Berlin, Siemensstadt
Donnerstag, 24. November 2022

 

Die Wachleute des Sicherheitsdienstes zogen sich schnell zurück, als die ersten Vermummten mit ihren schwarzen Hoodys am Zaun auftauchten. Die Erinnerung an ihren Kollegen, der sich diesen Leuten vor gut drei Monaten in den Weg stellte, war noch frisch. Bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen hatte man ihn am nächsten Tag tot aus dem Spreekanal gezogen. Er war aber auch verrückt. Es tat doch längst keiner mehr wirklich Dienst. Man war friedlich und freundlich und hielt sich zurück. Außerdem gab es sowieso fast nur noch ebenso friedliche und freundliche Mitmenschen, die man einfach ansprechen konnte, und die sich dann auch den Anordnungen fügten. Das war Sicherheitsdienst genug. Die anderen, die Ungezähmten, die jetzt wieder in die leerstehende Altbauhalle des ehemaligen Kabelwerks einzogen, durfte man halt nicht provozieren. Dann war alles gut. Und sie konnten da ja auch nichts mehr kaputtmachen. War ja nichts mehr da. Die Halle wurde auch längst nicht mehr für Ausstellungen und Modemessen benutzt, ein hohles Gemäuer – und was die da drin wollten, das sollte besser keinen interessieren.

Ungefähr zweihundert Leute waren dem Aufruf auf der Website gefolgt, sich am üblichen Platz zu versammeln. Da standen, saßen und lagen sie nun herum, manche behielten die Kapuzen gewohnheitsmäßig auf, andere machten sich locker. Lautes Stimmengewirr. Prahlerisch vorgetragene Erinnerung an die jüngsten Aktionen erfüllten die Halle, die in ihren hundert Jahren schon viel miterlebt hatte, aber seit dem großen Metallerstreik von 1956, an dem sich auch die Siemens-Kabelwerker in Berlin und im fränkischen Neustadt bei Coburg beteiligt hatten, war nie wieder so viel Chaos zu bestaunen gewesen, wie in den letzten Monaten, immer donnerstags. 

„Ruhe!“, brüllte jemand in ein Megaphon. Und dann legte er so richtig los.

„Das Scheiß-System ist zwar schon fast besiegt, aber noch haben wir die Massen nicht im Griff. Berlin gibt uns zwar alle Freiheiten, doch ist Berlin eben nicht Deutschland und schon gar nicht Europa und erst recht nicht die Internationale! Die Bullenschweine sind zwar schon fast so zahm, wie die Kriecher vom Wachdienst hier, aber sie rennen doch immer wieder noch einmal in voller Montur durch den Kiez, auch wenn es ihnen nur noch darum geht, Flagge zu zeigen und den Arschlöchern da draußen die Illusion zu verschaffen, es gebe noch so etwas wie Recht und Ordnung im Sinne der verkackten alten weißen Männer.

Ich sage euch heute. Es wird einen Donnerschlag geben. Diese Woche, in der Nacht zum Sonntag. Und ihr werdet dabei sein und dem faschistischen Schweinesystem den Rest geben. Wir haben einen Vorschuss von hunderttausend Euro erhalten. Zwanzigtausend sind verplant für notwendige Beschaffungen und Bestechungen. Der Rest ist für euch. Vierhundert Euro Handgeld für jeden von euch, der sich an den Sammelpunkten einfindet. Ist das ein Wort?“

Ein wüstes Gebrüll aus Jubel und Systembeschimpfungen unterbrach den Redner. Der wartete geduldig ab, bis sich der Lärm gelegt hatte und fuhr dann fort:

„Wir werden dafür sorgen, dass in der Nacht zum Sonntag ein Schwarzer von einem weißen Polizisten erschossen wird. Mitten in Berlin. Mitten auf dem Kudamm! Und dann machen wir ganz Berlin platt. Ihr wisst doch, wie schnell sich Tausende finden, die freiwillig mitmischen, wenn wir erst einmal die Tür eingetreten haben. Wir werden die übliche Taktik anwenden. Schnell zusammenrotten, schnell auseinanderlaufen, in neuer Formation an anderer Stelle zusammenrotten und wieder verschwinden. Zur Not ein paar Minuten in den sicheren Häusern Unterschlupf suchen, aber dann wieder raus, und immer wieder sammeln und zerstreuen. Ziele und Laufrouten bekommt ihr auf eure Handys. Das ist alles schon vorbereitet und programmiert. Es werden auch rechtzeitig „Baustellen“ eingerichtet, wo ihr das nötige Material für Entglasungen und heiße Sanierungsarbeiten findet. Wo immer ihr auf Bullen trefft, meldet Stärke und Stoßrichtung an die bekannte Notrufnummer. Sollte jemand von euch festgenommen werden, was ich mir allerdings gar nicht vorstellen kann, verlangt euren Anwalt, ihr kennt seine Rufnummer. Der ist die ganze Nacht am Telefon erreichbar und haut euch innerhalb einer halben Stunde wieder raus. Ihr kennt das ja. So, das war’s. Noch Fragen?“

„Wann genau geht’s los?“
„Haltet euch am Samstag ab 22.00 Uhr bereit. Einsatzbefehl kommt per SMS.“

„Wie geht das, mit dem Bullen und dem Nigger?“
„Das bleibt geheim. Nur so viel: Wir haben beide unter Kontrolle. Es kann nichts mehr schiefgehen.“

„Wird es diesmal auch eine Erfolgsprämie geben?“

„Mehr als je zuvor. Für jeden Tag Randale, die über den Sonntag hinausgeht, stehen hundert Riesen an der Tafel. Je einsatzfreudiger ihr euch zeigt, desto mehr Kohle kommt. Ihr müsst euch nur jeden Tag nach dem Einsatzbefehl an euren Sammelpunkten registrieren. Das genügt.“

„Wo wird es noch Randale geben?“

„Unsere Freunde in Hamburg, Bremen, Hannover, Duisburg, Frankfurt, Stuttgart, Nürnberg und München sind darauf vorbereitet, spontane Proteste zu inszenieren, sobald die Meldung über den Mord in Berlin über die Ticker geht. In allen Städten über hunderttausend Einwohnern sind unsere Zellen vorgewarnt und bereit loszuschlagen.

Freunde, das wird ein Event, der das Land verändert. Auf Knien werden die Schafe darum betteln, die Polizei überall in der Republik aufzulösen, und dann wird es ihnen ergehen, wie es Hengameh Yaghoobifarah schon vor zwei Jahren in ihrem Kommentar „All cops are berufsunfähig“ in der taz geschrieben hat. Auf die Müllhalde mit ihnen. Asche zu Asche, Müll zu Müll!“

Ich finde, das war ein gutes Schlusswort für dieses Treffen. Geht nach Hause. Wir sehen uns am Wochenende auf dem Schlachtfeld wieder.“ 

Kryptische Botschaft — EWK an Christa N.
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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.