München
Freitag, 18. November 2022

 

Hochnebel liegt über Stadt. Wer aus dem Haus muss, taucht ein in den grauen Tag. Der Wetterbericht sagt, dass die Sonne in München heute überhaupt nicht zu sehen sein wird. Drinnen, im großen Sitzungssaal des Rathauses, hat sich der Stadtrat im milden Licht der vier großen Kronleuchter versammelt. Punkt zehn Uhr tritt der Oberbürgermeister ans Mikrofon.

 

Hiermit eröffne ich die außerordentliche, nichtöffentliche Sitzung des Stadtrats.
Kolleginnen und Kollegen.

Wir haben in den letzten Wochen eine Verschärfung der Situation unserer Stadt erlebt, wie nie zuvor seit 1945. Es erscheint unausweichlich, mit außerordentlichen Maßnahmen einzugreifen, um Sicherheit und Ordnung in der Stadt wiederherzustellen.
Zur Verdeutlichung der Lage werden nun der Chef der Stadtwerke, der Präsident der Polizei und der Chef des Sozialreferats ihre Berichte abgeben. Danach werden wir überlegen, was wir noch tun können. Herr Brenner, bitte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die gute Nachricht zuerst: Die Zahl der sexuellen Übergriffe in den städtischen Freibädern liegt seit einem Monat bei null. (Gelächter bei der CSU-Fraktion)

Ja, lachen Sie nur. Ich hatte schon im Juli vorgeschlagen, die Freibäder bis auf weiteres zu schließen. Sie haben dagegen gestimmt. Die Bilanz bis zur witterungsbedingten Schließung Mitte September erspare ich Ihnen. Ich kann nur sagen: Bitter. Äußerst bitter.
Damit bin ich auch schon bei den schlechten Nachrichten: Das bedrohlichste Szenario, und das ist Ihnen vermutlich nicht bekannt, zeichnet sich an der oberen Mangfall ab. Seit Wochen stellen wir eine erhöhte bakterielle Belastung des Münchner Trinkwassers fest. Das gab es seit der Inbetriebnahme der Grundwasserbrunnen im Jahr 1883 noch nie. Wir sind gezwungen, das Wasser bis zum Grenzwert zu chlorieren und filtern tagtäglich ganz erhebliche Mengen an Algen- und Bakterienschlamm aus dem einst so sauberen Quellwasser, denn unsere Reserven, das Loisachtal und vor allem die Brunnen in der Schotterebene sind ebenfalls verseucht. Zurzeit bauen wir die UV-Bestrahlung massiv aus, doch sind uns technische Grenzen gesetzt. Wenn die Belastung weiter so zunimmt, wie wir es beobachten, werden wir spätestens im Februar nächsten Jahres nicht mehr in der Lage sein, die Stadt mit unbedenklichem Trinkwasser zu versorgen.

Das Tuscheln der Stadträte schwillt an. Ein Zwischenrufer aus den Reihen der Grünen lässt die Versammelten aufhorchen: „Gut so! Gut so! Endlich schlägt die Natur zurück! Aber ihr wollt nicht aufhören, mit eurem Kampf gegen die Natur. Mit Giftgas! Ja, Chlor ist Giftgas! Mit Giftgas macht ihr doch nur noch mehr kaputt! Hört ihr denn nicht, was uns Sven Groot ans Herz legt: Sanftmut! Demut!
Geschehenlassen! So ist die Welt entstanden. So wird sie überleben und die Sanftmütigen mit ihr!“

Die letzten Worte des Sprechers gehen im Tumult unter. Der Oberbürgermeister schwingt verzweifelt die Glocke und ruft zur Ruhe, doch es scheint, als hätten sich, quer durch alle Fraktionen, zwei Lager gebildet. Der Grüne hat offenbar einen Nerv getroffen. Bestürzt erkennt der Leiter der Stadtwerke, der immer noch am Rednerpult steht, dass offenbar die große Mehrheit der Stadträte die Meinung des Zwischenrufers teilt. Er klopft ans Mikrofon und als halbwegs wieder Ruhe eingekehrt ist, setzt er seine Rede betont sachlich fort.

Meine Damen und Herren,
ich erstatte hier nur Bericht. Ich gebe die Informationen, die mir vorliegen, an Sie weiter. Es gehört zum Auftrag der Stadtwerke, die Versorgung mit sauberem, unbelastetem Trinkwasser für eine Millionenstadt sicherzustellen. Ich bin kein Epidemiologe, der vorhersagen könnte, was mit dieser Stadt und ihren Menschen geschieht, wenn wir nichts mehr tun würden, um die Wasserqualität auch nur einigermaßen zu halten. Aber ich bin erfahren genug, um Ihnen vorhersagen zu können, dass Sie leichtfertig mit dem Leben von Hunderttausenden spielen, wenn Sie die Chlorierung auch nur zurückfahren wollten. Hunderttausende, die zum größten Teil intensivmedizinische Versorgung auf Isolierstationen benötigen würden. Dafür sind unsere Kliniken nicht gerüstet – und unsere Friedhöfe schon gar nicht!

Herr Oberbürgermeister,
bevor ich weiterrede, halte ich es für dringend erforderlich, im Stadtrat abstimmen zu lassen. Und zwar darüber, ob wir uns als vernunftbegabte und verantwortungsbewusste Bürger darum kümmern wollen, diese Stadt wieder in Ordnung zu bringen, oder ob wir sie gleich diesem dahergelaufenen Heilsbringer Groot vor die Füße legen.

Ich habe fertig!

Im Trubel der neu aufbrandenden Empörung verschwand Bernd Brenner beinahe unbemerkt aus dem Sitzungssaal. Der Reporter der TZ folgte ihm, ebenfalls beinahe unbemerkt.
„Herr Brenner, haben Sie noch einen Augenblick Zeit für mich?“
Der Angesprochene, der nicht bemerkt hatte, dass ihm jemand gefolgt war, blieb stehen und wandte sich dem Sprecher zu.
„Ach, das ist ja interessant. Der Boulevard hat noch Fragen …“
„So ähnlich. Ich weiß nicht, ob es klug ist, über Ihre Informationen zu schreiben. Zunächst ist es mein ganz persönliches Interesse. Und es ist mein gerade eben wieder erneuertes Entsetzen über das Tollhaus, das sich Stadtrat nennt.“
„O.K., ich habe Zeit. Wir sprechen in meinem Büro. Sie können bei mir mitfahren, aber achten Sie unterwegs auf Ihre Worte. Ich fürchte, mein Fahrer ist auch ein Sven Groot Jünger, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Schweigend stiegen sie in den großen BMW, schweigend legten sie die kurze Strecke von der Innenstadt zur Emmy-Noether-Straße zurück.

Erst als Sie an Brenners Sekretärinnen vorbei in seinem Büro angekommen waren, begann Bernd Brenner mit den Worten: „Hier können wir sprechen. Der Raum ist abhörsicher. Ich war dazu gezwungen. Die wissen das zwar, und das macht mich noch verdächtiger, aber Verdacht ist eben noch kein Beweis, und noch bräuchten sie Beweise, um mich abzusägen. Einen Drink?“
„Ein Kaffee wäre recht.“
Brenner orderte einen Kaffee und ein Mineralwasser und als die Sekretärin serviert hatte, erklärte er: „Wir möchten in der nächsten Stunde nicht gestört werden. Von niemandem. Auch nicht telefonisch.“
Als die schwere Tür sich beinahe lautlos geschlossen hatte, musterte Brenner seinen Besucher, sah ihm fragend in die Augen und sagte dann: „Sie heißen, wenn ich mich recht erinnere, Jonas Schmölz, schreiben seit zwei Jahren für die TZ und stochern meistens ein bisschen im Münchner Sumpf herum, aber immer nur so tief, dass keines der großen Tiere, die sich da tummeln, dabei ernsthaft verletzt wird. Sagen Sie mir doch zuerst, wie Sie es geschafft haben, dieser nichtöffentlichen Sitzung beiwohnen zu können?“
„Was das Stochern im Sumpf betrifft, haben Sie recht. Das ist mein Job. Dafür werde ich bezahlt. Das Feld, das ich beackern darf, ist in Länge, Breite und Höhe von ganz oben abgesteckt – und von ganz oben setzt man mich auch immer auf die gewünschten Fährten. In Wahrheit bin ich eher ein Frettchen, das in den Kaninchenbau gesetzt wird, aber nie mitbekommt, wer dann am Ausgang vom eigentlichen Jäger in Empfang genommen wird. Es gibt ja nur selten echte Leichen.“
„Und wen sollten Sie heute aus dem Bau jagen?“
„Sorry. Der Tipp kam aus der CSU-Landtagsfraktion. Es hieß nur, es könnte heute spannend werden, und der Ausweis, der mir Zutritt beschafft hat, trägt den Stempel der Staatskanzlei. Also bin ich hin und niemand hat mich gehindert.“
Brenner, der bisher mit aufgestützten Armen, leicht vorgebeugt auf sein Gegenüber konzentriert dasaß, lehnte sich nun in seinem Ledersessel weit zurück, schloss die Augen und meinte: „Sie sagten vorhin im Rathaus, Sie hätten Fragen. Was, meinen Sie, bringt mehr: Ich erzähle einfach drauflos, ohne dass Sie mich unterbrechen, oder Sie fragen und ich beantworte diese Fragen so ehrlich es mir möglich ist.“
„Ich denke, wenn Sie erzählen, erfahre ich mehr, als ich erfragen könnte. Ich bin ja noch ganz am Anfang. Sie leben, wenn ich beim Frettchen-Vergleich bleiben darf, schon länger im Kaninchenbau.“
„Da haben Sie verdammt nochmal Recht. Seit 1995. Und da fängt meine Geschichte auch an. Aber bevor Sie etwas hören, schalten Sie Ihr Handy aus, und sollten Sie sonstige Aufzeichnungsgeräte dabei haben, auch diese. Dieses Gespräch ist privat und vertraulich – und wenn Sie die Geschichte bis zum Ende anhören, werden Sie auch begriffen haben, warum.“
Jonas Schmölz folgte der Aufforderung und legte sein Smartphone und das Mini-Tonaufzeichnungsgerät, dass er immer bei sich trug, ausgeschaltet vor sich auf den Tisch. „Mehr habe ich nicht, mehr brauche ich auch nie. Sie können loslegen.“
… und Brenner begann zu erzählen.

1995 war ein gutes Jahr für mich. Ich hatte mich für den Job in München bei den Stadtwerken beworben, machte beim Vorstellungsgespräch wohl den richtigen Eindruck und wurde als Abteilungsleiter eingestellt. Die Stadt gefiel mir gut, viel besser als Duisburg, wo ich herkam. Die erste Wohnung war auch gerade noch erschwinglich und mein Chef, ein waschechter Münchner, machte mich ziemlich schnell mit den hiesigen Machtverhältnissen vertraut.
„Der OB“, sagte er mir, „ist der Chef. Wenn er auch nur als Aufsichtsrat wirkt und sich im Grunde nicht ums Tagesgeschäft kümmern sollte, steht er fast täglich bei der Geschäftsleitung auf der Matte.“
Das ist übrigens bis heute so geblieben. Doch es gibt einen zweiten, nicht minder gewichtigen Machtfaktor – und das ist die Staatskanzlei. Mein Chef und Mentor meinte damals: „Was der Ministerpräsident braucht, das erfahren wir von dort. Mit einem OB von der SPD und einem MP von der CSU stehen die Stadtwerke immer wieder zwischen zwei Mühlsteinen. Was du brauchst, wenn du dich hier halten willst, das sind Kontakte zu den wirklichen Großen in der Stadt.“
Das habe ich schnell begriffen. Da war zunächst einmal das große Geld.
„Ohne einen guten Draht in die obere Etage der Allianz und der Münchner Rück geht gar nichts“, belehrte er mich. „Dich dort rückzuversichern, bevor du leichtsinnig einem Wink aus dem Rathaus oder aus der Staatskanzlei folgst, ist unumgänglich. Dann die Industrie. Siemens, BMW, die beiden wären eigentlich schon genug, aber es gibt ja auch noch MAN, die Knorr-Bremse, nicht zu vergessen unseren Banknoten-Drucker Giesecke & Devrient, und noch mindestens 50 weitere, auf die man achten muss. Die Landesbank und den Bayerischen Rundfunkt nicht zu vergessen – und selbst die Süddeutsche ist wichtig.“
Also wurde ich herumgereicht. Besprechungsbedarf gibt es immer und überall, wenn man als Controller wie die Spinne im Netz im Zentrum der Stadtwerke sitzt. Im Laufe meines ersten Jahres lernte ich die wichtigsten hundert Köpfe der Stadt persönlich kennen. Gut, das ist lange her, mehr als die Hälfte davon hat sich längst aufs Altenteil zurückgezogen. Aber das waren alles, wie man hier in Bayern sagt, „g’stand‘ne Mannsbilder“. Intelligent, zielstrebig, auch listig, manche hinterhältig, alle darauf bedacht, ihr Stück vom Kuchen nach Kräften zu vergrößern. Solange der Kuchen insgesamt gewachsen ist, war das auch kein Problem. Mit Anbruch unseres Problem-Jahrhunderts änderte sich das. Aus einem im wesentlichen friedlichen Wettstreit wurde Krieg. Höhepunkt die Finanzkrise, und damit rückten Figuren in die Chefetagen auf, die Noah niemals mit auf die Arche genommen hätte. Nicht für noch so viel Geld. Leute, die vor nichts zurückschrecken. Darunter sind Mörder und Brandstifter, Saboteure und Halsabschneider, die meisten chronische Lügner, doch auch damit bin ich noch klargekommen.
Seit ich hier auf dem Chefsessel sitze, bin ich der mächtigste Mann Münchens. Ich kann diese Stadt im wahrsten Sinne des Wortes ausschalten. Ich herrsche nicht nur über das Münchner Wasser, weite Teile der Energieversorgung, Strom aus Wasserkraft, Strom und Fernwärme aus Heizkraftwerken, sogar Fernkälte habe ich im Angebot. Gas aus dem europäischen Verbundnetz wird von den Stadtwerken verteilt und in einem riesigen unterirdischen Speicher vorgehalten. Alle Räder des MVV stehen still, wenn meine U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse nicht wollen. Die Stadtwerke betreiben in München und weiteren Regionen Glasfasernetze für die Telekommunikation, und letztlich hängt der gesamte Badespaß der Münchner Bäder im Konzern. Mit knapp 10.000 Mitarbeitern machen wir über acht Milliarden Euro Umsatz im Jahr.
Um ehrlich zu sein: Ich war einmal der mächtigste Mann Münchens. Inzwischen gleiten mir die Fäden aus der Hand. Es liegt nicht an mir. Ich mache meinen Job, wie ich ihn immer gemacht habe. Versorgungssicherheit steht an erster Stelle. Gerechtigkeit – ich weiß, ein hehres Wort – kommt an zweiter Stelle. Würde ich nicht immer versuchen, einen gerechten Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen aller Kunden herzustellen, auch der ganz kleinen Privaten, gäbe es in kürzester Zeit nur noch Glaspaläste mit Slums drum herum. Erst an dritter Stelle kommt die Rentabilität für die Stadt als Eigentümer. Da war ich auch mit allen Bürgermeistern, die ich hier erlebt habe, der gleichen Überzeugung.
Aber, wie Sie heute in der Sitzung erlebt haben: Die Irren gewinnen die Mehrheit. Vernunft, Ratio, Wissen und Erfahrung, wie immer Sie es nennen wollen, werden mit Füßen getreten. Aus den Schulen kommen Vollidioten, die zwar alle Annehmlichkeiten, die unsere technisch fortgeschrittene Kultur bietet, gerne annehmen, die zugleich aber jenen Teil der komplexen Technik erbittert ablehnen und bekämpfen, der in der Wand hinter ihren Wasserhähnen und Steckdosen erst beginnt. Das bringen die nicht mehr zusammen.
Jederzeit mit dem Smartphone ins Internet? Ja, das muss sein. Aber Mobilfunkantennen? Furchtbares Teufelszeug!
Heizung, Licht, Fernsehen, Mikrowelle, Toaster? Alles super! Aber Kraftwerke, Stromtrassen, Umspannwerke? Weg damit, Umweltzerstörung!
Gut, das gab es 1995 alles auch schon. Das war der grüne Ungeist, der meinte, Ingenieure könnten hexen und mit immer weniger Ressourcen immer mehr Leistung zur Verfügung stellen. Aber es war eben nur diese eine Partei – und die hatte eine überschaubare Anzahl von Mitgliedern, Sympathisanten und Wählern. Außerdem war ja nicht alles bloß Humbug. Der Schubs, den sie uns anfangs gegeben haben, ging schon in die richtige Richtung und einiges konnten wir auch sinnvoll umsetzen.
Heute ist die Situation unerträglich. Nehmen Sie die Freien Siedler. Das hat vor zwei Jahren begonnen. Mitten in den Wasserschutzgebieten im Alpenvorland haben die ersten ihre Hüttendörfer errichtet. Niemand weiß, wer sie sind und woher sie kommen. Es sind ja nicht nur Deutsche, nicht nur Europäer. Die Mischung ist bunter als auf dem Oktoberfest. Sie berufen sich auf einen Propheten oder Guru, der genau dort den sicheren Ort gefunden hat, um der großen bevorstehenden Katastrophe zu entgehen. Als wir gleich am Anfang dagegen vorgehen wollten, erhob sich im Landtag und im Stadtrat ein Sturm der Entrüstung. „Die tun doch keinem was“, hieß es. Aber jetzt, wo schätzungsweise eine halbe Million Menschen zwischen Oberstdorf im Allgäu und Bad Reichenhall und Berchtesgaden auf halber Berghöhe die Almen besetzt und mit jedem möglichen Dreck und Müll verschandelt hat, ist niemand mehr in der Lage, sie zu vertreiben. Es wüsste ja auch niemand, wohin mit ihnen, und niemand könnte garantieren, dass sie sich nicht am nächsten Tag wieder auf den Weg machen.
Die sind schuld am katastrophalen Zustand unseres Münchner Trinkwassers. Wir haben sie wochenlang mit Drohnen beobachtet. Sie schlagen wahllos Holz in den Wäldern, um ihre Hütten zu bauen und ihre Feuer zu unterhalten. Sie haben tausendfach Bäche mit einfachen offenen Leitungen angezapft, um sich mit Trinkwasser zu versorgen, und sie haben sich Latrinen gebaut, vorzugsweise da, wo es schroffe Abhänge gibt, oder natürliche Risse und Spalten im Untergrund, die eine schnelle Ableitung von der Oberfläche unterstützen. Jetzt wimmelt es im Grundwasser nur so von Koli-Bakterien und Schlimmerem. Ich würde die Bundeswehr, die Gebirgsjäger, einsetzen und sie mit Kind und Kegel über den Alpenhauptkamm nach Süden jagen. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht. Sie werden schon noch verstehen, dass das die einzige Lösung ist.

Es war schon vor zehn Jahren, im Herbst 2012, als ich kontaktiert wurde. Sie nennen es „kontaktieren“. Es ginge um die Zukunft des Planeten, ob ich mich an seiner Rettung beteiligen wolle, lautete die Frage. Der Kontakt erfolgte per Mail. Der Absender war für mich nicht zu ermitteln, doch die Mail enthielt so viele Informationen über mich, dass mir klar war, dass dies weder ein dummer Scherz noch ein Kettenbrief sein konnte, sondern dass da eine Organisation mit nicht unerheblichen Möglichkeiten dahinterstecken musste, die offenbar einen Plan verfolgte, der die wesentlichen Probleme von über sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten lösen sollte. Natürlich weckte das mein Interesse und ich antwortete, ja, ich bin interessiert.
Vier Wochen lang hörte ich nichts. Dann meldete sich ein Mitarbeiter des ifo-Instituts an, um mich für den Geschäftsklima-Index zu interviewen. Wir vereinbarten einen Termin, doch es stellte sich schnell heraus, dass der Mann nicht vom ifo-Institut beauftragt war.
„Sie haben vor ein paar Wochen Ihre Bereitschaft erklärt, die Welt retten zu wollen“, eröffnete er das Gespräch. Ich war zunächst verwirrt, erinnerte mich dann aber an die sonderbare Mail und bejahte seine Frage.
„Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um eine Art Eignungstest durchzuführen. Das heißt, ich kann nur die Fragen stellen und Ihre Antworten festhalten. Wie diese Antworten ausgewertet werden, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur versichern, dass unser Kenntnisstand über Sie ausreicht, um Sie als potentiellen Mitstreiter anzusehen. Die letzte Klarheit soll dieser Test verschaffen.“
An dieser Stelle konnte ich mir nicht verkneifen, nachzufragen, wer oder was denn die Organisation sei, in deren Auftrag er bei mir erschienen war.
„Tut mir leid. Diese Frage kann ich Ihnen, darf ich Ihnen nicht beantworten. Sollte dieser Test positiv ausgehen, werden Sie es in Erfahrung bringen können. Sollte der Test wider Erwarten negativ ausfallen, werden Sie nie wieder von uns hören. Können wir beginnen?“

Ich war weiterhin neugierig und willigte ein. Es folgte ein fast zweistündiges Interview. Zum Teil fiel mir auf, dass es sich bei manchen Fragen um Kontrollfragen handelte, zum Teil hatte ich den Eindruck, man wolle mich über eine Abfolge eskalierender Fragestellungen zu krass-extremen Aussagen verleiten. Mindestens einmal ist ihnen das wohl auch gelungen. Doch ich versuchte mit meinen Antworten, vor allem wenn es um persönliche Wertungen und Einstellungen ging, so weit ehrlich zu bleiben, wie möglich. Bei allen Fragen, aus denen sich eventuell später ein Erpressungspotential ergeben hätte, blieb ich jedoch vorsichtig, bestenfalls vielsagend ausweichend, aber keinesfalls konkret.
Als der Fragebogen abgearbeitet war, verabschiedete sich der Mann ziemlich eilig. Er erhob sich, sagte: „Vielen Dank, Herr Brenner, für Ihre Offenheit. Sie hören wieder von uns. Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich finde alleine hinaus.“

Ich war vom plötzlichen Abbruch des Interviews geradezu überrumpelt und blieb tatsächlich sitzen. Eine ganze Weile dachte ich noch angestrengt darüber nach, ob ich mir mit einer Offenheit einem unbekannten Fremden gegenüber nicht soeben das eigene Grab geschaufelt haben könnte. Nun, dem war nicht so.

Inzwischen gehen sie nicht mehr so umständlich und vorsichtig vor. Interviewer und Interviewter sollen sich sogar persönlich kennen, nur der Name der Organisation, der darf erst genannt werden, wenn der Test bestanden ist.

Und damit komme ich zu Ihnen, Herr Schmölz: „Wollen Sie sich an der Rettung des Planeten beteiligen?“

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.