Berlin
Sonntag, 27. November 2022

 

„Wenn ihr mich fragt, ihr Verschwörungstheoretiker, dann seid ihr gewaltig auf dem Holzweg.“

„Ach ja, liebe Lisa? Dann verrate uns doch bitte, was du vermutest“, ließ Karl-Friedrich von Henningsberg vernehmen. Lisa erahnte seine Worte mehr als sie sie verstand, denn ihr Gast hatte sich beim Sprechen gleichzeitig den letzten Rest seines Brötchens in den Mund geschoben.

„Man soll beim Essen nicht sprechen“, tadelte sie scherzhaft und fuhr eine Spur ernster, aber immer noch in einem spöttelnden Ton fort: „Ich weiß nicht, warum ihr euch so verbissen bemüht, unter allen euren Kontakten eine einzige, solo agierende Person ausfindig zu machen. Eine solche Person gibt es nicht, sonst hättet ihr sie schon identifiziert. Ich gehe davon aus, dass ihr es mit einem Geheimdienst zu tun habt. Das würde nämlich alles erklären.“

Gunther und Fritz warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Konnte es sein, dass Lisa mit weiblicher Intuition so einfach jenen gordischen Knoten durchschlagen hatte, an dem sie schon fast verzweifelt waren?

Gunther fand als erster die Sprache wieder.  „Lisa, mein guter Engel, ich denke, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Dass wir da selbst nicht draufgekommen sind!“

„Man findet halt immer nur das, wonach man sucht, und auch nur dann, wenn es das, wonach man sucht, auch tatsächlich gibt“, antwortete Lisa spitz, um ihre Überlegenheit herauszustreichen.

„Aber kannst du uns denn auch sagen, von welchem Dienst die Nachricht stammt?“

„Das nicht, ich tippe aber auf eine Verfassungsschutzbehörde – schon wegen der Interessenlage. Natürlich nicht die Berliner, die sind ja praktisch abgemeldet. Aber Thüringen, oder Sachsen, vielleicht auch noch die Bayern …“

„Stimmt“, meinte Gunther, „es muss ein Inlandsdienst sein, bei dem es noch ernsthaft motivierte Leute gibt. Nach meiner Einschätzung käme auch noch der MAD infrage. Da herrscht momentan auch ziemlich dicke Luft. Oberflächlich betrachtet machen die seit sie über die KSK-Sache zur Zielscheibe geworden sind, nur noch Dienst nach Vorschrift, in der Tiefe arbeiten sie jedoch mit ungeheurem Aufwand daran, belastende Dossiers über die gesamte Regierung und die Spitzen der Parteien zusammen zu stellen. Sie arbeiten auf freiwillige Rücktritte hin, wenn ihr versteht, was ich meine.“

„Woher hast du das, und warum weiß ich nichts davon?“ Von Henningsberg klang mehr verärgert als verwundert.

„Niemand soll mehr wissen als er wissen muss. Das hast du mitunterschrieben, Fritz. Jetzt musst du es wissen, und jetzt hast du es erfahren. Unser Netzwerk ist doch etwas größer als es den meisten, die mitwirken, erscheint. Du weißt, das ist nichts Persönliches.“

„Schon gut. War ja auch nicht so gemeint.“

„Es ist gleich zehn. Ich stell mal das Radio an“, sagte Lisa und griff nach der Fernbedienung. „Bin gespannt, was der Öffentlichkeit, rund zwölf Stunden nach der Tat, nun erzählt wird.“

 

Guten Tag, liebe Hörerinnen und Hörer. Es ist zehn Uhr. Sie hören unsere Sendung „Berlin am Morgen“.

Der entsetzliche Vorgang von gestern Abend, bei dem ein Polizist, der seinen Rassismus offenbar lange vor seinen Vorgesetzten und Vorgesetztinnen verbergen konnte, einen Mitbürger dunkler Hautfarbe auf offener Straße mit drei Schüssen tötete, hat uns alle tief erschüttert. Fahndende und Ermittelnde arbeiten seit dem späten Abend ununterbrochen an der Aufklärung der Umstände. Vom Polizeisprechenden erfuhren wir vor wenigen Minuten, dass es sich beim Täter um den bisher unauffälligen Polizeihauptmeister Jonas A. handelt, der vor zwei Wochen seinen Jahresurlaub angetreten hat, und – wie seine Kollegen und Kolleginnen berichteten – eine Reise nach Griechenland gebucht hatte. Diese Reise hat er allerdings nicht angetreten, sondern ist an unbekanntem Ort untergetaucht. Seine Wohnung hat er jedenfalls, nach Auskunft der Nachbarn, in diesen zwei Wochen nicht betreten. Jonas A. ist gefasst, befindet sich allerdings in ärztlicher Behandlung und ist nicht vernehmungsfähig. Wir alle trauern um das unschuldige Opfer, unsere Gedanken sind bei allen rassistisch Verfolgten, hier und vor allem in den USA, wo die Black Lives Matter Bewegung auch an diesem Wochenende wieder von Bundespolizei, Heimatschutzeinheiten und regulären Truppen der US-Army  erbarmungslos bekämpft wurde. Nach inoffiziellen Berichten gab es mehr als hundert getötete Aktivisten und viele, zum Teil schwer Verletzte.

Die spontane Demonstration gegen Rassenhass und Polizeiterror, die gegen Mitternacht vom Tatort aus durch die Innenstadt zog, blieb dagegen weitgehend friedlich. Obwohl antifaschistische Aktivisten im Verein mit schätzungsweise zehntausend People of Color ihre Wut offen zeigten, wobei einige Schaufenster und mehrere Pkws beschädigt wurden, hielt die Polizei eisern an ihrer Deeskalationsstrategie fest und hielt stets mindestens eine Steinwurfweite Abstand. Nur diesem besonnenen Vorgehen haben wir es zu verdanken, dass es in der bunten Hauptstadt der Republik keine weiteren Gewaltopfer gegeben hat.

Für heute Nachmittag um fünfzehn Uhr hat der Regierende Bürgermeister eine Gedenk- und Mahnveranstaltung am Tatort am Kurfürstendamm angekündigt. Auch heute müssen wir alle wieder im Kampf gegen rechts Gesicht und unsere Solidarität mit jenen zeigen, die unter rassistischer Unterdrückung, sexueller Diskriminierung und kapitalistischer Ausbeutung leiden, also: Flüchtlinge, Schwule, Lesben und Transgender, Gewerkschaftler, Studenten und Schüler, vereinigt euch. Kommt zur Demo! Zeigt der Welt, wie viele anständige Menschen in Berlin den aufrechten Kampf gegen rechts führen!

Ähnliche Veranstaltungen sind in allen großen Städten der Republik angekündigt. Politik und Bevölkerung werden in großen Demonstrationen Einigkeit beweisen und dem unverbesserlichen braunen Sumpf zeigen, dass es gegen uns, gegen die Mehrheit, keine Chance gibt, für einen Rückfall in Hass und Faschismus.

Eine Kuriosität ist aus Bayern zu berichten. Einige Hundert Freie Siedler haben gestern wegen des frühen Wintereinbruchs ihr Hüttendorf geräumt und die Bevölkerung von Garmisch-Partenkirchen um Aufnahme gebeten. Dort ist man den frierenden Flüchtlingen gastfreundlich begegnet. Ein leuchtendes Beispiel dafür, wie weit sich die Bevölkerung inzwischen von den Hardlinern in der CSU-geführten Landesregierung entfernt hat. Wer in Not ist, und um Hilfe bittet, der wird aufgenommen. Wir sind gespannt, wie sich die Lehren Sven Groots, die offenbar nicht nur von den Siedlern, sondern auch von den Werktätigen in Garmisch beherzigt werden, bei der nächsten Landtagswahl auswirken werden. Die Meinungsforschungsinstitute erkennen jedenfalls in Bayern schon jetzt eine regierungsfähige Mehrheit von Grünen und Linken. Die SPD, die in Bayern traditionell schwach ist, würde, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, gar nicht mehr in den Landtag einziehen. CSU und Freie Wähler dürften mit zusammen knapp dreißig Prozent Zustimmung auf die Oppositionsbänke umziehen.

Zum Schluss ein kurzer Blick auf das Wetter: In Berlin wird es heute bei Höchsttemperaturen von 12 Grad und schwachem Wind aus westlichen Richtungen trocken bleiben. Die Nacht zum Montag wird sternenklar sein und uns milden Bodenfrost bescheren. Wer früh raus muss, darf den Eiskratzer nicht vergessen. Glück für alle, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren.

Das war „Berlin am Morgen“. Es folgen „Die großen Hits der neunziger Jahre“. Bleiben Sie dran.

Nach dieser stimmungsvollen Berichterstattung beschlossen die drei, sich selbst ein Bild von den Folgen der Nacht zu machen. Ihre Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln endete am U-Bahnhof Wittenbergplatz. Die Haltestellen Kurfürstendamm und Uhlandstraße wurden aus Sicherheitsgründen heute nicht angefahren. Als sie an die Oberfläche kamen, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Erste Handwerker waren dabei, Schaufenster notdürftig mit Brettern zu vernageln. Die Stadtreinigung war unterwegs, um Berge von Müll, zerbrochenen Flaschen und liegengelassenen Plakaten und Transparenten einzusammeln. Sie gingen langsam in Richtung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der schon von ferne anzusehen war, dass auch hier der Mob gewütet hatte. Die Ruine des alten Turmes war von Sturzbächen roter Farbe überzogen. Da hatte es wohl einen Farbbeutel-Weitwurf-Wettbewerb gegeben. Vom Dach des Neubaus hing ein riesiges Plakat, fast bis zur Straße herunter, auf dem in gigantischen Lettern nur ein Wort stand: „Bullenschweine“. Auf dem Bürgersteig vor der Kirche das Wrack eines ausgebrannten Pkws. Von da aus ging es auf dem Kudamm nicht weiter. Mehrere quergestellte Polizeiwagen verhinderten die Durchfahrt und eine Gruppe von sechs Polizisten erklärte den Fußgängern, dass der Kudamm ab hier gesperrt sei. Es gäbe keinerlei Ausnahmegenehmigungen. Auch Anwohner könnten vorläufig nicht in ihre Wohnungen zurück.

Gunther meinte: „Gehen wir die Rankestraße runter, vielleicht kommen wir an der Augsburger durch.“

Doch auch dort, wo die Augsburger Straße zum Kudamm führt, war die Straße für den gesamten Verkehr, einschließlich Passanten gesperrt. Auf die Frage, warum man hier nicht durchdürfe, antwortete ein Polizist mürrisch: „Jehn’Se einfach weiter. Hier jibt es nüscht zu sehn.“

Das wiederum veranlasste von Henningsberg zu der Ansage: „Da gibt es also tatsächlich noch echte Berliner in Berlin. In München gibt’s schon lange keinen Münchner mehr. Nur noch Preußen.“

Aber im Grunde war niemandem zum Scherzen zumute. Die Stadt sah aus, als sei ein schwerer Tornado darüber hinweggefegt. Wobei das wahre Ausmaß der Zerstörung immer erst sichtbar wurde, wenn man nahe genug herangekommen war. Dass auch an mehreren Stellen versucht worden war, Häuser in Brand zu stecken, war immer erst zu erkennen, wenn man vor den verrußten Eingängen stand, oder die Brandflecken über den zerbrochenen Fenstern im Erdgeschoss aus der Nähe sah.

Sie gingen weiter durch Müll und Trümmer bis zur Lietzenburger Straße, doch auch an der Ecke zur Joachimsthaler waren Straßensperren errichtet.

So nah, wie sie gestern an den Tatort herangekommen waren, würden sie es heute nicht mehr schaffen. Das stand fest.

„Liebe Lisa, lieber Gunther, ich denke, wir sollten umkehren. Wenn ihr es gestattet, möchte ich mich bei euch noch ein bisschen ausruhen, auch noch einige Telefonate führen, bevor ich dann mit der Abendmaschine zurück nach München fliege.“

„Aber gerne“, antwortete Lisa, „du darfst es dir gerne noch ein Weilchen gutgehen lassen, bei uns. Gunther bringt dich dann auch wieder zum Flughafen.“

 

Und so trotteten sie, jeder für sich in Gedanken versunken, zurück zum U-Bahnhof Wittenbergplatz.

 

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.