Das Ende kam schnell.

Nachdem sich Fräulein Sabine Gnadenlos-Hempel im Angesicht der fatalen Auftragslage des Planungsbüros Wunsch & Wille wie eine Jeanne d’Arc der Neuzeit für den Kampf gegen rot-rot-grün einsetzen wollte, und Melanie, Wunnibald und Wilbrecht sich ihr angeschlossen hatten, verabredete man sich für den 20. April, 7.00 Uhr, um endgültig Abschied zu nehmen, vom ersten Obergeschoss.

Mit Wehmut im Herzen streiften Wilbrecht, Melanie und Sabine ein letztes Mal durch die vertrauten Räume. Wunnibald war, wie immer, noch nicht aufgetaucht. Also begann Wilbrecht mit dem letzten Kassensturz. Der fiel, wie befürchtet, erschreckend aus. Die Hoffnung hatte ja zuletzt noch auf Markus Söder gelegen. Doch um von Söder Geld zu sehen, hätte man erst das Bernstein-Zimmer aus dem Fundus des Freistaats verkaufen müssen, und das stellte sich als unmöglich heraus. Natürlich war es kein Problem für Wille, bei einigen der als Kunstsammler bekannten Multimilliardäre dieser Welt mit seinem Angebot anzuklopfen. Doch schon nach dem Dritten gab er auf, denn er hatte zum dritten Mal gehört: „Sorry, das können Sie nicht wissen, aber das Bersteinzimmer ist schon seit Jahren in meinem Besitz. Sie scheinen einem Fälscher auf den Leim gegangen zu sein.“ Sabine wurde beauftragt, eine letzte E-Mail zu schreiben, um Markus Söder förmlich mitzuteilen, dass das Planungsbüro Wunsch & Wille den Geschäftsbetrieb eingestellt hat und ihn daher nicht länger beraten und vertreten könne.

Da hastete Wunnibald herein. „Leute! Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden? Der Laschet wird’s! Hier, frisch vom Zeitungsstand, das Hohelied auf Armin Laschet und Anna Leninzelonyy!“

„Ein Grund mehr, unsere Zelte hier abzubrechen und uns der Gegenrevolution zu widmen. Was hält uns hier noch?“

„Einen Moment noch, Sabine. Ein kleines Souvenir will ich noch mitnehmen.“

Mit einer kleinen Träne im Auge beobachteten Sabine, Wunni und Melanie, wie Wilbrecht das Firmenschild von der Türe abschraubte, gerade noch rechtzeitig, bevor der Makler mit einem ganzen Schwarm von Kaufinteressenten auftauchte, die nach Aufhebung des Mietendeckels ganz begierig darauf waren, Wohneigentum zu erwerben. Denn eigentlich handelte es sich bei den Büroräumen um eine Eigentumswohnung für die es Wille seinerzeit allerdings gelungen war, eine Ausnahmegenehmigung für die gewerbliche Nutzung zu ergattern.

„So, Sabine, nun bin ich aber gespannt, wo Du uns unterbringen willst. Deine geheimnisvollen Andeutungen haben mich echt neugierig gemacht.“

„Ihr werdet schon sehen“, antwortete Sabine schnippisch und schlug den Weg zur nächsten U-Bahn-Station ein. Nach etwas 20 Minuten Fahrt traten die drei wieder an die Oberfläche und nach weiteren 10 Minuten zu Fuß standen Sie vor einer hohen, mindestens 60 Meter langen Gartenmauer, in deren Mitte ein schmiedeeisernes Tor von einem kunstzvoll verzierten, gemauerten Torbogen umrahmt wurde. Am Torbogen die Videokamera, ein goldglänzend gerahmter Klingelknopf und darüber die große Bronzetafel mit den Initialen des Eigentümers.

 

 

 

 

„Das ist nicht Dein Ernst!“

 

„Nun, es war nie meine Absicht, mich als Adlige zu outen. Der alte Kasten hier ist mir von der Familie zugesprochen worden. So etwas kann man nicht ablehnen. Ich wohne ja lieber in meiner kleinen Wohnung in der Stadt. Aber jetzt, wo wir den Kampf aufnehmen, Truppen um uns sammeln und Kriegsrat halten werden, ist die Burg mit ihren Geheimgängen und dem Verließ im Keller genau das Richtige. Lasst uns reingehen!“

„Mensch! Das ist ja ein Riesending!“, staunte Wunni, nachdem das Tor sich per Funkschlüssel geöffnet hatte und sich halb verborgen hinter alten Bäumen die Umrisse der schlossartigen Villa abzeichneten. „Dieses Anwesen kannst du doch nicht einfach leerstehen lassen. Du hättest längst verkaufen sollen.“

„Ja, wenn das so einfach wäre. Der Spahn hat letztes Jahr durch einen Makler anfragen lassen. Aber 12 Millionen waren ihm dann doch – ganz ohne nähere Besichtigung – zu viel. Nein. Im Ernst. Der Verkauf ist mir gemäß uraltem Familienrecht verboten.“ Wenn ich einmal nicht mehr sein sollte, wird wieder der Familienrat entscheiden, wer damit beglückt werden wird.“

„Hab‘ ich fei noch nie davon gehört. Steht ihr denn im Gotha?“, wollte Melanie Huml wissen.

„Ja schon. Halt nicht so prominent wie der gegeelte Baron. Wer die Familie derer von Gnadenlos-Hempel kennt, weiß, dass wir eher für Zurückhaltung und Understatement bekannt sind. Ist auch eine komplizierte Linie. Fängt bei den Hennebergern an, genauer gesagt mit Poppo I., Graf von Henneberg. Aber das ist über 900 Jahre her. Irgendwann hat dann einer von diesen Coburgern im thüringisch-hessischen Erbfolgekrieg eine gut befestigte und stark ausgerüstete Burg nach vierwöchiger Belagerung eingenommen. Mit dem Langsdorfer Frieden wurde ihm diese Burg und das zugehörige Land samt dem Gut Hempel zugesprochen. Schließlich hatte er Sophie von Brabant dabei geholfen, Hessen zu gründen. Seine Burg nannte er, weil darum ein gnadenloser Kampf ausgefochten worden war, Burg Gnadenlos. Daraus ergab sich dann der Name derer von Gnadenlos-Hempel. So. Ein letzter Satz noch: In der Rangreihe für die englische Thronfolge stehe ich auf Platz 394. Und wehe, jemand von euch spricht mich je mit Gräfin oder Frau von Gnadenlos-Hempel an!“

Als sie das Haupthaus erreicht hatten und vor der Freitreppe mit den zwölf Stufen angelangt waren, öffnete sich oben die große, zweiflügelige Eingangstüre und ein älterer Diener in Livree trat heraus und begrüßte Sabine überschwänglich.

„Willkommen, Fräulein Sabine. Ich freue mich, Sie wieder einmal in Ihrem Hause begrüßen zu dürfen. Es ist alles hergerichtet, wie von Ihnen befohlen.“

„Dann kommt herein! Es ist angerichtet“, bat Sabine ihre Gäste ins Haus und zu Tisch.

Nach dem Essen, zu dessen Abschluss ein Gläschen uralter Amontillado kredenzt wurde, von dem sicher auch Edgar Allan Poe geschwärmt hätte, wurde das Haus vom Speicher bis zum Keller eingehend besichtigt. Der Keller bot die größte Überraschung. Das war nicht das Hallenbad, mit einem Becken von 6 x 12 Metern, es war auch nicht die raffinierte Hausbar und die geräumige Sauna schon gar nicht. Es war die Treppe, die hinter der Sauna noch einmal ein Geschoss in die Tiefe führte, um schließlich in diesem mächtigen Kreuzgewölbe zu enden:

 

„Mein Gott!“, stieß Wunnibald hervor, „was ist das denn?“

„Das weiß niemand so genau“, erklärte Sabine. „Es muss hier vor Jahrhunderten eine Senke gewessen sein. Das Gewölbe war vermutlich einmal ein Viehstall, vielleicht auch eine Lagerhalle. Erbaut in der trügerischen Gewissheit, dass die Panke und die Spree ihr Bett niemals verlassen werden. Jedenfalls ist das Anwesen vollständig abgesoffen. Danach hat man ringsum alles ungefähr 10 Meter hoch aufgeschüttet, um den Grund aus der Überschwemmungszone herauszuheben. Als dann um 1900 die Baugrube für die Villa ausgehoben wurde, ist man auf das vollständig intakte und tragfähige Gewölbe gestoßen, hat es freigeräumt, wo nötig auch stabilisiert, und dann den ganzen Bau einfach auf dieses perfekte Fundament gesetzt.“

„Wow!“, meinte Melanie, „das ist ja noch verrückter als der Atombunker unter der Münchner Staatskanzlei.“

„Die Luft ist gut“, merkte Wilbrecht Wille an. „Ich kann aber nirgends ein Lüftungssystem entdecken.“

„Keine Sorge: Für frische Luft ist gesorgt“, meldete sich Sabine wieder zu Wort, und erklärte dann feierlich:

„Leute! Das ist ab sofort unser War-Room. Atombombensicher, autarke Wasser-, Luft- und Stromversorgung, abhörsicher noch dazu, und in keiner Bauakte verzeichnet. Was haltet ihr davon?“

„Ich weiß gar nicht, warum wir uns jahrelang ins erste Obergeschoß gequält haben! Hier hätten wir doch schon längst einziehen können“, ereiferte sich Wunnibald Wunsch, um dann gleich wieder einzulenken: Aber für unser jetziges Vorhaben – einfach perfekt!“

„Wie fangen wir an, Sabine?“, wollte Wilbrecht wissen. „Du bist ja jetzt quasi die Chefstrategin.“

„Erst einmal kommt noch die ganze Technik. Das habe ich angeleiert. Dann können wir mit unserer Website starten. Ich habe uns zwei Server gemietet, einer davon in Russland, der zweite in der Schweiz. Wir werden ein Programm machen, das besser ist als RTL und SAT1 zusammen. Viele interaktive Inhalte, Meinungsumfragen zuerst, später werden wir „freie“ Mitarbeiter draußen haben, die Augen und Ohren offen halten. Wir locken die Leute mit Spielfilmen, Shows aller Art, Reality Soaps – und werden ganz allmählich damit anfangen, das Programm mit Nachrichten investigativer Journalisten aufzupeppen. Jedenfalls glaube ich, dass wir innerhalb sehr kurzer Zeit einen gigantischen Marktanteil erobern, und, vor allem, dass wir damit eine breite Meinungsfront gegen rot-rot-grün aufbauen können.“

„Hast du vergessen, dass wir praktisch pleite sind?“ Melanie, die Praktische, stellte diese Frage in den Raum.

„Lasst mich nur machen. Wir, die von Gnadenlos-Hempel, haben erstens unsere Verbindungen und zweitens durchaus einige Reserven und drittens ein großes Interesse daran, dass der Kampf, in den wir uns begeben, von Erfolg gekrönt sein wird. Für heute soll das genug sein. Wir sehen uns hier in einer Woche wieder. Kommt einzeln und mit der U-Bahn. Hier sind eure Funkschlüssel für das Tor. Sollte sich bis dahin noch Wichtiges ergeben, regeln wir das telefonisch.“

Als ihre Gäste sich verabschiedet hatten, rieb sich Sabine Gnadenlos-Hempel begeistert die Hände. Das war jetzt endlich einmal ein Job nach ihrem Geschmack. Sie blieb noch viele Stunden im Gewölbe und machte sich Notizen für das Vorgehen der nächsten Tage.

„Wir schlagen euch mit euren eigenen Methoden“, sagte sie leise, als sie die Treppe zum Hallenbad hinaufstieg.  „Mit euren eigenen Methoden!“

Dann erst fiel ihr auf, dass Melanie weg war. „Ja ist die denn mit Wunni und Wilbrecht zusammen gegangen? Ach dieses Mädchen!“, dachte sie, und beschloss dann, nicht zu unternehmen, sondern einfach abzuwarten.