Berlin, Kanzleramt,
Krisenstab Garmisch

Samstag, 26. November 2022

 

„Ich fasse noch einmal zusammen, was wir bisher über die Lage in Garmisch-Partenkirchen in Erfahrung bringen konnten. Es ist nicht viel, denn die Kommunikationsverbindungen in den Ort sind seit heute Mittag unterbrochen. Auch der Mobilfunk ist tot, weil die Überleiteinrichtungen, also die Anlagen, welche den Kontakt zwischen den Funkmasten und dem leitungsgebundenen Netz herstellen, wie sich durch Ferndiagnose feststellen ließ, offenbar zerstört, vermutlich gesprengt wurden.

Seit den ersten Notrufen von Bürgern, die gegen 10.00 Uhr bei der Polizei in Garmisch eingingen und den ersten Lagemeldungen und Hilfsersuchen der dortigen Polizei, haben wir eigentlich nur eine gesicherte Erkenntnis: Ein Großteil der Freien Siedler, die sich auf den Almflächen oberhalb von Grainau aufgehalten haben, hat ihr dortiges Lager am Morgen verlassen, die Hüttensiedlung gezielt in Brand gesteckt und gegen 10.00 Uhr haben die ersten zu Fuß die Randbezirke von Garmisch erreicht. Nach den uns vorliegenden Meldungen ist das taktische Vorgehen der Freien Siedler so, dass sich kleine Gruppen, von zwei, drei Leuten, wo ihnen nicht freiwillig geöffnet wird, mit einfachstem Werkzeug Zutritt zu Häusern und Wohnungen verschaffen, die Bewohner einschüchtern und ihnen erzählen, es müssten Einquartierungen vorgenommen werden. Wir wissen, dass die Bevölkerung gewohnt ist, solchen Maßnahmen keinen Widerstand entgegenzusetzen, ganz im Sinne unseres guten Sven Groot. Insoweit sieht das alles vollkommen harmlos aus.

Es hat gestern geschneit in den Voralpen, die Freien Siedler haben vermutlich erkannt, dass sie den Winter da oben nicht überstehen werden, und haben sich auf den Weg gemacht. Was unsere Analysten stutzig macht, ist das geordnete Vorgehen, das in keiner Weise dem zu erwartenden Verhalten dieser hüttenbauenden Esoteriker entspricht. Es ist ja nicht nur das geordnete Eindringen in die Wohnhäuser. Gleichzeitig müssen einige – ich kann es nicht anders nennen – Kommandoabteilungen ausgerückt sein, die mit unglaublicher Effizienz die Kommunikationseinrichtungen lahmgelegt haben, und wie wir – gestützt auf Drohnenaufnahmen vom Nachmittag – vermuten, auch die Polizeistation und die Gemeindeverwaltung in ihre Hand bekommen haben.

Wir kommunizieren mit allen verfügbaren Quellen, haben jedoch bisher noch keinerlei Hinweise auf irgendwelche Hintermänner erhalten. Hier werden wir intensiv weiterarbeiten, bis wir klarer sehen. Es muss jedenfalls unter den Siedlern jemand geben, der strategisch denken und planen kann. Leider weiß niemand, wer sich da alles zusammengefunden hat. Es gibt ja nicht einmal Vermisstenanzeigen, geschweige denn offizielle Ab- oder Anmeldungen bei den Einwohnermeldeämtern. Nun ja. Es weiß seit sieben Jahren sowieso niemand mehr, wer alles im Lande ist. Unser neuer Normalzustand halt, der manchmal die Arbeit schwer macht.

Positiv festzuhalten ist: Es konnte bisher kein Gebrauch von Schusswaffen festgestellt werden. Das beweist einerseits, dass weder die Garmischer Bürger noch die Freien Siedler einen Anlass sahen, eventuelle Konflikte mit Waffengewalt auszutragen. Es beweist aber keinesfalls, dass es dort keine Schusswaffen und keine passende Munition gäbe. In Garmisch sind zwei Waffenhändler zugelassen. Über deren Lagerbestände konnten wir noch nichts herausfinden. Was es in den Privathäusern an legalen Jagd- und Sportwaffen gibt, wird zur Zeit ermittelt, was darüber hinaus an illegalen Waffen vorhanden sein könnte, kann nur grob abgeschätzt werden.

Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Versuch, die Stadt von Einheiten der Bundespolizei räumen zu lassen, auf massive Gegenwehr in einem fürchterlichen Kampf, Haus um Haus, Straße um Straße stoßen könnte. Das Hauptproblem ist jedoch noch ganz anderer Natur: Selbst, wenn wir den Garmischern helfen wollten, so weiß doch niemand genau, wie viele Freie Siedler sich bei Grainau aufgehalten haben. Von der halben Million, die insgesamt im deutschen Voralpenland vermutet werden, dürften dies immerhin einige Zehntausend gewesen sein. Im Augenblick sind die in Garmisch untergebracht. Wohin mit denen, wenn wir räumen sollten?“

 

„Vielen Dank, Herr Dr. Brielliger, für diesen Lagebericht. Nach meiner Einschätzung haben wir relativ viel Zeit, geeignete Maßnahmen zu planen. Oder haben Sie Anzeichen dafür, dass die Situation eskalieren könnte?“

„Nein, Herr Bundeskanzler, es sieht alles ruhig aus. Wenn Sie mir das Bonmot gestatten, Ihre Vorgängerin hätte das wahrscheinlich mit der Anmerkung quittiert: „Nun sind sie halt mal da“, und die Geschichte schlicht und einfach laufen lassen.“

„Das war zwar respektlos, mein lieber Brielllinger, aber zutreffend. Sollten sich wesentliche und bedrohliche Veränderungen der Lage ergeben, bitte ich unverzüglich um Information. Ansonsten verabschiede ich mich jetzt in ein hoffentlich ruhiges Wochenende. Vielen Dank, meine Damen und Herren, und ein erfolgreiches Weiterarbeiten im Krisenstab. Bis Montag dann.“

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.