Feldkirchen bei München
Samstag, 26. November 2020

 

Schon vor vielen Jahren, gleich nach der Scheidung, hatte Karl Friedrich von Henningsberg die Stadtvilla der Familie in Bogenhausen verkauft und sich in Feldkirchen, am östlichen Rand der Gemeinde, direkt an ein Waldstück angrenzend, nach seinen Vorstellungen ein Einfamilienhaus errichten lassen. Es war nicht so, dass er Geld aus dem Hausverkauf gebraucht hätte, um seine Ex-Ehefrau auszuzahlen. Das Wichtigste war im Ehevertrag recht fair geregelt, und dass er praktisch keinen Verlust erlitten hatte, das hatte damit zu tun, dass seine Frau sich nicht an die Regeln gehalten hatte.

Fritz, wie ihn seine Freunde nannten, hatte einfach keine Lust, alleine in dem protzigen Klotz zu wohnen, von dessen Heizölrechnung alleine so manche kleine Familie besser hätte leben können als von den Hartz-IV-Leistungen.  Kinder, die das Haus irgendwann als Erbteil hätten übernehmen können, gab es auch nicht – und so wechselte er von der Betriebsamkeit der Stadt aufs ruhige Land. Sein biochemisches Labor in der Münchner Poccistraße wurde von zwei Geschäftsführern, einem Diplom Chemiker und einem Betriebswirt geleitet, seine Anwesenheit war selten gefragt, und wenn, dann eher sein Rat. Doch hatte er sich dort ein eigenes Labor eingerichtet und dafür eigens einen Mauerdurchbruch zum Hof hin herstellen lassen, um seinen eigenen, gut gesicherten Zugang zu haben. Es war dieses Labor, in dem er die Struktur und die Wirkung von D-minor erkannt hatte. Dass diese Modifikation des D-Vitamins durch elektromagnetische Wellen verursacht wurde, war eine Erkenntnis aus dem Bereich der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die ebenfalls nie publiziert wurde. Ein hochspezialisierter Ingenieur für Messtechnik des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie, konnte schließlich aus den Datenbergen des Radioteleskops Effelsberg in der Eifel jene Dreifach-Impulse herausfiltern, die deutlich mit dem schubweisen Anstieg der Unzurechnungsfähigkeit weiter Teile der Bevölkerung korrelierten.

Von Henningsberg war durchaus stolz auf das bisher Erreichte, doch schien es mit jeder neuen Erkenntnis immer unmöglicher zu werden, diesem Angriff auf die mentale Gesundheit noch zu begegnen.

Momentan saß er in seinem Haus in Feldkirchen am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Für 15.00 Uhr war, wie jeden Samstag, eine Telefonkonferenz verabredet, zum Austausch neuer Erkenntnisse und zur Besprechung und Verteilung von anstehenden Aufgaben. Die Schaltung war nach menschlichem Ermessen abhörsicher, dennoch bediente man sich spezieller Codes und Abkürzungen, um die Inhalte zu verschleiern. Sicher ist sicher.

„Für einen Kaffee ist gerade noch Zeit“, dachte er, und machte sich auf den Weg in die Küche. Doch er kam nicht weit. Das Klingeln des Telefons rief ihn zurück.

„Ist es denn schon drei?“, fragte er, nachdem er den Anruf angenommen hatte.

„Fritz?“

„Ja“

„Es ist vierzehn Uhr 38. Unsere Mutter ist verunglückt. Die Ärzte geben ihr noch mindestens sieben Stunden, vielleicht ein bisschen mehr. Lass alles stehen und liegen, ruf dir ein Taxi nach Erding. Du bist auf dem Lufthansa Flug um 16.20 Uhr gebucht. Das schaffst du noch. Ich hole dich am Flughafen ab. Alles Weitere, wenn wir uns sehen. Ich bin furchtbar im Stress.“

Dann hatte der Anrufer das Gespräch beendet.

Von Henningsberg griff zum Handy und bestellte sich ein Taxi zum Flughafen. Dann streifte er seinen bequemen Hausanzug ab, suchte ein paar Sachen für einen Kurztrip zusammen, schlüpfte in ein frisches Hemd und stand nach zehn Minuten im leichten Regenmantel vor der Haustür. Eine halbe Stunde später setzte ihn der Taxifahrer vor dem Abflugterminal ab. Sicherheitskontrolle und Einchecken gingen ausnahmsweise schnell – und als sein Flug zum Boarding aufgerufen wurde, war er einer der ersten in der Kabine.

Die Botschaft war für ihn klar verständlich gewesen. Noch heute Abend, aber nicht vor 22.00 Uhr, sollte in Berlin von inländischen Terroristen ein Anschlag auf Ausländer verübt werden. Die Einzelheiten waren Gunther so weit bekannt, dass sie wahrscheinlich Augenzeugen werden könnten. Lange zu grübeln, wer denn wen aufs Korn genommen hatte, brachte jetzt nichts. Gunther würde ihm alles berichten. Erst dann musste das Gehirn auf Hochtouren laufen, um jede sich bietende Chance aus dem Geschehen zu nutzen. Er wollte gerade die Augen schließen, um für eine vermutlich lange Nacht möglichst fit zu sein, als ihn ein Gesprächsfetzen in der Sitzreihe hinter sich aufhorchen ließ.

 

„… und, was machen die jetzt mit Garmisch?“

„Ich denke, sie werden versuchen Kontakt aufzunehmen und irgendwie zu verhandeln. Bis jetzt ist noch alles völlig im Dunkeln. Die Okkupation soll ja ohne Blutvergießen verlaufen sein – mehr weiß man nicht, und ob das stimmt, ist fraglich.“

„Wer ist da jetzt eigentlich zuständig? Bayern, oder der Bund?“

Soweit ich weiß hat der Bundesinnenminister den Fall an sich gezogen. In Berlin tagt der Krisenstab in Permanenz. Nur der Kanzler, der hat sich ins Wochenende verabschiedet. Scheint also nicht gar so kritisch zu sein, die Lage.“

 

Karl Friedrich von Henningsberg öffnete seinen Sitzgurt noch einmal, drehte sich um, so gut es ging und sprach die Männer hinter sich durch die Lücke zwischen den Sitzen an: „Entschuldigen Sie, ich habe Ihr Gespräch bruchstückhaft mitgehört, können Sie mir sagen, worum es da geht, in Garmisch?“

„Nun, eigentlich sind wir nicht befugt, solche Auskünfte zu geben. Aber morgen steht es sowieso in der BamS. Sie haben von den Freien Siedlern gehört?“

„Diese Naturspinner, die sich überall ihre Hüttendörfer bauen? Ja sicherlich.“

„Gut. Es gibt oberhalb von Garmisch, bei Grainau, ein Almgelände. Da campierten bis heute nach Schätzungen noch rund 50.000 dieser Spinner. Wie viele genau, das ist nirgends registriert. Gegen acht Uhr morgens haben sie damit begonnen, das Camp in Brand zu stecken – der Rauch soll bis nach München zu sehen gewesen sein – und sind in Garmisch einmarschiert. Die ersten Meldungen kamen um zehn aus Garmisch. Aber schon um zwölf waren alle Kommunikationsverbindungen abgeschnitten.“

„Und die stehen jetzt in Garmisch auf den Straßen und urinieren an die Hauswände?“

„Nein, eben nicht. Offenbar sind sie von der Bevölkerung freundlich aufgenommen worden. Alle haben irgendwo ein Dach über dem Kopf, so jedenfalls die ersten Berichte.“

„Vielen Dank meine Herren, davon hatte ich noch nichts gehört. Was es nicht alles gibt …“

 

Damit drehte er sich wieder um, legte den Gurt an und schloss die Augen. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken.

„Brenner hat also ernst gemacht. 50.000 sind zwar nur ein Bruchteil der insgesamt im Voralpenland befindlichen Wildpinkler, und die sind auch nicht über die Alpen nach Italien gejagt worden, wie Brenner es immer angekündigt hat, aber Brenner ist ein Stück seines Problems los – und das haben jetzt andere an der Backe. Was für eine Welt!“

Von Henningsbergs Gedanken überschlugen sich. „Was werden die Verantwortlichen tun? Alle, die nicht eingegriffen haben, nur immer alles laufen ließen, solange sie nicht direkt betroffen waren? Natürlich werden sie die Garmischer erst einmal mit ihrem Problem alleine lassen. Die haben sich ja, wie es aussieht, gegen die Invasion praktisch nicht gewehrt. Selber schuld, werden sie im Innenministerium behaupten. Aber diesmal können sie es nicht laufen lassen. Es ist vorherzusehen, dass es zu Konflikten kommen wird. 27.000 Einwohner, ungefähr 6.000 Gästebetten in Hotels und Pensionen – und jetzt diese Invasion… Das ist ein ganz anderes Format als in den schlimmsten Tagen der Flüchtlingswelle von 2015. Damals hat der Staat die Zuwanderer in eilig hergerichtete Sammelunterkünfte gepfercht und sie nur ganz langsam und in kleinen Dosen auf den Mietmarkt losgelassen, wo sie mit den Einheimischen um freien Wohnraum in Konkurrenz traten. Das in Garmisch, wenn es denn so stimmt, ist eine Einquartierung, wie sie sonst nur im Krieg vorkommt, wenn eine vorrückende Armee den Wohnraum der Bevölkerung requiriert. Wenn die Zahlen stimmen, kommen jetzt auf jeden Einheimischen zwei Siedler, da bricht das Chaos aus. In jedem einzelnen Haus. Spätestens in einer Woche hilft da auch die D-minor Offensive nichts mehr. Kann ich mir jedenfalls absolut nicht vorstellen. Ich muss, sobald die Sache in Berlin vorbei ist, unbedingt mit Brenner sprechen. Was hat er sich dabei gedacht – und wie hat er es bloß angestellt?“

Ein Blick aus dem Fenster während des kurzen Fluges lohnte nicht. Unten eine geschlossene Wolkendecke – aber von blauem Himmel darüber auch keine Spur.

 

Gunther erwartete ihn in der Ankunftshalle des vor gut einem Jahr doch noch in Betrieb genommenen Hauptstadtflughafens und eilte mit ihm so schnell es ging zum Parkdeck.

Erst als sie im Wagen saßen und Gunther den BMW gestartet hatte, begann er zu erklären. 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.