Berlin, Kanzleramt
Donnerstag, 16. Februar 2023

 

Pünktlich um sieben Uhr, wie jeden Tag, erschien der Kanzler ausgeschlafen und in guter Stimmung zur Morgenlage.

Ein Blick in die Gesichter der Anwesenden genügte allerdings, um zu erkennen, dass dies kein guter Morgen werden würde.

„Was ist passiert?“, fragt er, während er seinen Platz einnahm.

„Das ist passiert“, erklärte Holger Sonntag, der persönliche Referent, und schob einen gut dreißig Zentimeter hohen Stapel druckfrischer Tageszeitungen vor den Kanzler hin.

ES STINKT ZUM HIMMEL, war da in sehr großen Lettern auf der Titelseite des obersten Blattes zu lesen, und darunter, als Untertitel: Wie lange kann das mit dem Totalversagen der Regierung noch so weitergehen?

„Seit wann interessiert uns, was die TZ in München an Schlagzeilen zusammendichtet? Die verkaufte Auflage ist inzwischen doch lächerlich.“

„Wenn Sie bitte im Stapel weiterblättern wollen …“

Als der Kanzler keine Anstalten machte, hob sein Referent die erste Zeitung hoch. Darunter kam der Münchner Merkur zum Vorschein. Ein Blatt nach dem anderen wurde aufgedeckt und der Referent nannte die Namen: „Dachauer Nachrichten, Ebersberger Zeitung, Erdinger Anzeiger, Freisinger Tagblatt, Fürstenfeldbrucker Tagblatt, Garmisch-Partenkirchener Tagblatt, Murnauer Tagblatt, Isar-Loisachbote, Geretsrieder Merkur, Tölzer Kurier, Miesbacher Merkur, Holzkirchner Merkur, Tegernseer Zeitung …“

„Ach hören Sie doch auf. Alles Oberbayern. Das hat uns die CSU reingewürgt. Aber das bügeln wir mit ARD und ZDF doch locker wieder glatt. Da haben wir schon ganz andere Zeitungsenten ausgebadet.“

„Wenn es nur so einfach wäre“, erwiderte einer aus der Runde. „Machen Sie weiter, Sonntag!“

Sonntag griff etwas tiefer in den Stapel und begann erneut die Titel von Zeitungen vorzutragen, die allesamt mit der gleichen Headline aufgemacht hatten: „Frankfurter Rundschau, Alsfelder Allgemeine, Frankfurter Neue Presse, Hessische Allgemeine, Nassauische Presse, Höchster Kreisblatt, Gießener Allgemeine, Nassauische Neue Presse, Rüsselsheimer Echo, Wetterauer Zeitung – und das sind längst nicht alle, nur die Ausgaben, die wir auf die Schnelle besorgen konnten.“

„Sie meinen also, das kommt nicht von den verrammelten Sturköpfen in München?“

„Es handelt sich um ein Ergebnis unserer – nennen wir es einmal ‚speziellen deutschen Meinungsvielfalt‘. Ein gleichartiger Mantel für Dutzende von Titeln, die immer noch versuchen, als unabhängige regionale Presseorgane zu erscheinen. Im Innenteil vier Seiten Regionales und ein paar Seiten regionaler Inserate. Außen herum überall das Gleiche. Keine Abweichung, vor allem keine abweichende Meinung und nichts, was die Öffentlichkeit beunruhigen könnte. Ich habe Herrn Ippen heute Morgen aus dem Schlaf klingeln lassen und ihm angedroht, ihn von der Polizei abholen zu lassen, wenn er nicht sofort erklärt, wie es geschehen konnte, dass alle seine Blätter ausnahmslos mit dieser Geschichte aufmachen. Vorne. Auf Seite eins. Er fiel aus allen Wolken. Schimpfte lautstark vor sich hin, von wegen Sabotage, und ist dabei, die Sache aufzuklären. Seine Absicht sei es nicht gewesen. Keiner, der an dieser Aktion beteiligt war, würde je wieder einen Job irgendwo in der Medienlandschaft bekommen, fluchte er. Wir warten noch auf seine Rückantwort.“

„Was schlagen Sie vor, was können wir tun?“

„Was Sie bisher erfahren haben, ist ja immer noch nicht der ganze Skandal. Das gemeinsame Morgenmagazin von ARD und ZDF hat das Thema seit einer Stunde im Programm. Die Redaktion meinte, dieses Thema sei schon zu weit durch. Würden sie darüber nicht berichten, hieße es wieder wochenlang ‚Lückenpresse, Lückenpresse‘ im Internet. Sie stellen es zwar so dar, dass es sich um einen Medienskandal handle, zweifeln die Opferzahlen an und zählen auf, was von Seiten der Regierung alles getan worden war. Wer genau hinhört, erkennt aber, dass eigentlich nur Arbeitskreise gebildet wurden, die allerdings unter Berufung auf den Jahrhundertwinter gar nicht tätig geworden sind.  Das Schlimmste daran ist jedoch, dass das Thema über das Morgenmagazin auch da bekannt geworden ist, wo die Ippen-Blätter nicht hinkommen.“

Der Kanzler, der inzwischen den Artikel soweit angelesen hatte wie es nötig war, um die ganze Wucht des medialen Angriffs auf die Regierung zu begreifen, wurde grau im Gesicht.

„Lassen Sie mich bitte jetzt alleine. Alle“, bat er, „ich brauche einen Augenblick, um das für mich alleine zu analysieren.“

Er blätterte noch ein bisschen in den Zeitungen, las den Artikel mehrmals ganz durch, und griff dann zum Telefon. Als auf der anderen Seite abhoben wurde, fragte er nur kurz, „Ist er da?“

„Ich verbinde“

„Hallo, good morning. Du hast mich gerade noch erwischt, Kanzler. Dass ihr Germans auch immer so früh aufstehen müsst …“

„Keine Zeit für lange Sprüche. Ich werde heute Nachmittag meinen Rücktritt ankündigen. Am 28. ist für mich Schluss.“

„Oh boy, oh boy. Das wirst du nicht tun. Du hast einen Vertrag über vier Jahre – und von einer vorzeitigen Kündigung durch dich steht da nichts drin.“

„Oh ja. Aber von Vertragsbruch von eurer Seite steht auch nichts drin. Als ich vor vier Jahren zugesagt habe, den Kanzler zu machen, falls das Wahlergebnis so ausfällt, wie ihr es vorhergesagt habt, hattet ihr mir eine ruhige, harmonische Amtszeit vorhergesagt. Dazu ein Kabinett, das mangels eigener Expertise eurer Beratung widerspruchslos folgen würde. Die Opposition hättet ihr voll unter Kontrolle, ‚ruhiggestellt wie in Vollnarkose“, das waren deine Worte. Die Rechten zerstritten und gar nicht mehr fähig Einfluss zu nehmen, weil die Partei entlang ihrer Flügel zerreißen würde, wollte einer davon versuchen, die Oberhand zu gewinnen. Ihr hattet auch dafür sorgen wollen, dass Trump verschwindet. Nun ja. Geschenkt. Stattdessen habt ihr den Bürgerkrieg entfesselt – aber nicht einmal zuhause ist es euch gelungen, die Opposition einzuhegen.“

„Stop! Ich weiß, was bei euch heute in den Zeitungen steht. Wir glauben an einen verrückten Einzelgänger, einen kleinen Reporter, der wahrscheinlich nur die Ausgabe des eigenen Käseblattes manipulieren wollte. Der hat ein bisschen im System herumprobiert, wie er an die Druckdatei für den Mantel kommt. Das ist kein Rücktrittsgrund. Eine Panne, ja – aber kein Rücktrittsgrund.“

„Dieser Artikel hat meine Reputation vernichtet. Es stimmt ja alles. Ich habe nichts unternommen, weil du mir gesagt hast, es sei am besten, einfach alles laufen zu lassen. Es ist aber nicht so, dass die Leute ruhig bleiben werden. Die Deutschen, ja. Das merkt jeder, dass die nicht mehr aufbegehren werden. Aber wir haben fünfundzwanzig Prozent mit Migrationshintergrund. Die sind überhaupt nicht ruhig. Ich habe, wie besprochen, dafür gesorgt, dass sie nicht behelligt werden, damit sie sich wohl fühlen. Morgen steht in ihren arabischen Blättern, das ich Zigtausende davon habe erfrieren lassen. Die fordern meinen Kopf. Sie fordern ihn schon lange. Jetzt haben sie den Anlass, ernst zu machen.“

„Hosenscheißer! So sagt man bei euch doch, oder? Du bleibst im Amt, solange ich es will. Außer du gibst dir selbst die Kugel. Wähle!“

 

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Die weiteren Veröffentlichungstermine und die Links zu allen bereits veröffentlichten Kapiteln finden Sie hier.  Viel Spaß beim Mitlesen.