Berlin, Plenarsaal im Reichstag
Montag, 1. Mai 2023

 

Das Stimmengewirr, das den Reichstag erfüllte, verstummte, als der Bundestagspräsident mehrmals mit dem Zeigefinger an sein Mikrofon klopfte und um Ruhe bat.

Daraufhin erklärte er die Sondersitzung des zwanzigsten Deutschen Bundestages für eröffnet.

„Wir haben an diesem besonderen Tag nur einen Tagesordnungspunkt, nämlich die Festrede unseres geschätzten Herrn Bundespräsidenten zum Tag der Arbeit. Ein Rede, die übrigens von ARD und ZDF gemeinsam live übertragen wird. Bitte Herr Bundespräsident, Sie haben das Wort.“

Der Bundespräsident erhob sich von seinem Platz auf der Regierungsbank in der ersten Sitzreihe, schaute sich freundlich grüßend um, winkte auch den Schulklassen auf der voll besetzten Besuchertribüne zu, und trat dann endlich ans Rednerpult, an dessen Fuß aus gegebenem Anlass einige große Frühlingsblumengebinde arrangiert worden waren.

„Verehrter Herr Bundestagspräsident, geschätzte Mitglieder der Regierung, liebe Abgeordnete, ich begrüße Sie, und alle Besucher auf der Tribüne sehr herzlich!“

Dann nahm er einen kleinen Schluck aus dem Wasserglas, das für ihn auf dem Pult bereitgestellt worden war, hielt einen Augenblick inne, und begann seinen Vortrag.

„Der erste Mai. Tag der Arbeit. Das steht heute in jedem Kalender zu lesen. Aber was bedeutet das, was feiern wir heute wirklich? Vieles davon, was dem Tag einst seinen besonderen Wert gegeben hat, ist längst vergessen. Und ich habe nicht die Absicht, heute wehmütig an vergangene Zeiten, an die hart errungenen Siege der Gewerkschaften zu erinnern. Das ist Geschichte, das existiert nur noch in den Schriften der Historiker, und wird von Ihnen, meine Damen und Herren, und auch von Ihnen zuhause an den Bildschirmen doch längst nur noch milde belächelt.

Ich will diesem ersten Mai heute einen neuen Geist einhauchen. Es soll der Tag der Arbeit bleiben. Aber es soll nicht mehr der Tag der Lohnarbeit sein, der Tag der Erinnerung an Arbeitskämpfe, nicht länger der Tag des lauten Geschreis nach Lohnerhöhung, nach noch mehr Urlaubstagen, nach Arbeitszeitverkürzung. Nein. Geben wir dem Tag der Arbeit einen neuen Sinn. Machen wir ihn zum Tag der Arbeit an uns selbst!

Frei und offen schaute der Bundespräsident in den Saal. Beifall brandete auf.

Mit einer weit ausholenden Handbewegung brachte der geübte Redner die Menge schnell wieder zum Schweigen.

„Arbeit an uns selbst“, fuhr er fort, „was soll das sein?, mögen sich jetzt manche fragen, und ich will Ihnen gerne die Antwort geben. Es sind vor allem drei wichtige Bereiche, in denen noch viel Arbeit vor uns liegt. Eine Arbeit, die jede und jeder für sich, aber zum Wohle des Zusammenlebens aller, in unserem schönen und so reichen Lande, zu vollbringen hat.

Gestatten Sie mir, Ihnen die Themenfelder, auf die ich gleich im Einzelnen eingehen werde, vorab schon einmal im Zusammenhang vorzustellen:

Wir müssen unsere eigene Einstellung zur Dekarbonisierung, zur Energiewende, zur Mobilitätsreform verändern. Aus Zweifeln, innerem Widerstand und Lust am Kritisieren um des Kritisierens willen, wollen wir uns alle vornehmen, zu einer Haltung der Zustimmung zu gelangen und uns einzubringen, um in einem Geiste vereint, gemeinsam die Klimaziele anzustreben und damit das Leben auf unserem Planeten zu erhalten.

Das zweite Themenfeld betrifft die Abkehr, die innerliche, mentale Abkehr, vom Verzehr tierischer Lebensmittel jeglicher Art. Wir, als Deutsche, stehen in besonderer geschichtlicher Verantwortung, unser Konsum- und Verzehrverhalten an die Notwendigkeiten der Versorgung einer immer weiter wachsenden Weltbevölkerung anzupassen. Nur durch die Arbeit an uns selbst, an unserer Haltung, wird es uns gelingen, diesen vermeintlichen Verzicht freiwillig und mit freudigen Herzen zu leisten.

Zum Schluss werde ich auf die trotz aller Appelle fortbestehenden Nöte jener Mitbürger eingehen, die wir inzwischen zwar nicht mehr mit dem N-Wort ansprechen, aber immer noch in der uns eigenen Überheblichkeit irgendwie von uns unterscheiden wollen, indem wir sie jetzt People of Color nennen, was – und wenn Sie tief in sich hineinhorchen, dann spüren Sie das – immer noch eine rassistische Diskriminierung ist. Die Arbeit an uns selbst bedeutet hier, den kleinen oder großen Rassisten in uns endlich deutlich erkennen zu wollen, und ihn dann niederzukämpfen.

Das sind die Themen, meiner heutigen Rede, und ich hoffe und wünsche, dass jeder von ihnen, hier im Saal und zuhause an den Fernsehgeräten, von nun an den festen Willen in sich trägt, jeden einzelnen Tag seines Lebens zum Tag der Arbeite an sich selbst zu machen, während der erste Mai in allen kommenden Jahren ein Tag der Bilanz, der Abrechnung, des Lobes der Erfolgreichen und des Tadels der Gleichgültigen sein soll.

Lassen Sie mich nun damit beginnen, dass ich Ihnen vorstelle, wie die richtige Haltung zur Überwindung der Klimakrise aussehen muss.“

In diesem Augenblick öffneten sich die großen Flügeltüren, die hin und wieder bei besonderen Abstimmungen dazu dienen, das parlamentarische Hammelspringen zu inszenieren. Der Bundepräsident ignorierte das zunächst und sprach weiter, doch im weiten Rund sah man zwar noch, wie sich seine Lippen bewegten. Hören konnte man ihn nicht mehr. Sein Mikrofon war abgeschaltet.

Der Bundestagspräsident, der Unrat witterte, griff zum Glöckchen, läutete Sturm, so gut er es vermochte und rief nach den Saaldienern. Ohne Erfolg.

 

Ein älterer Herr von stattlicher Figur, groß gewachsen und für sein Alter schlank und drahtig, mit buschigen Augenbrauen, kräftiger Hakennase und einer alten Narbe auf der linken Wange, stellte sich mit dem Rücken zum Bundespräsidenten vor das Rednerpult. Sein Headset mit dem Mikro an der Seite war kaum zu sehen. Aber als er seine Stimme erhob, erklang sie klar und deutlich über die Lautsprecheranlage des Plenarsaals.

Er wandte sich kurz um und sagte, zum Bundespräsidenten gewandt: „Entschuldigen Sie bitte, Herr Bundespräsident. Wichtige Ereignisse zwingen uns leider, Ihre wohlgesetzte Rede jetzt zu beenden. Bitte nehmen Sie wieder auf der Regierungsbank Platz.“

Dann wandte er den Blick nach oben, wo der Sitzungsleiter immer noch nicht aufhören konnte, das Glöckchen zu schwingen und bat diesen: „Darf ich auch Sie bitten, Herr Bundestagspräsident, sich zu beruhigen und vor allem das klägliche Gebimmel einzustellen. Ich kann Ihnen versichern, ein Saaldiener, der Ihnen zu Hilfe eilen könnte. Wird für längere Zeit hier nicht mehr erscheinen.“

Inzwischen hatte sich das Erstaunen über die Störung bei den Abgeordneten in Empörung verwandelt. Laute Rufe, die von einem herrischen „Raus hier! Pack!“, bis zu einem jämmerlichen „Sie werden uns doch nichts antun“ reichten, wurden untermalt von der Hektik derjenigen, die es nicht auf ihren Plätzen hielt, die nichts anderes wollten, als den Saal schnellstmöglich zu verlassen. Kurz, es war das entstanden, was mit „tumultartige Szenen“ nur unzureichend beschrieben werden kann.

„Aber meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich muss doch sehr bitten! Wollen Sie bitte die Güte haben, Ihre Plätze wieder einzunehmen? Ich weiß nicht, ob die Menschen zuhause an den Fernsehgeräten gerade den besten Eindruck von Ihnen gewinnen.“

Die Lautsprecher waren bei diesen Sätzen auf volle Lautstärke geschaltet, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Um die Fraktionsvorsitzenden der Parteien bildeten sich jetzt Trauben wild diskutierender und gestikulierender Abgeordneter. Aber irgendwie war man wohl zu dem Schluss gekommen, erst einmal Ruhe zu bewahren und abzuwarten, zumal die Männer, die an den Ausgängen Position bezogen hatten, nicht den Eindruck machten, als könne man an ihnen ungestört vorbei nach draußen gelangen.

„Ich bitte nochmals um Ruhe. Schon um die Gelegenheit zu bekommen, mich Ihnen vorzustellen.“

In den doch merklich abebbenden Lärm hinein sagte er dann, als hätte er nie etwas anderes getan als eine Bundestagssitzung zu unterbrechen und eine Festrede des Bundespräsidenten zu beenden:

„Gestatten, von Henningsberg. Danke, dass Sie sich so weit beruhigen konnten. Nun hören Sie mir bitte für zehn Minuten gut zu, länger brauche ich nicht, und ich weise vorsorglich darauf hin, dass jede Störung mit einem Saalverweis, wenn nötig unter physischer Gewaltanwendung geahndet wird.

Was ich Ihnen allen zu sagen habe, die Sie heute so ungewohnt vollzählig versammelt sind, ist Folgendes:

Mit dem vollen Einverständnis der militärischen Führung der Bundeswehr,

bei vorbehaltloser Zustimmung der Führung aller Polizeiorganisationen,

im Einvernehmen mit den Diensten, erkläre ich,

unter Bezugnahme auf Artikel zwanzig des Grundgesetzes,

den zwanzigsten Deutschen Bundestag für aufgelöst.“

Ein Raunen ging durch die Reihen, das schnell wieder zu einem lärmenden Stimmengewirr wurde.

„Ich bin noch nicht fertig“, übertönte Karl-Friedrich von Henningsberg den Tumult.

„Ferner ersuche ich Sie, Herr Bundespräsident, die bereits vorbereiteten Entlassungsurkunden für die Mitglieder der geschäftsführenden Regierung, die Ihnen in diesem Augenblick von meinem Mitarbeiter vorgelegt werden, ebenso bedenkenlos zu unterschreiben, wie sonst die Gesetzestexte. Ich bitte Sie, zeigen Sie einmal wirkliche Größe, statt Ihre Mitwirkung an diesem formell wichtigen Akt zu verweigern. Danach werde ich dann auch Ihren Rücktritt entgegennehmen.“

Wieder schwoll das Gemurmel an.

„Sind Sie bereit, Ihre Unterschriften unter die Entlassungsurkunden zu setzen?

Das Lämpchen am Platzmikrofon des Bundespräsidenten leuchtete auf. Dann hörte man von ihm die folgenden Worte:

„Ob Ihre Handlung von Artikel zwanzig wirklich gedeckt ist, kann ich in dieser Situation nicht beurteilen. Das wird wohl erst die Geschichte beantworten. Sollte dem so sein, dann habe ich keinen Grund, mich Ihrem Ansinnen zu verweigern. Sollte sich Ihr Putsch, denn etwas anderes ist es ja nicht, als grundgesetzwidrige Aktion verfassungsfeindlicher Kräfte herausstellen, dann gebe ich schon jetzt zu Protokoll, dass diese, unter subtiler Androhung von Gewalt geleisteten Unterschriften, nach Wiederherstellung von Recht und Ordnung, ungültig, ja als von Anfang an nichtig zu betrachten sein werden.“

Zu Major Wendler gewandt, der dem Bundespräsidenten die Unterschriftsmappe vorlegte, zischte er – immer noch über die Lautsprecher deutlich vernehmlich: „Nun geben Sie schon her, und besorgen Sie mir einen Füllfederhalter.“

Major Wendler war darauf vorbereitet und überreichte dem Bundespräsidenten genau jenes Schreibgerät, das vor zwei Stunden von dessen Schreibtisch im Schloss Bellevue abgeholt worden war.

Das Einknicken des Bundespräsidenten und sein raffinierter Versuch, jegliche Verantwortung von sich abzuwälzen, zeigte den Abgeordneten deutlich, dass der Zerfall der staatlichen Ordnung, der auf den Straßen und Plätzen der Republik schon längst unübersehbar geworden war, nun auch den Bundestag, die Regierung und den Präsidenten hinweggefegt hatte.

Als der Bundespräsident seinen Füllfederhalten an Major Wendler zurückgegeben hatte, sprach von Henningsberg weiter.

„Es ist jetzt nicht an der Zeit, und ich sehe auch keine Veranlassung, unser Vorgehen zu rechtfertigen. Dazu wird es in den nächsten Wochen Gelegenheit genug geben. Ich möchte Ihnen aber noch einen kurzen Ausblick auf das geben, was wir vorhaben. Ich greife dazu spontan Ihren programmatischen Gedanken von der Arbeit an uns selbst auf, Herr Bundespräsident.

Über lange Jahre hat dieses Land aufgehört, an sich selbst zu arbeiten, weil es sich nach und nach aufgegeben hat. Das hat nicht nur mit der fahrlässigen Übertragung von Hoheitsrechten auf die ebenso undemokratische, wie marktgerechte EU zu tun. Es hat nicht nur damit zu tun, dass wir die Deutsche Mark aufgegeben haben, nicht nur, dass wir am Bruch der Verträge von Maastricht in falscher Hoffnung, oder auch vorsätzlich, fremden Interessen dienend, mitgewirkt haben. Es hat nicht nur damit zu tun, dass wir die Entstaatlichung Deutschlands durch Verzicht auf die Sicherung unserer Grenzen faktisch besiegelt haben. Es hat nicht nur damit zu tun, dass wir falsche Weichenstellung in der Bildungspolitik, in der Energie- und Umweltpolitik getroffen und die deutsche Wirtschaft vorsätzlich geschwächt haben. Auch nicht nur damit, dass wir ausländischen Investoren durch die – wegen mangelnden politischen Interesses – nicht verhinderte Übernahme wichtiger Unternehmen, Zugang zu unseren Patenten und Geschäftsgeheimnissen gewährt haben. Es hat nicht nur damit zu tun, dass wir das Herz unserer Wirtschaft, die Automobilindustrie kampflos aufgegeben haben. Es hat auch nicht nur damit zu tun, dass wir in dieser Republik ein Klima der Angst und der Einschüchterung erzeugt haben, das Angela Merkel sinngemäß einst so charakterisierte: ‚Man darf seine Meinung durchaus sagen, aber man muss dann eben auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.‘

Es hat mit allem zu tun, was ich bisher angeführt habe. Deshalb werden wir ab heute – für einen Zeitraum von vier Jahren – die Regierung übernehmen.“

„Das hat jetzt aber mit Demokratie nichts mehr zu tun“, kreischte eine Frauenstimme aus der Linksfraktion.

„Sie haben vollkommen recht“, ging von Henningsberg auf die Zwischenruferin ein, „was wir uns vorgenommen haben, hat mit Demokratie nicht mehr, aber auch kein Deut weniger zu tun, als das was wir von Ihnen, verehrte Abgeordnete dieses Hohen Hauses, mit dem festen Willen zu harter Arbeit in diesem Augenblick übernehmen.

Fragen Sie sich einfach nur, was diese Legislative, die Versammlung der Volksvertreter, in den letzten zwanzig Jahren tatsächlich zum Gesetzgebungsprozess beigetragen hat? Sie erinnern sich noch an jene peinlichen Fälle, in denen eine Vielzahl von Abgeordneten vor schicksalhaften Entscheidungen für diese Republik von Reportern nach den Inhalten der Gesetze gefragt wurden. Ein solches Ausmaß an Unkenntnis, offensichtlichem Desinteresse und krasser Falschinformation offenbarte schon länger das Ausmaß an Inkompetenz, das sich in diesem Hause ausgebreitet hatte. Nun, Sie haben es zumindest geschafft, solche kritischen und inhaltlichen Fragen von sich fern zu halten. Glückwunsch! Ich glaube aber kaum, dass heute ein öffentlich-rechtlicher Sender noch wagen würde, solche Interviews zu führen, geschweige denn, sie auch noch zu senden.

Sie wissen es doch ganz genau. Siebzig, achtzig Prozent der Gesetze, die sie nur noch abnicken, kommen fix und fertig aus Brüssel. Manchmal reden Sie sich den Mund fusselig darüber, manchmal hüllen Sie sich nur in lautstarkes Schweigen, aber letztlich übernehmen Sie einfach alles, was aus Brüssel kommt, teils, weil Sie sich eingestehen, zu schwach zu sein, um gegen den Willen der Kommission, die ja wiederum den Willen des Rates umsetzt, der ja wiederum vom eigenen Kanzler soweit dominiert wird, dass nichts durchgeht, was der nicht will, teils aber auch, weil es sie einfach nicht interessiert. Sei es, dass Sie aus Furcht, Ihren sicheren Listenplatz zu verlieren einfach nicht wagen, gegen die Fraktionsdisziplin aufzubegehren, sei es, dass Sie hier einfach nur Ihre Diäten absitzen wollen.

Im Verhältnis zur EU haben Sie unsere deutsche Demokratie aufgegeben und funktionsunfähig gemacht.

Und woher kommen jene Gesetzesvorlagen, die in diesem Hause noch ohne Brüsseler Vorgaben verabschiedet werden? Aus dem Parlament? Sie wissen es. Die Regierung beauftragt angelsächsische Anwaltskanzleien, die gegen Millionenhonorare Gesetze, samt der erwünschten Gesetzeslücken formulieren, die Sie dann, ohne sie inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen oder gar formaljuristisch zu überprüfen, im Schnellverfahren zur Unterschrift beim Bundespräsidenten durchwinken. Im Grunde haben Sie doch auch nicht mehr Rechte als die EU-Parlamentarier. Was nicht von der Regierung kommt, was nicht in der Koalition – und zwar alleine von den jeweiligen Spitzen der Koalition – abgesprochen wurde, kommt im Parlament nicht auf die Tagesordnung. Sie mögen, anders als das EU-Parlament, noch ein Initiativrecht haben, aber das ist so lebendig wie ein ausgestopfter Orang-Utan im naturkundlichen Museum.

Lassen Sie mich, in Bezug auf die Demokratie ein einfaches Bild entwickeln. Es ist das Bild eines Hauses mit vielen Wohnungen, vielen Mietern, einer Hausordnung, auch einem Hausmeister, das über lange Jahre mit dieser Gemeinschaft gut funktionierte.

Doch irgendwann blättert die Farbe von der Fassade, die Dachrinne leckt, die Heizung funktioniert nur noch sporadisch, die ersten Mieter ziehen aus, andere, die nicht zur Hausgemeinschaft passen, ziehen ein. Die Hausverwaltung wechselt, die Hausordnung wird immer restriktiver, was dazu führt, dass man sich immer weniger daran hält. Am Ende kündigt man dem Hausmeister und lässt das Anwesen endgültig verkommen. Das ist ein Prozess, der sich über viele Jahre hinzieht, ein Zustand, bei dem über viele Jahre die Chance besteht, das Ruder noch herumzuweisen, das Anwesen zu sanieren und dort wieder menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen. Es gibt aber einen Zeitpunkt, an dem es nicht mehr lohnt, dem Verfall entgegen zu wirken. Es gibt den Zeitpunkt, an dem nur noch eine radikale Sanierung, eventuell sogar der Abriss und ein vollständiger Neubau geboten sind.

Genau an diesem Punkt sind wir angelangt.

Heute beginnt die Generalsanierung. Die letzten Mieter – und damit meine ich jetzt das, was Sie meinten, als Sie sagten, das habe mit Demokratie nichts zu tun – werden für die Zeit der Sanierung ausquartiert. Das Anwesen unterliegt jetzt der Herrschaft fähiger Architekten, Statiker und Handwerker. Es werden Wände herausgerissen und neue gezogen, Treppen saniert, die Heizung, die Stromleitungen, die Wasser- und Abwasserleitungen erneuert, das Dachgeschoss ausgebaut, Aufzüge installiert. Dazu braucht es einen Plan, und Sie haben über die Jahre bewiesen, dass Sie vielleicht Plänchen hatten, aber eben keinen Masterplan für Deutschland. Für diese Erneuerung braucht es eine Bauleitung, die die Umsetzung vorantreibt und überwacht und eben nicht mit tausend basisdemokratischen Plauderstündchen an einer Brandschutzanlage scheitert.

Wir haben uns einen engen Terminrahmen gesetzt. In vier Jahre wollen wir das neue Haus übergeben, mit einer Volksabstimmung über die neue Verfassung, die Sie dem deutschen Volk seit dem Bestehen des Grundgesetzes verweigert haben, mit Neuwahlen und dem Einzug eines neuen, des einundzwanzigsten deutschen Bundestages.

Wer daran mitarbeiten will und die notwendige Qualifikation mitbringt, ist herzlich eingeladen.

Im Übrigen meine ich, Sie sollten uns zu dieser Mammutaufgabe Glück wünschen, auch wenn es Ihnen, in diesem für Sie schmerzhaften Augenblick, nicht gerade leichtfallen sollte.

Die Sitzung ist hiermit beendet. Gehen Sie nach Hause, verfolgen Sie die Nachrichten. Für Sie gibt es hier nichts mehr zu tun.“

 

Ein paar einzelne Abgeordnete klatschten kurz Beifall. Die Masse aber stand erleichtert auf, verließ den Saal und versuchte, schnellstmöglich die Berliner Zweitwohnungen zu erreichen.

Das Aufatmen darüber, dass niemand verhaftet worden war, dass offenbar niemand zur Verantwortung gezogen werden sollte, lag spürbar in der Luft.

In den Gaststätten, Restaurants, Biergärten und Cafés mischen sich allmählich jene, die von Q nichts wussten, oder seinem Rat einfach nicht gefolgt waren, mit jenen, die mit schwirrenden Köpfen vom Fernseher aufgestanden waren.

Die Agenturen meldeten später, dass die Sendung aus dem Bundestag in jedem zweiten Haushalt gesehen worden war.

Und wenn auch die Meinungen höchst unterschiedlich ausfielen, die Überraschung war groß genug, um der lange unterdrückten Meinungsfreiheit zu neuem Leben zu verhelfen. Es wurde wieder offen diskutiert, Argumente traten an die Stellen von Parolen, Narrativen, Memen und Stereotypen.

Am Abend schrieb Karl-Friedrich von Henningsberg in sein Tagebuch: „Mir scheint, Dornröschen will erwachen“.

Ein paar Minuten später ergänzte er: „und auch erwachsen werden.

 

 

Bevor Sie dieses Buch zur Seite legen
Mittwoch, 15. Juli 2020

 

Ich bin Ihnen. liebe Leser, ein Nachwort und ein paar Erläuterungen schuldig.

Gleich zu Beginn: Eine künstliche Strahlung, die sich negativ auf die Vitamin D Produktion auswirkt, gibt es meines Wissens nicht. Diese – romanhafte – Tatsache ist frei erfunden.

TV-Satelliten gibt es allerdings, und die Wirkung dessen, was von dort über den ganzen Erdball ausgestrahlt wird, ist von der im Roman beschriebenen Wirkung, auch ganz ohne Vitamin D Mangel, kaum zu unterscheiden.

Wir leben in einer Welt, und ich blicke seit mindestens fünfzig Jahren mit wachsendem Interesse auf die Entwicklungen, die sich zweifellos mitten in einem großen Transformationsprozess befindet. Dass ich diesen Transformationsprozess für unnatürlich und den Menschen aufgezwungen betrachte, war wesentliche Motivation dieses Buch zu schreiben.

Dass ich dabei die sich bereits abzeichnenden Entwicklungen weitergeführt habe, in die nahe Zukunft der Jahre 2022 und 2023, brachte gewisse Schwierigkeiten mit sich, die unter anderem darin zum Ausdruck kommen, dass einige Persönlichkeiten der zukünftigen Zeitgeschichte keinen Namen tragen, sondern nur in ihren Funktionen benannt werden. Ich habe versucht, die flüssige Lesbarkeit des Buches darunter nicht allzu sehr leiden zu lassen, doch hätte ich mir selbst gewünscht, an manchen Stellen meinem Bauch zu vertrauen und jene Namen zu nennen, die mir beim Schreiben vorschwebten.

Insgesamt handelt es sich um eine Utopie, also um eine zuversichtliche, optimistische Zukunftsschau. Es liegt nicht in meiner Macht, dieser Vision zum Durchbruch zu verhelfen, doch wollte ich zeigen, dass eine vorteilhafte Entwicklung denkbar ist, weil das, was denkbar ist, immer auch realisierbar sein wird, und ein Teil dessen, was gedacht wurde, auch tatsächlich als Realität in Erscheinung tritt.

Zu den verheerendsten Gedanken, die leider von vielen längst verinnerlicht sind, gehört die Annahme:

„Die da oben machen doch sowieso was sie wollen.“

Es ist eine erbärmliche Entschuldigung für das eigene Nichtstun, für das Ausweichen vor Entscheidungen und Aufgaben, vor die jeder einzelne im Laufe seines Lebens immer wieder gestellt wird.

Nein. Die Wahrheit ist: „Die da oben können nur das verwirklichen, was wir zulassen.“

Und das geht sogar noch einen Schritt weiter. Denn wenn wir uns nicht gleichzeitig, um eines kleinen Vorteils willen, von denen da oben zur Mithilfe bewegen ließen, könnten sie gar nichts verwirklichen.

Dem folgt dann ein weiterer, verheerender Gedanke, der schon unsäglich viel Leid über die Erde gebracht hat, und der lautet:

„Wenn ich’s nicht tue, tut’s ein anderer.“

Welch ein Selbstbetrug! Welch eine Arroganz! Dem in aller Regel vollkommen unbekannten „Anderen“ zu unterstellen, er sei, wenn ich mich weigere, an meiner Stelle bereit, an irgendeiner Sauerei mitzuwirken – was ist das? Was davon hält einer Nachprüfung wirklich stand?

Die Worte, die ich dem Bundespräsidenten in den Mund gelegt habe, den Aufruf zur Arbeit an sich selbst, ergeben für mich durchaus einen tieferen Sinn. Nicht in Bezug auf Dekarbonisierung, Fleischverzicht und Diskriminierungsverbote, wohl aber in Bezug auf das Bemühen, die eigene Verantwortung erkennen zu wollen und die Einsicht, ihr, auch um des eigenen Seelenfriedens willen, gegebenenfalls auch unter Verzicht auf Vorteile und Annehmlichkeiten, gerecht werden zu müssen.

Georg Friedrich Lichtenberg hat uns ein Zitat hinterlassen, das auch als Quintessenz dieses Buches gelten könnte:

Es ist nicht gesagt, daß es besser wird, wenn es anders wird. Wenn es aber besser werden soll, muss es anders werden.

 

Egon W. Kreutzer

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.