Berlin
Mittwoch, 8. März 2023

 

Erst als er nach dem Nachtflug im Taxi saß und das Flughafengelände des BER hinter sich wusste, war Westermann endgültig überzeugt, sich in Sicherheit gebracht zu haben. Er fragte den Taxifahrer nach einem ordentlichen, preiswerten Hotel, denn er wollte es vermeiden, da wo er üblicherweise standesgemäß abzusteigen pflegte, jemandem über den Weg zu laufen, der ihn kannte, ihn womöglich in ein Gespräch verwickelt hätte, oder im schlimmsten Fall die Information über seinen derzeitigen Aufenthalt weitergeben würde.

„Sie haben kein Gepäck?“, wurde er an der Rezeption gefragt, und als er verneinte, hieß es: „Dann muss ich leider Vorkasse verlangen. Wie lange wollen Sie bei uns wohnen?“

Dirk gab an, dass er vermutlich eine Woche bleiben werde und zahlten 820 Euro mit seiner EC-Karte der Berliner Volksbank.

Dann stellte er sich unter die Dusche und versuchte, den Stress der vergangenen Nacht von sich abzuspülen. Dass er sich danach wieder die nun schon zu lange getragene Bekleidung anziehen musste, empfand er als persönliche Demütigung.

Er hatte Glück, Gunther war sofort am Telefon und bereit ihn in etwa zwanzig Minuten am IBIS Hotel in Treptow, direkt an der Spree, abzuholen.

Schon während der Fahrt berichtete Dirk, dass er Hals über Kopf New York verlassen hatte, als er erfuhr, dass sein Kontaktmann, der als Bote die Nachrichten aus dem Operationszentrum der globalistischen Bewegung überbracht hatte, auf besorgniserregende Weise um Leben gekommen sei. Es könne keinen Zweifel geben, dass damit auch Jeff, der eigentliche Nachrichtenbeschaffer, enttarnt und neutralisiert worden sei.

„Du kriechst jetzt erst einmal bei mir unter und bleibst verschwunden. Wir müssen herausfinden, ob die glauben, über dich sei die Bundesregierung informiert worden, oder ob sie längst einen anderen Verdacht haben. Wenn ich nur schon wüsste, wie.“

Lisa begrüßte Dirk herzlich, wie immer, wenn sie sich begegneten und stellte dann mit entwaffnender Offenheit fest: „Dirk, du brauchst frische Klamotten. Tut mir leid, aber du muffelst ein bisschen.“

„Kein Wunder, ich stecke seit gestern Früh in diesen Sachen. Die sechs Stunden im Flugzeug machen da auch nicht gerade etwas besser. Ich weiß, aber ich habe nichts zum Wechseln dabei.“

„Dann wollen wir doch mal sehen, ob es in Gunthers Kleiderschrank nichts gibt, was dir passt.“

Ein paar Minuten später kam sie mit frischer Unterwäsche, einer Jeans und einem weiten Pullover zurück. „Das dürfte für den Augenblick gehen, Dirk. Zieh dich im Bad um, wahrscheinlich willst du ja auch noch einmal duschen.“

Während Dirk sich zurückzog, informierte Gunther seine Frau in aller Kürze über das was, vorgefallen war. Lisa begriff sofort, dass es jetzt notwendig wäre, Dirk als einen Zuträger der Bundesregierung hinzustellen. Die habe allerdings im allgemeinen Chaos der politischen Wirren in Berlin davon entweder gar nicht Kenntnis genommen oder das Thema als zweitrangig auf die lange Bank geschoben.

Als Dirk, jetzt endlich zufriedenstellen frisch, wieder erschien, fragte Lisa: „Sag einmal, Dirk, dein Mann im AA, der ja auch unser Mann ist, könnten wir den einspannen, um eine neue Story zu lancieren?“

„Im Grunde schon, aber wie soll das gehen?“

„Ich stelle mir vor, dass die Notiz, um die es geht, mit Eingangsstempel von vor einer Woche, in einer roten Mappe, VS-Vertraulich, im Büro des Außenministers gefunden wird. Der war ja die ganze Zeit voll mit dem Koalitionsausschuss beschäftigt. Kann schon sein, dass da mal was untergeht. Und dann müsste es halt irgendwie spektakulär wieder auftauchen. Da denk ich noch drüber nach.“

Hätte Lisa gewusst, was zur gleichen Zeit im Büro des Außenministers vorging, hätte sie sich das Grübeln ersparen können.

Der Mann, der sich so oft als Wohltäter der Partei, vor allem aber ihrer mehr oder minder offiziellen Unterorganisationen erwiesen hatte, der Mann, dessen NGOs längst den politischen Ton in Europa vorgaben, wenn man einmal von Ungarn, Polen und den anderen Visegrád Staaten absieht, hatte um einen persönlichen Termin gebeten und auch unverzüglich erhalten. Sein Wagen mit den dunkel getönten Scheiben glitt in die Tiefgarage des Auswärtigen Amtes. Der Fahrer blieb im Wagen, der Passagier im Fond wurde von zwei Personenschützern zum reservierten Aufzug geleitet und – abgeschirmt von allen anderen Personen im Hause – direkt in das Arbeitszimmer des Außenministers geführt.

Die Begrüßung fiel ziemlich kühl, aber nicht unfreundlich aus. Nachdem beide in der futuristisch eingerichteten Besucherecke Platz unter einem großformatigen Bild von Jörg Immendorff Platz genommen hatten, ein Ankauf noch aus Schröders Zeiten, ergriff der Gast als erster das Wort.

„Unsere Dienste haben mir berichtet, dass Sie es immer noch nicht lassen können, in den USA über Ihre Konsulate Spionage zu betreiben. Sollte Ihnen davon nichts bekannt sein, was ich durchaus für möglich halte, sollten Sie Ihren Saftladen tatsächlich mal auf Vordermann bringen. Mehr als: ‚Rechtsextreme Netzwerke im Außenamt vermutet‘, brauchen Sie dabei der Presse ja glücklicherweise gar nicht durchzustecken. Ich sage nur: Crazy Germans!

Die Welle kocht hoch, und ihre Koalitionspartner werden sich darauf stürzen, wie ein Rudel Wölfe auf das frisch gerissene Schaf. Sie brauchen dazu jetzt nichts zu sagen, das ist auch nicht mein eigentliches Anliegen. Ihr Auftrag ist es jetzt, mit allen erdenklichen Mitteln dafür Sorge zu tragen, dass diese Ilka Schilling-Krämer morgen nicht zur Bundeskanzlerin gewählt wird. Die Frau ist vollkommen unberechenbar, um nicht zu sagen komplett irre. Das können wir jetzt unter keinen Umständen gebrauchen. Sorgen Sie dafür, dass im Herbst neu gewählt wird. Bis dahin bleibt die Regierung geschäftsführend im Amt. Einen Kanzler gibt es bis dahin nicht, nur einen Kanzleramtsminister. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Meine Zeit ist knapp bemessen – und Sie haben jetzt alle Hände voll zu tun.“

Die beiden Personenschützer begleiteten ihn auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war, zurück in die Tiefgarage.

Es war, als hätte dieser Besuch nie stattgefunden.

 

Der „große Maestro“, wie der Außenminister, der das Amt 2021 von Heiko Maaß, dem eher kleinen Maestro, übernommen hatte, hinter vorgehaltener Hand oft genannt wurde, rief nach einer kurzen Bedenkpause seine beiden Staatssekretäre in sein Büro.

„Ich hatte eben Besuch. Ein alter Freund unserer Partei mit einer sehr unangenehmen Bitte. Einer Bitte jener Art, die man nicht ausschlagen kann, wenn ihr versteht.“

Er machte eine längere Pause, als würde er über den nächsten Satz sehr intensiv nachdenken.

„Ich sage es mal so: Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass Ilka Schilling-Krämer morgen zur Bundeskanzlerin ernannt wird.“

„Nun ja, so unangenehm ist uns dieser Wunsch ja nicht“, meinte der Mann aus Niedersachsen, der immer noch als glühender Verehrer der ersten Verteidigungsministerin der Bundesrepublik bekannt war.

„Unangenehm ist nur, dass wir praktisch keine Zeit haben, das unauffällig einzufädeln, meinte sein Kollege.“

„Ich glaube, ich hab‘ da was. Darf ich einen Mitarbeiter dazu rufen?“

„Wenn er vertrauenswürdig ist?“

„Absolut!“

Dann her damit.

Minuten später betrat ein lebenslustig wirkender Mann, dem Dialekt nach waschechter Bayer, den Raum, begrüßte die Anwesenden, mehr leutselig als freundlich und nahm auf dem ihm angewiesenen Sessel Platz.

„Huber“, begann der Niedersachse, „Sie erinnern sich an unsere letzte Abteilungsfeier. Sie waren am Höhepunkt des Abends schon ziemlich fröhlich und erzählten eine pikante Geschichte über eine in den letzten Tagen ziemlich bekannt gewordene Person. Können Sie die hier noch einmal wiederholen?“

„Sie meinen die Sache mit der schönen Ilka?“

„Ja. Ganz genau die.“

„Ich lasse hier mal alle Ausschmückungen weg. Das Wesentliche: Die designierte Bundeskanzlerin war während ihres kurzen Gastspiels an der FU – eher nicht der Not, mehr dem eigenen Triebe folgend – bei einer Begleit-Service Agentur unter Vertrag. Das ist nun wohl ungefähr zehn Jahre her. In ihrer Vita ist selbstverständlich nichts davon zu lesen, auch sonst findet sich im Internet kein Hinweis mehr darauf. Aber es gibt drei Zeugen. Einer davon bin ich. Wir waren damals, als Delegierte der Jungen Union München, eingeladen zu einem Besuch bei der CSU-Landesgruppe in Berlin. Als der offizielle Teil der Veranstaltung zu Ende war, trat einer von den Alten an uns heran und meinte: Na, Jungs, ihr möchtet doch sicherlich heute noch was erleben, bevor ihr wieder nach München fahrt. Da, das ist eine heiße Telefonnummer für bestimmte Zwecke.“

„Ja, und? Schwelgen Sie nicht in Erinnerungen Huber, kommen Sie zur Sache.“

„Die Frau, die wir am Telefon erreichten, die uns auch zu dritt nehmen würde, wenn wir das wollten, bestellte uns an eine Adresse, hier in Berlin. Wir hatten wirklich einen Riesenspaß miteinander. Zum Abschied gab sie jedem von uns eine Visitenkarte der Agentur, für die sie arbeitete und meinte: Wenn ihr wieder mal in Berlin seid, macht über diese Agentur einen Termin bei mir. Die mögen solche direkt vereinbarten Schwarzarbeitseinsätze, wie heute mit euch, nämlich gar nicht.“

„Und? War das Frau Schilling-Krämer?“

„Ja wer denn sonst? Ich selbst habe ihre Dienste danach noch mindestens drei Mal in Anspruch genommen.“

„Sie würden das beeiden, Huber?“

„Jederzeit gerne, wenn es meiner Karriere dienlich ist.“

„Dann wollen wir jetzt mal gemeinsam bei der BILD-Redaktion anrufen …“

 

 

 

Thüringer Wald
Samstag, 8. April 2023

 

Als die Nachricht davon, dass die Wahl der Bundeskanzlerin abgesagt worden war, am Morgen des Wahltags rauf und runter durch die Medien gezerrt wurde, verursachte das unter den Mitstreitern der Operation Dornröschen große Verwunderung.

Was das nur wieder eine Verrücktheit der zerstrittenen Koalitionspartner, oder steckte mehr dahinter? Dass da jemand in der Vergangenheit der Kandidatin herumgeschnüffelt hatte, der dann ausgerechnet in der letzten Minute fündig geworden war, erschien zumindest zweifelhaft. Man war sich einig, dass hier eine Bombe gezündet wurde, die schon lange bereitgelegen haben musste. Ohne einen zusätzlichen äußeren Einfluss wäre die so mühsam erreichte Vereinbarung im Koalitionsausschuss wohl kaum so leichtfertig über den Haufen geworfen worden.

Dirk Westermann hatte sich auf Anraten Gunthers nach ein paar Tagen im Auswärtigen Amt gemeldet, seinen nicht abgesprochenen, um einige Tage vorgezogenen Urlaubsantritt mit einer dringenden familiären Geschichte begründet und ausdrücklich darum gebeten, von seinem Posten in New York mit sofortiger Wirkung abgelöst zu werden. Er konnte erreichen, dass er vorläufig in Berlin auf einer zbV-Position, also zur besonderen Verwendung, geparkt wurde und im Prinzip nur dann im Amt zu erscheinen hatte, wenn er einbestellt wurde.

Major Wendel hatte unter Einschaltung des BND Nachforschungen über den Todesfall Harry Grimm eingeleitet. Vom BND wurden daraufhin sogar zwei Agenten in Marsch gesetzt, die im Norden Michigans nach Hinweisen auf die möglichen Urheber des Flugzeugabsturzes und nach den Spuren eventuell weiterer ungeklärter, vorzeitiger Todesfälle suchen sollten.

Ein Sportangler, den diese unverfänglich mit: „Schön ruhig hier Mann, die müssen ja beißen wie die Verrückten“, angesprochen hatten, erbrachte die erste Spur.

„Schön ruhig? Lang ist’s her. Fast eine Woche lang startete und landete auf dem Hügel da hinten ein Hubschrauber nach dem anderen. Danach dann die Sprengungen. Ich war bei der Army. Da ging es um ganz dicken Beton, Leute. Zwischendurch dann der Flugzeugabsturz, praktisch direkt vor meiner Nase. Ging ja durch alle Zeitungen, nicht wahr. Nur davon, dass es das Ding mit lautem Knall in der Luft zerrissen hat, bevor die Trümmer in den See stürzten, davon war nichts zu lesen.“

„Aber heute beißen sie wieder?“

„Ja, gottseidank. Seit ein paar Tagen ist auch wieder Ruhe.“

„Ja dann: Petri Heil!“

Die vorsichtige Erkundung des bewaldeten Hügels ließ erst einmal nicht erkennen, dass hier so etwas wie Atombomben gezündet worden wären. Die Reste von ein paar weggesprengten, bungalowähnlichen Gebäuden, teils in leichter Holzständerbauweise errichtet, waren alles, was da zu sehen war. Erst als einer der beiden mit einem Fuß plötzlich in ein Loch sackte, das wohl nur oberflächlich zugeschüttet worden war, standen sie vor einem erst durch die Explosionen geschaffenen Eingang zur unterirdischen Bunkerwelt. Dort einzusteigen, erschien zu gefährlich, doch was im Schein der Taschenlampen da unten zu erkennen war, das deutete sehr darauf hin, dass da einmal jede Menge elektronisches Equipment vorhanden war, dass nun in Einzelteile zerrissen überall verstreut herumlag. Sie tarnten den Einstieg, den sie entdeckt hatten, mit Trümmern von dem, was als Material von den gesprengten oberirdischen Gebäuden zu gebrauchen war und zogen sich eilig zurück.

Als der Bericht der Agenten nach Prüfung und teilweiser Schwärzung durch den BND bei Major Wendler landete, pfiff er leise durch die Zähne. Kurz darauf hatte er auf dem ganz normalen Dienstweg des geheimdienstlichen Informationsaustausches einen Hinweis an die Defense Intelligence Agency, der Dachorganisation der Militärgeheimdienste der USA abgesetzt.

Sollte weder die Army, noch die CIA oder ein anderer Dienst einen Stützpunkt im County Cheboygan, Michigan, unterhalten, hielte ich es für ratsam, dort einmal gründlich nachzusehen.

45°38’51.1″N 84°19’05.1″W.
Wendler, Major, Militärischer Abschirmdienst.

Die Reaktion ließ nur zwei Tage auf sich warten.

„Danke, Major Wendler. Dicker Fisch. Sie haben einen gut bei uns.“

Das war Information genug. Es waren nicht offizielle Stellen der USA, die hier ein Spiel spielten, sondern eine ganz andere Großorganisation. Er hatte das auch nicht erwartet. In den USA hatte man mit den immer wieder aufflammenden Rassenunruhen, mit den Feministinnen und Genderleuten an den Universitäten, mit den gegen die Republikaner und vor allem gegen Präsident Trump massiv kämpfenden Medien und mit der sich nach jedem Schlag immer wieder neu formierenden Antifa genug zu tun.

„Make america great again“, schien einen Sturm des Chaos ausgelöst zu haben, der im Abstand von Tagen an immer neuen Brandherden eine Spur der Verwüstung hinterließ.

Wendel war sich sicher, dass die Kräfte, die dabei waren, die USA zu zerbrechen, identisch mit jenen Kräften waren, die auch in Deutschland alles daransetzten, das Land zu destabilisieren und faktisch sturmreif zu schießen.

Die führenden Köpfe der Operation Dornröschen nahmen diese Erkenntnis durchaus ernst, stellte sich doch immer mehr heraus, dass der Gegner keine offiziellen Strukturen nutzte, die man hätte angreifen können, sondern eine eigene geheime Organisation aufgezogen hatte, die unabhängig von Nationalstaaten und Volkswirtschaften, getragen nur von der Macht des Kapitals anonym im Hintergrund bleibender Global Player, ihre Pläne verfolgte. Nur ein einziger aus diesem Kreis, vermutlich aber nur ein teuer eingekaufter Strohmann, der sein Vermögen mit Börsenspekulationen erworben hatte, trat dabei öffentlich in Erscheinung.

Die Stimmung der Verschwörer war trotz allem optimistisch. Heute, zwei Tage vor dem erwarteten Erscheinen der Satelliten, hatte man mit dem Aufbau der umfangreichen Abwehrtechnik auf dem Fundament eines aufgelassenen Windrades begonnen. Der Berg war weiträumig abgesperrt, Wanderer und Forstleute wurden höflich, aber bestimmt abgewiesen und auf den 11. April vertröstet, denn dann sei diese Übung hier beendet.

Das meiste Material war per Hubschrauber auf den Berg gebracht worden. Techniker stellten die Kabelverbindungen zwischen den einzelnen Systemkomponenten her. Die Leute der Regionalgruppe, die den Standort entdeckt hatten, waren dabei die Glasfaserleitungen zwischen den drei Peilantennen und dem Feuerleitrechner herzustellen.

Die Aufbauarbeiten waren früher als erwartet und schon vor Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen. Für Morgen war der Funktionstest der gesamten Anlage vorgesehen, wobei der allerletzte Akt, nämlich das Abfeuern der Laserkanone ausgelassen wurde. Das Risiko, damit zu sehr aufzufallen, erschien einfach zu groß.

Gegen einundzwanzig Uhr verschwanden die Sterne hinter schnell heraufziehenden Wolken. In der Ferne zuckten erste Blitze über den Himmel. Der Wind frischte böig auf, dicke Tropfen fielen aus den Wolken und dann machte die riesige Gewitterzelle, die an den Bergen des Thüringer Waldes hängen geblieben war, mit Hagel, Böen von über hundert Stundenkilometern und einer Unzahl von Blitzen die Nacht zum Albtraum.

Die Plane, die man noch eilig über die Laserkanone gezurrt hatte, flog irgendwann von einer Böe mitgerissen davon. Am Rand der Lichtung fielen mehrere große Fichten, vom Sturm entwurzelt, krachend in Richtung des provisorischen Camps.

Als sich der Sturm verzogen hatte und nur noch ein ergiebiger Landregen aus den Wolken fiel, ordnete Karl-Friedrich von Henningsberg, der diese Aktion, unterstützt von seinem Freund Frank Meißner, dem hochspezialisierten Techniker des Max-Planck-Instituts, eine sofortige Schadensaufnahme an.

Äußerlich sah die Installation auf dem Hügel, rings um die Laserwaffe, unbeschädigt aus. Schließlich handelte es sich bei fast allen Komponenten um MIL-zertifizierte Teile, die auch einen Gewittersturm unbeschadet überstehen sollten. Ob es irgendwo in den Tiefen der Elektronik einen Schaden gegeben habe, würde man morgen, beim Funktionstest, hoffentlich noch früh genug erkennen.

Der Schock traf alle, als die Erkundungstrupps von den im großräumigen Abstand installierten Antennen eintrafen. Zwei von dreien hatte der Sturm umgeworfen. Die Möglichkeit, auch für die Antennen sichere Fundamente zu schaffen, war in diesem Gelände und in der zur Verfügung stehenden Zeit einfach nicht gegeben. Von den umgeworfenen Antennen schien eine weitgehend intakt geblieben zu sein, an der anderen war mit bloßem Auge zu erkennen, dass der Parabolspiegel beim Aufprall verbogen worden war. Die dritte stand weiterhin da, wo man sie aufgestellt hatte. Doch als auch bei dieser Antenne der Verlauf des Glasfaserkabels überprüft wurde, stellte man fest, dass die Verbindung gerissen war.

Kevin Albrecht begann mitten in der Nacht von Samstag auf Sonntag wie von Furien gehetzt zu telefonieren. Frank Meißner hatte die defekte Antenne in Augenschein genommen. Zum Teil ließe sich die Delle wohl mit Bordmitteln wieder ausbeulen. Den Rest müssen man testen und das Ergebnis benutzen, um die Software so zu verändern, dass der sich ergebende Fehler herausgerechnet wurde. Ein gewisser Leistungsverlust sei zwar nicht zu vermeiden, aber das, was an auswertbarer Information noch gewonnen werden könnte, sollte ausreichen, um die Aktion erfolgreich durchzuführen.

Die zwei Kilometer Glasfaser, die irgendwo in der Mitte gerissen waren, ließen sich allerdings mit Bordmitteln nicht wieder zusammenflicken.

„Es gibt keine andere Lösung. Wir brauchen Ersatz, an beiden Enden exakt so konfektioniert, wie das originale Kabel“, das war der Auftrag, an Kevin, dem es bisher gelungen war, wie ein Zauberer alles herbeizuschaffen, was benötigt wurde.

Als es allmählich wieder hell wurde, gab Kevin auf. „Es ist Wochenende. Die Firmen sind geschlossen. Ein Anrufbeantworter hilft uns nicht weiter. Es sieht gar nicht gut aus. Ich lege mich jetzt ein paar Stunden aufs Ohr. Am Nachmittag telefoniere ich noch einmal alle meine persönlichen Kontakte unter ihren Privatnummern ab. Ihr könnt nur noch beten, dass ich dabei Glück habe.“

Während Kevin sich ausruhte, ohne wirklich Schlaf finden zu können, machte sich die technische Mannschaft daran, das Programm der Funktionsprüfungen abzuwickeln. Frank Meißner hatte die verbogene Antennenschüssel mit Hilfe einiger starker Männer mit rabiaten Mitteln soweit zurechtbiegen können, wie es möglich war, und beschäftigte sich jetzt damit, den Fehler des Spiegels zu analysieren und die notwendigen Einstellungen in der Software vorzunehmen.

Als er damit fertig war, hatten alle anderen Gruppen längst den erfolgreichen Abschluss der Funktionsprüfung gemeldet.

Die ganze Aktion hing nun an einem kleinen Bündel ummantelter Glasfasern mit dem vergleichsweise lächerlichen Handelswert von etwa 5.000 Euro, doch alles Geld der Erde half nichts, solang es Kevin nicht gelingen sollte, jemanden ans Telefon zu bekommen, der in der Lage war, das Kabel zu liefern.

Kevin hatte längst wieder begonnen zu telefonieren, doch es war wie verhext. Er erreichte auch den ganzen Nachmittag über niemanden. Die Zeit bis zur spätestens erforderlichen Funktionsfähigkeit der Gesamtanlage verrann schnell.  Um zwanzig Uhr waren es noch fünfzehn Stunden gewesen, bis zur frühestmöglichen Ankunft der Satelliten, um zweiundzwanzig Uhr noch dreizehn, um dreiundzwanzig Uhr noch zwölf.

Kurz vor halb eins in der Nacht klingelte Kevins Telefon. Einer, von denen, die er per Anrufbeantworter, SMS, oder Mail um Rückruf gebeten hatte, war in der Leitung.

Kevin schilderte hastig sein Problem und die Dringlichkeit der Angelegenheit. Den Zweck der Übung nannte er allerdings nicht. Doch sein Gesprächspartner unterbrach ihn bald. „Tut mir leid, habe ich nicht auf Lager – und in der Länge sowieso nicht. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen, Herr Albrecht?“

„Ich fürchte nein, aber herzlichen Dank für Ihren Rückruf und eine gute Nacht.“

Zehn Minuten nach zwei klingelte Kevins Handy erneut.

„Albrecht“

„Guten Morgen, Herr Albrecht. Ich nochmal, Ralf Kaiser.“

„Hallo und guten Morgen Herr Kaiser. Sie überraschen mich …“

„… und zwar mit einer guten Nachricht. Ich habe, was Sie brauchen, das heißt, ich habe es nicht. Es liegt in Frankfurt an der Oder. Zweitausendfünfhundert Meter, aber genauso konfektioniert, wie Sie es beschrieben haben. Wo genau brauchen Sie es denn, und vor allem, bis wann?“

„Mann, Herr Kaiser, ich könnte Sie küssen. Ich bin hier mitten im Thüringer Wald auf einem einsamen Bergrücken. Und ich brauche das Kabel spätestens um heute um zehn Uhr vormittags.“

„Sie machen Scherze, oder?“

„Nein, absolut nicht. Wir können den Wettlauf gegen die Zeit noch gewinnen. Informieren Sie Ihren Partner in Frankfurt. Er soll einen geeigneten Hubschrauber Landeplatz in seiner Nähe ausfindig machen, ihnen die genaue Adresse durchgeben und dann die Kabeltrommel dorthin schaffen. Tun Sie das bitten, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Wenn Sie den Landeplatz kennen, sagen Sie mir wieder Bescheid. Ein Hubschrauber startet, sobald wir einen organisiert haben.“

 

„Herr von Henningsberg, aufwachen!“

„Woher kam der Hubschrauber, der uns hier das Material angeliefert hat? Wir brauchen jetzt sofort einen Heli mit Pilot und Copilot, für eine Materialabholung in Frankfurt an der Oder.“

„Lassen Sie mich doch erst mal richtig wach werden. Der Hubschrauber? Oberstleutnant Rückert hat den in Faßberg besorgt.  Wollte er jedenfalls. Beim Transporthubschrauberregiment 10, in der Lüneburger Heide … Sagen Sie bloß, Sie haben die Glasfaser?“

„Genau darum geht’s. Wir haben nur noch acht Stunden. Wenn das Kabel verlegt sein soll, bevor die Satelliten auftauchen, zählt jede Minute. Wenn ich in Geografie gut genug aufgepasst habe, sind es etwa vierhundert Kilometer von der Lüneburger Heide bis an die Oder. Von Frankfurt an der Oder zu unserem Standort dürften es etwas weniger sein, aber mindestens dreihundert. Reine Flugzeit etwa dreieinhalb Stunden. Was warten Sie noch, rufen Sie Oberstleutnant Rückert schon an. Es zählt jede Minute.“

„Und was genau soll ich ihm sagen?“

„Holen Sie ihn erst mal ans Telefon. Die Details erzähle ich ihm dann.“

Quälend lange Minuten vergingen, bis nicht mehr der Anrufbeantworter, sondern Oberstleutnant Rückert am Telefon war.

„Sie müssen Ihre Verbindungen zu den Hubschrauberleuten noch einmal aktivieren. Wir hatten in der Nacht einen fürchterlichen Sturm. Ein Teil unserer Einrichtung ist havariert. Das meiste konnten wir wieder richten, aber es fehlen uns jetzt zwei Kilometer Glasfaserkabel. Die stehen in Frankfurt an der Oder. Den genauen Standort und einen möglichen Landeplatz erfahren wir in Kürze. Uns wäre es aber lieb, wenn der Heli schon in der Luft wäre, wenn wir die genauen Koordinaten durchgeben.“

„Junge, Junge. Sie verlangen ziemlich viel von mir. Der erste Einsatz hat mich schon ein Fass Bier und einen Grillabend gekostet, das habe ich noch gar nicht eingelöst – und nun soll ich schon wieder um einen Spezialeinsatz betteln? Wäre ja nicht so schlimm, wenn es nicht völlig illegal, vorschriftswidrig und in keiner Weise gendergerecht wäre.“

Beide lachten schallend, dann kam das erlösende Wort von Oberstleutnant Rückert: OK. Ich kümmere mich. Rückmeldung von mir, sobald ein Heli Richtung Frankfurt unterwegs ist, Rückmeldung von Ihnen, sobald Sie den Landeplatz kennen.“

Kevin spielte den Entrüsteten. „Nun haben Sie mich ja doch wieder nicht mit dem Oberstleutnant sprechen lassen.“

„Ich finde, was Sie seit gestern Nacht am Telefon geleistet haben, war genug. Sie haben eine Pause verdient.“

„Aber nicht, bevor wir die Rückmeldungen haben. Dann lege ich mich flach und stehe vor morgen Mittag nicht wieder auf.“

„Werden wir sehen. Werden wir alles sehen“, sagte Fritz.

Zehn Minuten später erhielt Kevin die Meldung des möglichen Landeplatzes. „Direkt am Bahnhof, der Sportplatz an der Markendorfer Straße, da wird das Kabel jetzt hingebracht.“

Oberstleutnant Rückert notierte die Angabe, hatte aber leider keine guten Nachrichten. „Der Chef des Lufttransportregiments ist nicht aufzutreiben. Ohne den geht aber gar nichts. Ich bleibe dran und melde mich, sobald ich ihn erreicht habe.“

Eine weitere halbe Stunde verging. Dann hörte Karl-Friedrich von Henningsberg endlich die gute Nachricht: „Oberst Fennrich erreicht. Er wird alles in die Wege leiten, baldmöglichst einen Heli in die Luft zu bekommen.“

 

„Wachen Sie auf, Hauptmann Scheuer! Einsatz!“

„Oberst Fennrich, ich habe frei. Was wollen Sie von mir?“

„Spezialeinsatz. Sie müssen fliegen. Sofort.“

„Ich hab ein bisschen einen schweren Kopf, Oberst. War’n ziemlich feuchter Abend, gestern. Ich kann beim besten Willen nicht!“

„Reißen Sie sich zusammen, Mann. Geht nicht, gibt’s nicht. Es geht um alles. Los, raus, unter die kalte Dusche und dann rein in die Montur. Ihr Co ist schon dabei, die Maschine startklar zu machen.“

„Auf Ihre Verantwortung, Oberst.“

Inzwischen zeigte die Uhr viertel vor vier. Als Hauptmann Scheuer aus der Dusche kam, war es vier. Als er endlich vor dem Heli stand, dessen Rotor schon im Leerlauf drehte, war es halb fünf.

„Na, dann wollen wir mal“, rief Hauptmann Scheuer seinem Co zu und hob den NH90 sanft wie eine Feder in die Luft. „Wo soll’s denn überhaupt hingehen, Leutnant Bär?“

„Frankfurt Oder. Geschätzte Flugzeit 1:20“

Kurz vor sechs betrachtete Hauptmann Scheuer den vorgegebenen Landeplatz aus der Luft. Dann rief er über Funk Oberst Fennrich. „Ich kann da nicht runter. Der Platz mag zwar für eine UH 10 ausreichen, aber nicht für meine Kiste. Viel zu viele Bäume.  Ich drehte eine Warteschleife und bitte um neue Koordinaten.“

Mehrere Telefonate hin und her folgten. Dann endlich die Nachricht: Wir schaffen das Kabel jetzt zum Gronenfelder Weg. Da müsste genug Platz sein. Wir brauchen eine halbe Stunde. Bis dann.“

Um sechs Uhr dreißig landete der Hubschrauber im Acker neben dem Gronenfelder Weg. Eine Viertelstunde später war die Ladung an Bord.

„Und, wohin damit, Bär?“

„Thüringen, in der Gegend von Suhl. Genau da, wo wir vorgestern unterwegs waren.“

„Und wie sollen wir die Ladung da runterbringen? Vorgestern hatten wir alles außenbords an der Winde. Kein Problem. Heute haben wir die Kabeltrommel im Frachtraum. Haben Sie eine Vorstellung, wie wir die absetzen sollen? Am Fallschirm rauswerfen ist wohl nicht vorgesehen.“

Es folgten erneut lange Telefonate. Endlich war ein Landeplatz in der Nähe der dritten Antenne ausgemacht, von wo aus man die Leitung nach oben zur Feuerstellung ziehen wollte.

Um acht Uhr erfolgte die Absetzung der Ladung. Hauptmann Scheuer und Leutnant Bär verabschiedeten sich und flogen Richtung Faßberg davon. Der LKW, der die Kabeltrommel übernommen hatte, musste allerdings auf schlecht befestigten Waldwirtschaftswegen einen großen Umweg fahren, um auf fünfzig Meter an die Antenne heranzukommen. Sechs Männer mühten sich ab, die Trommel über die letzten Meter zur Antenne zu schaffen.

Kurz vor neun gelang es, das Kabel an die Antenne anzuschließen. Die schwere, unförmigen Trommel durch Unterholz und Wald nach oben zu bugsieren, wo man dringend auf den Anschluss wartete, war nicht einfach. Kurz vor zehn verlor die Mannschaft die Kontrolle über die Trommel, die etliche Meter nach unten rauschte und erst am Stamm einer siebzigjährigen Tanne zu Stehen kam.

„Wo bleibt ihr denn, verdammt noch mal?“

„Noch eine halbe Stunde, höchstens, dann sind wir oben.“

Inzwischen lauschten die beiden funktionsfähigen Antennen in den Himmel. Nichts. Gottseidank noch nichts.

Eine weitere Panne, bei der einer der Männer des Transportkommandos schwer verletzt wurde, kam dazwischen. Den Kameraden zu retten, ihn nach oben zum Camp zu schaffen, hatte Vorrang.

Das Signal blieb weiterhin aus.

Erst nachdem sich das berechnete Zeitfenster um fünfzehn Uhr geschlossen hatte, konnte Frank Meißner endlich den Kontakt zwischen Antenne und Feuerleitrechner herstellen. Funktionstest? Wozu noch. Es war vorbei. Sie hatten ihre Chance verpasst.

Um fünfzehn Uhr sieben bewegte sich die Abschusseinrichtung. Einen Augenblick später zog der Laserstrahl eine ionisierende Spur durch die Atmosphäre.

Der Satellit wurde glatt durchbohrt – und ein letztes Mal aus seiner Bahn geworfen.

Der Jubel der Männer im Thüringer Wald war gedämpft. Das System hatte gefeuert. Ob es auch getroffen hatte, war mit den verfügbaren Mitteln nicht feststellbar.

Harald, der die ganze Zeit an den Vorbereitungen zum Abschuss mitgewirkt hatte, verkündete, den Blick auf Fritz gerichtet: „Typischer Bayerndusel. Siegtor in der Nachspielzeit.“

Die Mannschaft war zu erschöpft, um darüber herzhaft lachen zu können. Der Spruch aber blieb in den Köpfen.

 

Irgendwo auf der Welt wurde ein Bildschirm schwarz. Wo soeben noch die Status- und Maintenance-Daten eines Satelliten in übersichtlichen grafischen Darstellungen zu sehen waren, war nichts mehr. Der Ingenieur, der durch einen akustischen Alarm auf den Ausfall aufmerksam gemacht worden war, versuchte es mit einem Restart seines Systems. Der gelang einwandfrei – nur der Kontakt zu dem Satelliten konnte auch jetzt nicht hergestellt werden. Schließlich setzte er über die Notfrequenz den Befehl zum kompletten Reset des Bordcomputers ab. Es gab keine erkennbare Reaktion.

Nach ein paar Minuten gespannten Abwartens und ergebnislosen Nachdenkens griff er zum Telefon. „Wir haben Nummer drei verloren. Definitiv.“

 

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.