München
Mittwoch, 15. Februar 2023

 

Der Nachmittag am Ammersee war in intensiver Arbeit wie im Flug vergangen. Im Zentrum stand die künftige Organisation der Zusammenarbeit und die Bildung zweckmäßiger, themenzentrierter Arbeitsgruppen. So fanden sich quer über die beiden bis dahin getrennt marschierenden Gruppen hinweg schnell die richtigen Interessen und Fähigkeiten zusammen. Es wurde insgesamt als vordringlich erachtet, herauszufinden, von wem die Attacke auf Deutschland vorgetragen wurde. Hier bildete Major Wendler den Kern einer Projektgruppe.

Möglichst alles über die benutzten Satelliten herauszufinden, vom herstellenden Unternehmen über den ehemaligen Betreiber bis zu den an der Entwicklung und am Bau beteiligten Ingenieuren und Softwarespezialisten, war die Aufgabe einer Gruppe um den deutsch-kanadischen Selfmade Millionär, dessen Kontakte in die Hightech-Industrie der USA ihn prädestinierten, diese Gruppe anzuführen.

Natürlich war Fritz derjenige, dem der Auftrag zufiel, weiter über die Eigenschaften von D-minor zu forschen, sowohl was den Prozess seiner Bildung in körpereigenen Zellen betraf, als auch was Möglichkeiten einer medikamentösen oder anders gearteten Therapie anging.

Oberleutnant Korn und Oberst Rückert würden sich die „Fußtruppen“ des Konservativen Mittelstands vornehmen, das Potential erkunden und Vorbereitungen für taktische Einsätze dieser Frauen und Männer treffen.

Als es darum ging, die Frage der Öffentlichkeitsarbeit zu besprechen, hatte Bernd Brenner die zündende Idee. Es sollte etwas geschaffen werden, nach dem Vorbild von Q-Annon in den USA, allerdings perfekter, mit vollständig zutreffenden Voraussagen, aber ebenfalls vollkommen unaufspürbar für jeden, der versuchen sollte, den Ursprung der Informationen herauszufinden. Der IT-Mann aus dem MAD gesellte sich zu dieser Truppe, um die notwendige Infrastruktur zu schaffen, und Brenner meinte, es würde ihm gelingen, einen Journalisten mit der flotten Schreibe des Boulevards für die Aufgabe zu gewinnen, den jeweiligen Verlautbarungen die richtige stilistische Verpackung zu verpassen.

Als sie am Abend das Ausflugslokal am Ammersee verließen, hatte der Wind auf Süd gedreht und brachte einen sonderbaren süßlichen Geruch mit sich.

Harald war es, der aufklärte. „Was Sie jetzt riechen, ist der Gestank von ungefähr vierhunderttausend Leichen, deren Verwesung in diesen Tagen mit der Schneeschmelze eingesetzt hat. Ist zwar nicht originär unser Problem, aber, solange es so zum Himmel stinkt, wäre das doch ein schöner Aufhänger für eine erste öffentliche Verlautbarung.“

„So schnell steht das System aber nicht zur Verfügung. Ich brauche mindestens zwei Wochen“, warf der IT-Mann ein. Doch Bernd erwiderte: „Das ist eine Spitzenidee, Harald. Darüber wird die Presse noch in dieser Woche berichten. Ich weiß schon, wie ich das anstelle.“

Zwei Tage später saß er mit Jonas Schmölz zusammen. Nicht mehr im abhörsicheren Büro bei den Stadtwerken, sondern in seiner privaten Dachterrassenwohnung an der Isar, nur ein paar hundert Meter vom Münchner Tiergarten entfernt.

„Oh, der Herr Nicht-mehr-Stadtwerke-Chef erinnert sich an mich. Ich dachte schon, Sie hätten meine Bereitschaft, mitzuhelfen, bei der Rettung der Welt inzwischen vergessen“, begrüßte Jonas Schmölz seinen Gesprächspartner am Telefon.

„Alles zu seiner Zeit“, erwiderte Brenner, „jetzt habe ich eine Aufgabe für Sie, von der ich annehme, dass Sie sie einfach nicht ablehnen können werden. Haben Sie morgen Nachmittag Zeit?“

Schmölz hatte Zeit und tauchte, beinahe pünktlich, gegen vierzehn Uhr bei Brenner auf. Das Wetter spielte an diesem Tag Vorfrühling, das Thermometer stieg auf neunzehn Grad im Schatten – und in der Sonne wären Shorts und T-Shirts schon die richtige Bekleidung gewesen.

„Eine Spitzenlage haben Sie da erwischt“, lobte Jonas Schmölz die Wohnung, „und dann auch noch mit Dachterrasse und Blick auf die Alpen. Ich sollte Sie einen verdammten Kapitalisten schimpfen und den Rückzug antreten“, sagte er mit einem unverschämten Grinsen.

Sie saßen an einem Einzelstück von Couchtisch, eine Komposition aus Glas und Mooreiche, und genossen das Panorama, das sich hinter den raumhohen Glasscheiben darbot.

„Einen Drink?“, fragte Bernd, doch Jonas Schmölz lehnte ab. „Ich bin seit vier Jahren trocken. Es ist immer noch schwer. Fragen Sie nicht weiter, ich habe die Erinnerung an diese Zeit vergraben und verdrängt.“

„Ich hätte auch Cola, Wasser, Kaffee …“, doch Jonas lehnte weiterhin ab. Er wollte sich nicht einlullen lassen, wie seinerzeit, als Brenner ihn überrumpelt hatte, sich auf eine Verschwörung einzulassen, ohne zu wissen mit wem er es zu tun hatte und worum es eigentlich ging.

„Sie haben mir, wenn ich Sie richtig verstanden habe, am Telefon einen Job angeboten?“, wandte er sich an seinen Gastgeber.

„Richtig“, meinte Bernd Brenner, und fuhr fort, „der Job steht allerdings im Ruch der Illegalität. Ich weiß nicht, wie weit Sie bereit sind, zu gehen. Vor einem Vierteljahr, als ich Ihnen sehr viel über mich und meine Motivation erzählt habe, sagten Sie spontan ja, als ich Sie fragte, ob Sie bereit wären, an der Rettung des Planeten mitzuwirken. Heute frage ich Sie, wieviel Mut bringen Sie mit, Herr Schmölz, sich gegen das System zu stellen und dabei Ihren Job zu verlieren, so wie ich meinen verloren habe?“

„Meinem Job weine ich keine Träne nach. Für die Hälfte des Geldes würde ich jeden anderen annehmen, vorausgesetzt, ich hätte die Freiheit, das zu schreiben, was mir wichtig ist, und es so zu schreiben, wie ich es darstellen will.“

„Das ist schon einmal eine gute Voraussetzung“, antwortete Bernd, „es gibt allerdings womöglich ein Problem. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie innerhalb von vier Wochen die meistgelesene Kolumne Deutschlands mit Ihren Texten beschicken. Der Haken daran: Sie bleiben anonym. Niemand wird wissen, von wem die Texte stammen. Texte, wie vom Star-Astrologen, dessen Vorhersagen innerhalb kürzester Zeit Punkt für Punkt erfüllen werden.“

„Ich verstehe nicht. Sie wollen mich, aber ich darf nicht in Erscheinung treten? Wo soll ich schreiben? Wer sitzt in der Redaktion? Wer steckt die Lorbeeren ein? Ich will ja nicht gleich vom Pulitzer Preis sprechen – aber das Angebot kommt mir doch ein bisschen fragwürdig vor.“

Bernd lehnte sich weit zurück, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, und forderte Jonas Schmölz auf, einen Blick durch das Fenster zu werfen, auf dieses erhabene Panorama, auf dieses wunderbare Land.

„Ja. Es ist schön. Es ist faszinierend, sogar inspirierend. Ich sagte ja schon, dass ich Sie um diesen Ausblick beneide.“

„Es ist aber nur ein Ausblick“, entgegnete Bernd. Die Realität ist nicht in diesem Raum, sondern dort, wo Ihr Blick hinfällt. Und wer dort hingeht, und sich umsieht, stellt fest, dass die Menschen, viele von ihnen jedenfalls, dies einfach nicht mehr wahrnehmen, weder die Schönheit, noch den Wert, den diese Landschaft, dieses ganze Land für jene hat, die es bewohnen, die es besitzen, deren angestammtes Erbe es ist. Sie kommen viel herum. Sie wissen, dass dieses ganze Land unter Dummheit, Desinteresse, ja völliger Apathie leidet, dass jeder sein Schicksal nimmt, wie es kommt, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dass er sein Leben, sein Schicksal, selbst gestalten und beeinflussen könnte. Wie ist es? Bekommen Sie noch Leserbriefe auf Ihre Artikel? Ich vermute nein. Die Verkaufszahlen der Zeitungen sind geschrumpft, das Interesse an Gedrucktem ist gering. Das liegt aber nicht an Ihnen, Herr Schmölz. Es liegt daran, dass die Leser krank gemacht wurden.“

„Wie das denn?“

„Das darf ich Ihnen noch nicht erklären. Wenn Sie Ihre Bereitschaft gezeigt haben, ernsthaft für eine wichtige und gute Sache mitzuarbeiten, erfahren Sie es. Aber jetzt will ich nicht länger um den heißen Brei herumreden. Sie haben von Q-Annon gehört?“

Schmölz nickte.

„Also. Wir haben uns diesen Q zum Vorbild genommen. Er lässt, mal mehr, mal weniger kryptisch Informationen in die Welt, die erst zu Spekulationen führen, um dann irgendwann später als erfüllte Prophezeiungen wahrgenommen werden. Unser Q – und das sollen Sie sein – wird auf einer Website, die unaufspürbar sein wird, in relativ schneller Folge wichtige politische und wirtschaftliche Ereignisse vorhersagen, die dann auch tatsächlich exakt so eintreten werden. Sie bekommen die nackten Informationen und schreiben in Ihrem herrlichen Stil, teils ironisch, teils zynisch, immer auf die Schlusspointe hinarbeitend, einen spannenden, leicht lesbaren Text drumherum. Wir werden alles dafür tun, diese Seite schnell bekannt zu machen. Sie erhalten von uns ein Fixum, sagen wir 4.000 Euro – und je nach Resonanz auf Ihre Texte – ermittelt nach Klicks und Verweilzeiten – zusätzliche Boni.“

„Das klingt gut. Sehr gut. Ich zeige, wie Sie es formuliert haben, Bereitschaft.“

„Das wäre ein bisschen zu einfach“, bremste Brenner. „Bereitschaft zeigen ist mehr als sie zu erklären. Ich habe einen ersten Job für Sie. Kommen Sie kurz mit hinaus auf die Terrasse. Und jetzt halten Sie kurz die Nase in die Luft. Riechen Sie das?“

„Ja. Schon komisch. Liegt jetzt schon ein paar Tage in der Luft. Sie wissen, wo das herkommt?“

„Kommen Sie schnell wieder mit herein und machen Sie die Terrassentür hinter sich zu. Was da in der Luft liegt, das ist der Gestank von einigen hunderttausend Leichen, die auf den Anhöhen der Voralpen herumliegen. Freie Siedler. Anfang Dezember vom Schnee eingeschlossen und anschließend erfroren. Die fangen jetzt an aufzutauen. Ich habe hier ein Dossier für Sie, in dem alles Wichtige zusammengefasst ist. Es handelt sich um katastrophales Regierungsversagen – und um den verheerenden Einfluss des Propheten Sven Groot. Es ist auch ein gruseliges Foto dabei. Ganz frisch von der Drohne. Ein Wolfsrudel macht sich gierig über menschliche Kadaver her, die allmählich aus dem wegtauenden Schnee auftauchen.

Sie haben Ihre Bereitschaft nachweislich dann gezeigt, wenn morgen, unter der Headline „Es stinkt zum Himmel“ ein ausführlicher, zynisch-sarkastischer Bericht darüber in der TZ auf Seite eins erschienen sein wird.“

„Aber das ist unmöglich. Die Seite eins kommt von der Zentralredaktion. Wir haben da nur zwanzig Zeilen, einspaltig, für Lokales beizusteuern.“

„Ich bin überzeugt, Sie schaffen das. Es gehört ein bisschen Mut und Frechheit dazu, auch ein Quäntchen Glück, zugegeben. Aber wo ein Wille, da ist gewöhnlich auch ein Weg. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie gestalten damit Ihre Eintrittskarte in ein neues, spannendes Leben. Zumal Sie spätestens morgen Mittag im hohen Bogen aus der TZ hinausgeflogen sein werden.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Ich denke, wir sind hier fertig – und ich habe den Eindruck, ich habe viel zu tun. Danke für das Gespräch und das Angebot. Ich darf mich jetzt verabschieden.“

„Der hat angebissen“, dachte Bernd Brenner, als sein Gast gegangen war. „Der hat echt angebissen. Einen Besen fress‘ ich, wenn die TZ morgen nicht genauso aussieht, wie das geplant war.“

Das Gespräch mit Schmölz hatte keine Stunde in Anspruch genommen. Brenner war wieder alleine. Früher hatte er es genossen, nach einem langen, anstrengenden Tag im Büro alleine zuhause zu sein, den Tag relaxed ausklingen zu lassen, ohne noch auf irgendjemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Doch schon in den fürchterlichen Tagen des Winters war ihm seine Einsamkeit immer wieder schmerzhaft bewusst geworden. Jetzt war noch etwas Neues hinzugekommen. Er hatte eine neue Aufgabe übernommen, doch es würde unmöglich, alles was er sich vorgenommen hatte, um einen öffentlichen Aufklärungsfeldzug zu führen, auch umzusetzen. Er brauchte dringend ein Team zuverlässiger Leute. Mitarbeiter, die schnell kapierten worum es ging und ohne ausführliche Anweisungen zu brauchen, schnell das lieferten, was er brauchte. Wehmütig dachte er an seinen alten Job bei den Stadtwerken zurück. Es war nicht mehr als eine Handvoll enger Mitarbeiter nötig gewesen, um ihn täglich über das aktuelle Geschehen ins Bild – und seine Entscheidungen schnell und zuverlässig umzusetzen. Die hatten mit ihm, gegen den Widerstand jener, die sich hinter Vorschriften verschanzen und jede Veränderung mit bürokratischen Hindernissen zu sabotieren versuchten, die Stadtwerke erfolgreich funktionsfähig gehalten. Brenner gestand sich zum ersten Male das wirklich ein, was er oft genug bei Jubiläums- und Weihnachtsfeiern als bloße Worthülse in seine Reden eingebunden hatte:

„Ohne Sie, meine Mitarbeiter, wäre ich nichts.“

Er hatte schon ein paarmal daran gedacht, Elke Seyfarth anzurufen. Jetzt überlegte er ernsthaft, ob die charmante, gepflegte Mittdreißigerin bereit sein würde, ihren gutbezahlten und sicheren Job bei den Stadtwerken aufzugeben und gegen eine zwar hochinteressante, aber in jeder Hinsicht unsichere Aufgabe im Widerstand einzutauschen. Wie sollte er seine Frage formulieren, um nichts zu verraten, was sie nicht wissen dürfte, sollte sie nein sagen, und was musste er preisgeben, um ihr Interesse zu wecken, ihr die Sicherheit zu geben, sich für die richtige Seite zu entscheiden?

„Grübeln hilft nicht weiter“, stellte er fest. „Ich ruf‘ Elke jetzt einfach an. Alles Weitere ergibt sich.“

Bei diesem Gedanken wurde ihm ein bisschen warm um’s Herz. Er freute sich, darauf, Elke wieder zu sehen. Er hoffte, sie würde ja sagen. Als Chef hatte er eisern an dem Grundsatz festgehalten: Keine enge Beziehung zu Mitarbeitern! Das war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihm erst jetzt klar geworden war, dass er sich eine engere Beziehung zu Elke nicht nur sehr gut vorstellen konnte, sondern dass etwas in ihm schon damit beschäftigt war, zügig darauf hin zu arbeiten. Ihm fiel wieder ein, wie gut es getan hatte, als sie ihm zum Abschied zum ersten Mal überhaupt „Bernd“ genannt und ihm einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte.

Ehe er sich darüber wirklich klar geworden war, hatte er ihre alte Nummer bei den Stadtwerken gewählt.

„Ines Koch, guten Tag. Was kann ich für sie tun?“

Den Namen hatte Bernd noch nie gehört, es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete: „Ich möchte gerne Frau Seyfarth sprechen. Das ist doch die richtige Nummer, oder?“

„Tut mir leid. Frau Seyfarth arbeitet nicht mehr hier. Sie hat eine neue Aufgabe in der Buchhaltung. Durchwahl 4838.“ Damit hatte die freundliche Frau Koch aufgelegt.

Bernd korrigierte den Eintrag im Adressbuch seines Handys und wählte die neue Nummer. Eine Computerstimme fragte ihn, ob er Fragen zu den aktuellen Tarifen, zu einer Rechnung oder zum Anbieterwechsel habe. Er sagte „Rechnung“.

„Vielen Dank“, sagte der Computer. „Alle unsere Mitarbeiter befinden sich im Gespräch. Die wahrscheinliche Wartezeit beträgt vier Minuten. Bitte warten Sie.“

Bernd stellte sein Telefon auf Lautsprecher und legte es vor sich auf den Tisch. Der Computer meldete sich wieder: „Der nächste Gesprächspartner ist in Kürze für Sie verfügbar. Aus Gründen der Serviceoptimierung würden wir dieses Gespräch gerne aufzeichnen. Sagen Sie bitte ja, wenn Sie damit einverstanden sind, oder nein, wenn Sie das nicht erlauben wollen.“

Bernd sagte nein. Der Computer erklärte ihm, dass das Gespräch nicht aufgezeichnet werden würde, und bat erneut um Geduld.

„Stadtwerke München, Hillmann, bitte nennen Sie Ihre Kundennummer.“

Bernd versuchte ruhig und höflich zu bleiben. „Entschuldigen Sie, Herr Hillmann, ich brauche keine Auskunft zu einer Rechnung. Mir wurde gesagt, dass ich unter dieser Nummer Frau Elke Seyfarth erreichen könnte. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir weiterhelfen könnten.“

„Frau Seyfarth ist im Kundengespräch. Da kann ich leider nicht unterbrechen.“

„Können Sie ihr wenigstens eine Nachricht hinterlassen?“

Hillmann notierte: „Anruf 15.35 Uhr. Frau Seyfarth, dringend B.B. am Handy anrufen“, stand auf, ging die paar Meter zu Elkes Box im Call Center und pappte den Post-It Zettel an ihren Bildschirm.

Kurz vor vier läutete Bernds Handy. Sie war es. Ja, sie würde ihn gerne treffen. Gleich nach Dienstschluss, gegen 17.00 Uhr würde sie sich auf den Weg machen. Elke notierte die Adresse, sagte: „Ich freu mich sehr, bis gleich!“, und legte auf.

 

Es war kurz nach sechs und draußen schon wieder dunkel, als Bernd Elkes Gesicht am Bildschirm der Haustelefonanlage erblickte. „Kommen Sie!“, sagte er und drückte den Knopf für den Türöffner.

Kurz darauf stand sie vor ihm. Die leicht zerzauste Frisur stand ihr gut. Sie spürte seinen Blick, sagte: „Der Fahrtwind. Ohne Fahrrad ist ja kein Durchkommen mehr“, und griff sich mit beiden Händen ins Haar, um die Frisur ein bisschen zu ordnen.

„Kommen Sie, nehmen Sie Platz, Frau Seyfarth, was darf ich Ihnen anbieten? Vielleicht ein Schlückchen Prosecco zur Wiedersehensfeier?“

„Bitte, ich will nicht unverschämt erscheinen, aber ich bin seit dem Frühstück nicht mehr zum Essen gekommen. Darf ich um ein Stückchen Brot oder ein paar Kekse bitten, irgendwas, was Sie gerade dahaben. Meine Magennerven spielen schon verrückt.“

„Das ist ja furchtbar. Wo gibt’s denn sowas? Kommen Sie mit in die Küche, wollen mal sehen, was der Kühlschrank noch hergibt. Ich kann auch was Festes zwischen den Zähnen vertragen.“

Auf dem Weg in die Küche musterte Elke, die bisher nur Augen für Bernd gehabt hatte, die Einrichtung. „Alles sehr schön“, dachte sie, „aber alles auch so kalt, irgendwie wie gar nicht bewohnt. Selbst der Schauraum im Möbelhaus wirkt lebendiger.“

Kurz darauf standen sie gemeinsam am Herd und produzierten vier Spiegeleier. Toastbrot dazu, ein bisschen Butter. Sie aßen stehend an einer Art Tresen, den die Innenarchitektin mitten in die Küche gesetzt hatte.

„Jetzt könnte ich noch einen Kaffee gut gebrauchen. Mein Gott, ich führe ich mich auf, als wäre ich hier zuhause, dabei hatten Sie mich nur zu einer Besprechung gebeten.“

Mit den Tassen in der Hand zogen sie wieder ins Wohnzimmer. Elke setzte sich auf die Couch, den Blick auf die Panoramafenster, hinter denen die Lichter Münchens schimmerten. Bernd setzte sich neben sie. „Ein schöner Ausblick, nicht wahr?“, sagte er, „aber ein täuschender Anblick. Es ist so viel kaputt, da unten. Aber erzählen Sie, Frau Seyfarth, wie geht es Ihnen?“

„Ich bin ganz bestimmt nicht wehleidig, Herr Brenner, das wissen Sie, aber es geht mir nicht gut. Eine Woche nachdem Sie weg waren wurde ich ins Call Center versetzt. Eine Art Legehennenbatterie. Von früh bis spät die gleichen Anrufe, nur wechselnde Namen, wechselnde Kunden- oder Zählernummern, und immer wieder die gleichen vorgeschriebenen Antworten. Bei Ihnen, da hatte ich eine Aufgabe, Verantwortung, Spaß, Erfolgserlebnisse – jetzt ist da nur noch einförmige Arbeit, Zeitdruck, denn man muss ja sein Soll erfüllen, und die ständige Überwachung, auch über die Aufzeichnung der Telefonate. Sie haben mir angeboten, entweder bei unverändertem Gehalt diese Stelle anzunehmen oder mir die betriebsbedingte Kündigung auszusprechen. Ohne Abfindung, wenn ich das großzügige Angebot – diese Heuchler! – ausschlagen sollte.“

Das leichte Zucken ihrer Schultern ließ Bernd ahnen, dass seine ehemalige Sekretärin dabei war, in Tränen auszubrechen. Es war nur der Beschützerinstinkt, als Bernd ihr den Arm um die Schulter legte, und es war die lange ungestillte Sehnsucht nach Verständnis und Nähe, die Elke dazu brachte, ihren Kopf an Bernds Brust zu schmiegen und nun wirklich in Tränen auszubrechen. Halb Tränen der Verzweiflung, halb Tränen des Glücks. Die plötzlich greifbar scheinende Chance, dem Terror des Call Centers entfliehen zu können, das Gefühl der Geborgenheit an der Brust ihres ehemaligen Chefs, den sie immer bewundert hatte und für den sie immer bereit war, durch dick und dünn zu gehen, ließ sie in einem emotionalen Chaos versinken.

Bernd ließ alles geschehen. Fühlte sich wohl in der Beschützer-Rolle und wartete geduldig ab, bis Elke innerlich und äußerlich wieder zur Ruhe kam.

„Wo kann ich mich ein bisschen frisch machen?“, fragte sie, nachdem sie sich behutsam aus seinem Arm gelöst hatte.

Elke verschwand im Bad und hatte sich nach ein paar Minuten wieder soweit restauriert, dass sie glaubte, Bernd nach der gezeigten Schwäche wieder davon überzeugen zu können, doch mehr zu sein als ein erbärmliches Häuflein Elend. Nur dem wässrigen Glanz ihrer Augen war noch anzusehen, dass sie gerade eben noch schluchzend nach Halt gesucht hatte.

Als sie zurückkam stand Bernd auf, ging ihr entgegen und meinte: „Ich würde jetzt doch gerne einen Schluck Prosecco mit Ihnen trinken. Auf unser Wiedersehen – und vielleicht auf eine neue gemeinsame Zukunft.“

 

Bernd Brenner stellte bald fest, dass er, wenn er Elke für die Mitarbeit gewinnen konnte, nicht viel verheimlichen konnte. Sie stellte intelligente Zwischenfragen, denen er nicht ausweichen konnte, bis er endlich sagte: „Sie merken offenbar, dass ich verzweifelt versuche, ein Geheimnis zu wahren. Ich merke, dass ich mich dabei ziemlich dumm anstelle und damit eher mehr Vertrauen zerstöre als aufbaue. Was soll’s! Wir haben jahrelang eng zusammengearbeitet. Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Also erzähle ich Ihnen jetzt die ganze Geschichte.

Elke lauschte den Ausführungen aufmerksam und gespannt. Es dauerte nicht lange, und Brenner vergaß im Eifer ganz das „Sie“ und sprach Elke immer öfter mit „Du“ an – entschuldigte sich dann aber immer wieder, schob ein „Sie“ nach, bis es Elke zu dumm wurde. „Ich bin Elke, Bernd. Lass die „Frau Seyfarth“ einfach weg. Auf du und du!“

Bernd füllte die Gläser nach, sie stießen an, aufs du, und als Bernd sich wieder abwenden wollte, sagte Elke sehr bestimmt: „Mein lieber Bernd. Da fehlt noch was. Um den Kuss kommst du mir nicht herum.“

Dem ersten Kuss, noch mit rituell ineinander verschränkten Armen folgte, nachdem sie die Gläser abgestellt hatten, ein zweiter, in einer wilden, begehrenden Umarmung. Als sie kurz voneinander abließen, schon alleine um wieder Luft holen zu können, war es erneut Elke, die die Initiative ergriff.

„Ich schwöre dir hiermit feierlich, lieber Bernd, dass ich bei eurer Sache mit vollem Herzen mitmachen werde, und ich versichere dir, dass ich heute nicht mehr in der Lage und schon gar nicht in der Stimmung bin, noch nach Hause zu fahren. Zeig mir dein Schlafzimmer.“ Als Bernd sie hochhob, um sie wie eine Braut über die Schwelle zu tragen, flüsterte sie noch: „Du weißt gar nicht, wie lange ich mich danach gesehnt habe.“

 

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.