichen. Jetzt den Fuß auf die nächste Stufe. Die junge Frau fühlte sich bedrängt, gab aber sofort nach und wich dahin aus, wo soeben Platz geworden war. Die erste Stufe war geschafft. Auch der Lodenmantel war nachgekommen.
„Weiter. Bloß nicht stehen bleiben. Wenn die von oben erkennen, dass hier Bewegung ist, gehen sie von alleine zur Seite. Wie die Schafe.“
Es dauerte tatsächlich weniger als fünf Minuten, bis das Zwischengeschoss erreicht war, und dann noch einmal fünf Minuten, bis die beiden gegenüber vom Rathaus wieder an die Luft kamen. Nach den ersten tiefen Atemzügen musterte Kevin seinen „Partner“ eingehend. Der Mann war etwa einsneunzig groß, um die sechzig Jahre, buschige Augenbrauen, kräftige Hakennase, Narbe auf der linken Wange …
„Gestatten, von Henningsberg. Danke für Ihre Hilfe.“
„Angenehm. Kevin Albrecht.“
„In welche Richtung müssen Sie jetzt weiter, Herr Albrecht?“
„Lindwurmstraße, Harras, Boschetsrieder …“
„Dann haben wir ein Stück den gleichen Weg. Darf ich Sie begleiten?“
Kevin war neugierig. Ohne diesen von Henningsberg stünde er jetzt immer noch auf der Rolltreppe. Wo hatte der diese Idee, diesen Trick bloß her? Woher den Mut, ihn so einfach anzusprechen und zum Mitmachen zu animieren? Es war ja schon fast ein Befehl gewesen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass das so einfach ist“, versuchte er, ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Ach, wissen Sie, es wird doch von Woche zu Woche einfacher. Die Leute geben nach. Kaum noch jemand, der es wagt zu protestieren. Das ist aber nicht nur in der UBahn so. Wenn Sie die Augen offenhalten, erleben Sie das überall. Auch Sie haben sich zu leicht überreden lassen. Gibt Ihnen das nicht auch zu denken? Vor einem Jahr hätten Sie mir garantiert noch gesagt, dass Sie nicht die geringste Lust hätten, für mich den menschlichen Eisbrecher zu spielen, oder?“
„Meinen Sie wirklich? Es stimmt schon, die Menschen sind nicht mehr so aggressiv. Aber das ist doch ein gutes Zeichen.“
„Und worauf führen Sie das zurück?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist es tatsächlich Sven, Sie wissen schon, Sven Groot, der Holländer. Der hat ja jetzt täglich dreißig Minuten Sendezeit, auf fast allen Kanälen. Er sagt, es sei seine Mission, die Menschen glücklicher zu machen, und ich kenne viele, die seine Sendungen regelmäßig verfolgen, aber noch mehr, die sich nach und nach alle seine Youtube-Videos reinziehen.“
Von Henningsberg blieb stehen, wandte sich Kevin zu und fragte mit gesenkter Stimme: „Es ist Ihnen also auch schon aufgefallen. Ich sage Ihnen: Es ist nicht dieser Sven. Sven Groot ist ein Fake. Die Leute sollen glauben, dass er es ist, der die Welt verändert. Das macht es ihnen einfach, sich nicht gegen ihre Persönlichkeitsveränderung zu wehren.“
„Sie meinen …“
„Ich meine nicht. Ich weiß. Die fortschreitende Ausschaltung des Egos, die wir überall sehen können, diese absolut selbstzerstörerische Demut, das ist die Folge einer Vergiftung. Es ist eine Droge. Ich konnte die Verbindung inzwischen im Blut und im Gehirn von mehr als zwanzig Menschen nachweisen, die auf dem Seziertisch landeten, weil sie keines natürlichen Todes gestorben sind.“
„Sie sind Pathologe?“
„Nein. Der Pathologe, sein Name tut nichts zur Sache, der mir die Proben liefert, ist ein Freund. Ich habe in meinem Labor alle Möglichkeiten Gewebe- und Blutproben zu untersuchen und zu analysieren. In allen Fällen handelt es sich übrigens um Gewaltopfer, die keinerlei Abwehrspuren aufwiesen, die sich – wie die Schafe – einfach abschlachten ließen.“
„Das sagten Sie vorhin schon, auf der Treppe: Wie die Schafe. Das irritiert mich. Ich halte das für ziemlich arrogant, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Schweigend gingen Sie weiter durch den Regen. Vielleicht nach fünfzig Metern räusperte sich der Ältere und meinte: „Sicherlich. Das war arrogant. Die von Henningsberg sind nun mal, wie der gesamte Adel, zur Arroganz erzogen. Das legt man nicht mehr ab. Es war aber mehr als nur Arroganz. Es war vor allem die Sorge um die Zukunft eines Volkes, das nicht merkt, dass alle miteinander ihre Tage wie in Trance durchleben. Betäubt, schmerzunempfindlich, nachgiebig, duldsam bis zur Selbstaufgabe. Was glauben Sie, warum auch heute wieder keine U-Bahn eingefahren ist?“
„Keine Ahnung. Die Münchner U-Bahn ist nun auch schon rund fünfzig Jahre alt. Verschleiß, nehme ich an. Wie bei den Brücken, wie bei den Straßen. Es fehlt halt überall das Geld.“
„Sind Sie wirklich so naiv?“
„Wie …?“
„Entschuldigung. War nicht böse gemeint. Ich halte Sie für immun. Es gibt Fälle von Immunität. Sie hätten auf der Treppe niemanden verdrängt, wären Sie nicht immun. Das hätten Sie als vollkommen unmöglich angesehen. Man setzt sich nicht durch. Das ist nicht korrekt. Korrekt ist es, mit dem Kollektiv schweigend zu leiden. Das ist korrekt.“
„Dann sagen Sie mir doch bitte jetzt, warum die U-Bahnen nicht fahren.“
„Es gibt zwei Sorten von Immunen. Die einen sind vernünftig, können klar und vorausschauend denken, das sind auch diejenigen, die erkennen, dass etwas faul ist, im Staate Dänemark. Ich nehme an, Sie kennen Ihren Hamlet. Die andere Sorte, das sind die Idioten. Immer nur auf den nächsten Kick aus. Heute besoffen, morgen bekifft, heute eine Schlägerei, morgen ein Schubs ins Gleisbett, übermorgen eine Vergewaltigung und nächste Woche mit 180 Sachen an den Baum. Das sind die, die zwar keine Ahnung haben, was vor sich geht und was auf sie zukommt, die aber spüren, dass sie ihre Gewalt ausleben können, ohne noch auf Gegenwehr zu stoßen. Die haben es erlebt, dass Polizisten danebenstehen und nichts unternehmen. Die haben erlebt, dass sie festgenommen wurden, dass der Staatsanwalt das Verfahren aber eingestellt oder der Haftrichter sie hat laufen lassen. Die fürchten nichts mehr. Und Sie fragen, warum die U-Bahnen nicht mehr fahren. Die U-Bahnen fahren nicht mehr, weil die Fahrer nicht mehr zur Schicht erscheinen. Die halten es nicht aus. Psychisch halten sie es nicht mehr aus, fast an jedem Tag jemanden totfahren zu müssen. U-Bahn-Schubsen ist Volkssport geworden. Sicher. Es sind Einzelfälle. Jeden Tag ein paar Einzelfälle. Aber wer in kurzer Zeit eine Vielzahl von Einzelfällen erlebt, der stumpft entweder ab – oder er lässt sich krankschreiben oder kommt einfach überhaupt nicht mehr.“
„Aber das kann doch gar nicht sein. Davon hört und liest man doch nirgends etwas. Ich denke, Sie haben sich da etwas ausgedacht.“
„Jetzt wirken Sie arrogant, Herr Albrecht. Aber – geschenkt. Ich muss hier jetzt nach rechts in die Poccistraße. War nett, Sie kennengelernt zu haben. Schönen Abend noch!“
„Moment noch. Sie haben mich neugierig gemacht. Ich habe jetzt doch noch eine ganze Reihe von Fragen. Können wir uns noch einmal treffen, oder telefonieren?“
„Gerne. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie an.“
Kevin zückte seine Visitenkarte.
„Kevin Albrecht, Complus AG, Leiter Beschaffung“, las von Henningsberg laut vor. „Ich rufe Sie an. Guten Abend!“
„Auch Ihnen einen guten Abend“, rief ihm Kevin noch nach. Dann trottete er weiter über den Harras und die Plinganserstraße nach Hause.

Weiter zu Folge 2 – Freitag, 18. November 2022

Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.