Alm bei Grainau

Sonntag, 20. November 2022

 

 

Der dunkle SUV hielt in der Zugspitzstraße, in der Nähe des Restaurants „Bräuwastl“. Ein drahtiger junger Mann, allenfalls Ende zwanzig stieg aus und machte erst einmal ein paar Lockerungsübungen. Die lange Fahrt hatte ihn ziemlich steif gemacht. Jetzt genoss er die kalte frische Luft und die Möglichkeit sich endlich frei bewegen zu können.

Nach einer Weile öffnete er die mächtige Heckklappe seines Fahrzeugs, zog einen schwer wirkenden Rucksack heraus und schlüpfte in die Gurte. Er sah sich noch einmal um, war überzeugt, sein Fahrzeug an einer guten und sicheren Stelle zurückzulassen, betätigte die Zentralverriegelung und machte sich auf den Weg, Richtung Loisach. Bald konnte er die graubraunen Flecken zwischen den Waldrändern erkennen, die einmal Almwiesen gewesen waren. Immer wieder blieb er stehen, um sich die Landschaft einzuprägen. Er beschloss, die Hütten- und Zeltdörfer weiträumig zu umgehen und sich etwas oberhalb sein Biwak einzurichten. Der Weg war zwar insgesamt nicht mehr als drei Kilometer lang, doch weil er nahe der Dürerlaine abseits des Weges in Deckung des Waldes aufstieg und dann Ausschau nach einem geeigneten Platz hielt war er doch eine gute Stunde unterwegs gewesen, bis er da, wo er glaubte, einen geeigneten Platz gefunden zu haben, vor einer sehr kleinen, aber stabil wirkenden Hütte stand, aus deren Dach ein rauchendes Kaminrohr ragte.

„Hallo!“

„Komm rein, Tür ist offen.“

Harald folgte der Einladung. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sagte er zur Begrüßung: „Es wird schon verdammt früh dunkel.“

Der an einem roh gezimmerten Tisch sitzende Bewohner antwortete darauf: „Es ist November. Du wirst dich noch wundern. In ein paar Tagen liegt hier Schnee. Was führt dich um diese Jahreszeit hier herauf? Verspäteter Wanderurlaub?“

„So ähnlich. Kleiner Spaziergang in der Natur – und natürlich die Neugierde. Wollte Freie Siedler mal aus der Nähe betrachten. Soll da ja zugehen, wie im Tierpark.“

„Nun ja. Jetzt schon, nachdem die ganzen Verrückten an den Hang gezogen sind.“

„Du bis schon länger hier?“  

„Das wird jetzt mein dritter Winter. Ich bin sozusagen einer aus der ersten Generation. Wir haben damals noch auf die Natur geachtet – und vor allem einigermaßen stabil gebaut. Das lernst du beim Bund, wenn du in der richtigen Einheit bist. Ich war vier Jahre dabei. Mehr als Hauptgefreiter ist nicht dabei herausgesprungen. Also bin ich zurück ins Zivile. Hat aber auch nicht funktioniert, kein Job, Hartz IV. Ich habe meine Ersparnisse genommen und bin losgezogen – und dann hier gestrandet.  Du siehst übrigens auch so aus, als hättest du ein paar Jahre Dienst hinter dir – oder bist du noch dabei?“

Als keine Antwort kam, stellt er sich vor: „Ich bin übrigens Knud.“ Der Hüttenbewohner erhob sich dabei und trat auf seinen Besucher zu. Eine Weile musterte er ihn stumm. Dann platzte er heraus: „Ich kenne dich. Ich vergesse kein Gesicht. Wir waren zusammen in Mali. Ich als Küchenbulle – Knud mit der Schöpfkelle – habe euch verpflegt, wenn ihr im Camp untergekrochen seid.“

Harald zeigte sich ungerührt. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was auch immer er in den nächsten Tagen hier mit den Freien Siedlern anstellen würde: Knud würde prahlend zur Presse ziehen und seine Geschichte erzählen. Von dem KSK-Mann, der plötzlich hier aufgetaucht ist und dann die Freien Siedler vertrieben hat. Dieser Aussteiger war eine Gefahr für ihn selbst und seine Auftraggeber. Er musste ausgeschaltet werden.

Knud beendete das Studium der Gesichtszüge des Mali-Kämpfers, murmelte, mehr zu sich selbst: „Natürlich bist du das. Auch wenn du nicht gerade Wiedersehensfreude ausstrahlst. Ich habe noch nie ein Gesicht vergessen. Dabei wandte er sich um, ging drei Schritte zum bullernden Kanonenofen, öffnete die Ofentür und bückte sich nach einem Scheit Feuerholz.

Der Schlag kam unerwartet. Die eisenharte Handkante brach ihm mühelos das Genick. Im Fallen stieß Knud noch mit der Stirn gegen den eisernen Rahmen der Ofentür, doch davon spürte er schon nichts mehr.

Sein Gast warf einen abschätzigen Blick auf die verkrümmt am Boden liegende Leiche. Dann legte er selbst ein Stück Holz nach, schloss die Ofentür sorgfältig und begann damit, Knuds Habseligkeiten zu durchsuchen. Bald war er sicher, dass er mit dem, was Knud ihm hinterlassen hatte, in der Hütte, die Knud sich gebaut hatte, den kommenden Winter gut überstehen könnte. Aber so lange würde er gar nicht brauchen, um seinen Auftrag auszuführen. Er trat an die Türe, öffnete sie einen Spalt weit, und als er sicher war, dass niemand von denen, die sich fünfzig Meter weiter unten auf der Wiese drängten, in der Nähe war, trat er  noch einmal einen Schritt zurück, ergriff  Knuds Füße und zerrte die Leiche ins Freie. Zwanzig Meter hinter der Hütte ließ er sie im Unterholz liegen, ohne sich weiter Mühe zu geben, den Leichnam zu verbergen.

Harald war immun. Er hatte den Instinkt des Wolfes. Die Freien Siedler waren für ihn wie eine Herde Schafe. Von nun an sollte das seine Herde sein. Lange betrachtete er von seinem erhöhten Standort das Gewusel zwischen Zelten, Hütten und Lagerfeuern. Er hatte bei seinen Einsätzen schon so manchen Slum dieser Welt aus der Nähe gesehen. Dies hier erschien ihm schlimmer. Dies waren nicht Menschen, die aus materieller Armut aus dem Wenigen, was sie finden konnten, mit Fantasie und Geschick das Beste machten, was ihnen möglich war.

Dies hier war anders. Das Werk von Leuten, die nie im Leben etwas Nützliches vollbracht hatten. Eitle Schwätzer, die in den Tag hineinlebten und es als selbstverständlich hinnahmen, dass täglich die geländegängigen Lkws mit der Aufschrift „Free Society Support“ in großen Mengen Lebensmittel mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum anlieferten.

„Bernd hat schon recht“, dachte Harald, „man sollte sie wirklich in die Berge treiben.“

 

Bei Antonio – Wuppertal

Am gleichen Tag, fast zur gleichen Zeit

 Antonios Ristorante hatte – wie durch ein Wunder – den Umsatzausfall der ersten und der zweiten Welle der Corona-Pandemie überlebt. Anfangs wurde gemunkelt, er habe „Unterstützung“ aus Neapel erhalten, Geld, das er dann in wöchentlichen Raten zurückzuzahlen haben würde. Doch diese Gerüchte legten sich bald. Die Geschäfte gingen weiterhin schlecht, vor allem, weil er seine Lizenz nur behalten durfte, nachdem er die Zahl der Sitzplätze seines Restaurants von ursprünglich 80 auf nur noch 30 reduziert hatte. Abstandsregeln, so beschied man ihm, würden noch bestehen bleiben bis ein Impfstoff gefunden sei. Doch auch im dritten Jahr seit Ausbruch des Virus war von einem wirksamen Impfstoff – außer in vollmundigen Ankündigungen – immer noch nicht die Rede.

Antonio hatte daher sein Personal nicht halten können, die Speisekarte auf einige Pizzavarianten, Pasta und köstliche Antipasti eingedampft und betrieb das Geschäft nur noch mit seiner Frau Helena, die in der Küche stand, und Tochter Sophia, die sich um die Gäste kümmerte und außerdem als Mädchen für alles fungierte, vom Einkauf bis zur Steuererklärung.

Sonntagabends fanden sich hauptsächlich Familien aus der Nähe bei Antonio ein und ließen bei einer Pizza und einem Schoppen Lambrusco das Wochenende ausklingen. Auch heute waren die wenigen, nach Verkündung der Abstandsverordnung noch verbliebenen Tische besetzt, bis auf einen, ganz hinten, neben dem Durchgang zu den Toiletten.

Sie kamen zu fünft.

Zwei Frauen, drei Männer. Für einen Augenblick standen sie in der Tür und schauten sich um. Es wurde schnell ganz still im Lokal. Alle beugten sich über ihre Teller. Nur nicht auffallen. Die waren anders. Man erkannte sie schon an der Haltung, am freien Blick – und sie würden die Harmonie des Abends stören.

„Los, macht mal den Tisch frei. Ihr sitzt da hinten gut genug!“, forderte einer der Männer das Paar mit dem halbwüchsigen Kind auf, die am ersten Tisch, nahe am Tresen, dabei waren, ihre Pizzen zu verzehren.

Mit schuldbewusster Miene erhoben sich die drei und balancierten Teller, Besteck und Getränke ans andere Ende des Raumes, ließen sich dort nieder und wagten nicht, noch einmal aufzuschauen.

Das waren halt die anderen, jene die sich über Sven Groot und seine Anhänger lustig machten. Die Frau sah ihren Mann fragend an und flüsterte: „Ist das wirklich gut so, Jens?“, und Jens antwortete, ebenfalls ganz leise: „Groot sagt: Es sind Prüfungen. Das Universum sendet Aufgaben und Prüfungen. Bleibt ruhig, bleibt still, begehrt nicht auf. Dann schaffen wir miteinander das Paradies.“

Inzwischen hatten die fünf Neuankömmlinge am frei gewordenen Tisch Platz genommen und verlangten laut nach Bedienung, nach der Karte und nach einem frischen Tischtuch. Antonio versuchte sich hinter seinem Tresen möglichst unsichtbar zu machen, während Sophia Mut fasste, schnell das Tischtuch wechselte und fünf Speisekarten auf den Tisch legte. Dabei stieß sie fast mit dem stämmigen Mittvierziger vom Nachbartisch zusammen, der sich jetzt am Tisch der Fünf aufbaute, sich mit beiden Händen auf dem frischen Tischtuch abstützte, sich vorneigte und laut und mit viel Ärger in der Stimme erklärte: „Leute, das hier ist ein anständiges Lokal. Hier treffen sich anständige Leute. Und niemand hat das Recht, jemand der hier schon sitzt, von seinem Tisch zu vertreiben. Ihr seid hier nicht erwünscht. Raus! Sofort! Alle!“

Antonio huscht hinter seinem Tresen hervor, fiel dem Mann in den Arm und sagte: „Das kannst du doch nicht bringen. Was regst du dich so auf, Thomas?“, und zu den Gästen am Tisch gewandt, „bitte entschuldigen Sie, entschuldigen Sie vielmals. Ich hätte das verhindern müssen.“

„Du bist also Thomas?“, fragte der, der anfangs auch schon den Tischwechsel der Familie angeordnet hatte. „Das ist gut, Thomas. Wir haben dich gesucht, einen wie dich, haben wir gesucht – und gefunden. Setz dich zu uns, wir haben zu reden.“

„Ich bin ganz bestimmt nicht immer so, so aufbrausend. Im Grunde bin ich ein ganz umgänglicher Mensch. Es ärgert mich halt, wenn jemand grundlos gedemütigt wird. Ich glaube nicht, dass ihr wirklich mich gesucht habt.“

„Doch. Weil du so bist, wie du dich eben beschrieben hast, haben wir dich gefunden. Du bist nicht alleine hier. Setzt dich wieder an deinen Tisch, doch bevor du gehst, sprechen wir noch miteinander. Dauert auch nicht lange.“

Es war Thomas anzusehen, dass er gleich mehrfach überrascht worden war und noch nicht wusste, was er von der Sache halten sollte. Also ging er tatsächlich an seinen Platz zurück, wo er mit zwei Freunden bei einer Flasche Rotwein saß, doch innerlich war er sehr unruhig. Es machte ihn nervös, wenn er eine Situation nicht richtig einschätzen konnte. Es drängte ihn, eine Klärung herbeizuführen. Also ließ er seine Freunde wissen, dass er leider nicht länger bei ihnen sitzen könne. „Ich habe mit denen etwas zu bereden. Kann sein, dauert länger. Tut mir leid, aber ich sag schon mal ciao. Wir sehen uns nächste Woche wieder.“

„So, da bin ich“, sagte er als er sich den sechsten Stuhl an den Tisch der Fremden herangezogen hatte. „Was gibt’s? Worum geht’s?“

Wieder war es der Wortführer der Fünf, der das Gespräch begann: „Wie kommt es, dass du als Einziger hier im Raum den Mut aufgebracht hast, uns den Kopf zu waschen? Hattest du keine Angst, wir könnten dich verprügeln? Fünf gegen einen?“

„Ich bin schon immer so. Unrecht stört mich – und dann greife ich ein. Ein paar blaue Flecken hat mir das durchaus schon eingebracht. Jedenfalls früher, als es noch mehr von eurer Sorte gab. Jetzt sind die allermeisten ja friedlich, auf Harmonie bedacht …“

„Das hast du schön gesagt, Thomas. Wir wissen, dass auch du von unserer Sorte bist.“

„Na, na – da sehe ich doch noch große Unterschiede. So wie ihr würde ich mich nie aufführen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“

„Denk kurz nach, Thomas. Nur so finden wir die, die es von unserer Sorte noch gibt.

Provokation – keine Reaktion: Fehlanzeige.

Provokation – Reaktion: Treffer.

Es gibt viel zu besprechen, Thomas. Hier hast du eine Adresse. Komm am Dienstag um zwanzig Uhr dahin. Wir treffen uns mit allen, die wir in dieser Woche gefunden haben, ein Dutzend ungefähr, und dann erklären wir alles.“

Der ganze Auftritt hatte nicht länger als zehn Minuten gedauert. Die Speisekarten lagen noch ungeöffnet auf dem Tisch, und schon brachen sie wieder auf.

„Danke Antonio“, riefen sie dem Wirt noch zu, „war schön bei dir. Zum Essen kommen wir ein andermal wieder.“

Und fort waren sie.

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.