Garmisch-Partenkirchen
Samstag, 26. November 2022

 

 

Harald beendete seinen letzten Rundgang durch die nächtlichen Straßen der Kleinstadt am Fuß der Zugspitze. Es war, wie er erwartet hatte, ruhig geblieben. Auf den Straßen waren kaum Leute anzutreffen und die, denen er begegnete, waren ausnahmslos Einheimische. „Gut soweit“, dachte er, „mein Job ist erledigt – und wenn der Ärger losgeht, bin ich längst weit weg.“

Mühelos fand er den Weg zum Parkplatz, wo er vor einer Woche seinen SUV abgestellt hatte. Das Fahrzeug war unbeschädigt und der Motor startete willig. Um möglicherweise aus Richtung München anrückenden Einsatzkräften aus dem Weg zu gehen, wollte er über Mittenwald nach Innsbruck und von da weiter über Rosenheim und München nach Hammelburg, wo er sicher war, für ein paar Tage bei einem ehemaligen KSK-Kameraden unterzukommen.

Die Truppe war ja schon 2020 von der damaligen Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer aufgelöst worden. Die meisten ehemaligen Mitglieder waren bei der Bundeswehr geblieben, aber auf viele verschieden Standorte verteilt worden. Sein Freund, Oberfeldwebel Michaelis, durfte in Hammelburg so gar als Ausbilder für den Nachwuchs des Nachfolgeverein des KSK arbeiten, die vom Verteidigungsministerium sinnigerweise auf den Namen SFTD getauft worden war. Im Klartext „Sonder-Friedens-Truppe-Deutschland“, auf dem offiziellen Briefkopf mit dem Zusatz „m-w-d“.  

Harald selbst hatte es vorgezogen, den Dienst zu quittieren. Wenn er schon sein Leben aufs Spiel setzte, dann aber nicht unter der Kuratel der wildgewordenen Berliner Weiberherrschaft. Lange war es gelungen, die Truppe soweit abzuschirmen, dass die im Stuhlkreis ersonnenen neuen Narrative ihre zersetzende Wirkung unter den Männern nicht entfalten konnten. Doch der schwere Schlag mit der Nazikeule hatte diese Oase der Elitetruppe im Oktober 2020 definitiv zerstört. Schnell waren Spitzel eingeschleust, und was noch schlimmer war, einige aus der Truppe waren selbst als Spitzel angeworben worden. Man wusste das, weil zwei Kameraden berichtet hatten, dass und wie man versucht hatte, sie umzudrehen, auch, dass sie zum Schein darauf eingegangen seien – doch man wusste nicht, wer unter Umständen noch vorgab, Kamerad zu sein, obwohl er längst zum Verräter geworden war. Möglichkeiten, sich verdächtig zu machen und auf die Abschussliste zu geraten, gab es viele. Schon wer vergaß „… und Soldatinnen“ zu sagen, wenn er Soldaten meinte, stand unter Extremismusverdacht. Wer unbedacht äußerte, die Chaoten von Black Lives Matter gehörten nach Afrika verfrachtet, riskierte die unehrenhaft Entlassung, und wer es wagen sollte, ein Verfassungsorgan zu verunglimpfen, z.B. Herrn Steinmeier als „Alt-Sozi“ oder „Grüßaugust“ zu bezeichnen, der landete nach den neuen Regeln im Bau, selbst wenn er beteuern sollte, es habe sich doch nur um Satire gehandelt.

Harald war Vollprofi – und er war sich absolut klar darüber, dass er, wie ein Fußballstar, vielleicht noch zehn Jahre vor sich hatte, in denen er Best- und Höchstleistungen abrufen konnte. Danach würde er sich zur Ruhe setzen und womöglich seine Memoiren schreiben. Im Darknet hatte er einschlägige Seiten gefunden, wo Männer wie er ihre Dienste anboten. Also bastelte er sich eine neue Identität, zählte seine Fähigkeiten auf und bot an, weltweit für eine Tagesgage von 10.000 US$ + Spesen, jeden denkbaren Solo-Auftrag anzunehmen.

Anfangs war er erstaunt darüber, wie groß die Nachfrage nach solchen speziellen Dienstleistungen war und erledigte einige interessante Jobs für unterschiedliche Auftraggeber. Seit Beginn des Jahres war er jedoch wieder unter die „Festangestellten“ gegangen. Natürlich ohne offiziellen Anstellungsvertrag, ohne Sozialversicherung und ohne Lohnsteuerabzug. Aber er bekam eine Jahresgage von 300.000 Euro, in vier Raten zu je 75.000 im Voraus bar auf die Hand und war lediglich verpflichtet, jährlich insgesamt vier Jobs zu erledigen. Was ihm – aus welchen Gründen auch immer – nicht gefiel, konnte er ablehnen. Natürlich herrschte auch bei diesem Arbeitgeber höchste Geheimhaltung. Harald hätte nicht einmal den Namen der Gruppe nennen können, so sie sich denn überhaupt einen gegeben hatten. Er hatte sich allerdings zusammenreimen können, dass es sich um eine Gruppe von Naturwissenschaftlern der unterschiedlichsten Fakultäten handelte, hinter der wiederum ein Stiftungsverein stand, der die nicht unerheblichen Mittel aufbrachte. Die Art der Aufträge, die er bisher erhalten hatte, ließ zudem darauf schließen, dass es sich um Menschen handelte, die offenbar überzeugt waren, den sich immer schneller beschleunigenden Niedergang der Gesellschaft, die wachsende Abstumpfung, ja Verblödung der Massen aufhalten zu können. Sie schienen sogar zu wissen, wo dabei der Hebel anzusetzen war.

 

Kurz vor Kiefersfelden schaltete Harald das Autoradio ein, vielleicht gab es ja schon Berichte aus Garmisch. Doch der ORF eröffnete die Mitternachtsnachrichten mit einem ganz anderen Thema.

„… am späten Abend kam es in Berlin in der Nähe einer U-Bahnstation auf dem Kurfürstendamm zu einem Zwischenfall, in dessen Verlauf ein Schwarzer von einem Berliner Polizisten aus kurzer Distanz mit drei Schüssen schwer verletzt wurde. Wir schalten zu unserem Korrespondenten in Berlin. Guten Abend Dietmar Grödner. Sie melden sich aus unmittelbarer Nähe des Tatorts. Gibt es bereits nähere Erkenntnisse?“

„Ja, ich stehe hier am Kurfürstendamm vor dem Hotel Bristol an der Kreuzung Kudamm-Fasanenstraße. Der Kudamm ist ab hier abgesperrt. In gut dreißig Meter Entfernung, etwa beim U-Bahnhof Uhlandstraße, flackern die Blaulichter von mehreren Polizei- und Rettungsfahrzeugen. Von offizieller Seite gab es noch keine Verlautbarung. Passanten berichten von einem … Holla! Haben Sie das über mein Mikro mitgehört? Das war eine Fensterscheibe von Starbucks, gleich in meinem Rücken, grade über die Fasanenstraße. Ich sehe ungefähr ein Dutzend Vermummte, die jetzt quer über die Kreuzung rennen und die Absperrbänder einfach wegreißen.“

„Glauben Sie, dass das in Berlin eine heiße Nacht werden könnte?“

„So wie ich das hier einschätze, beginnt die gerade. Die ersten Meldungen über den Vorfall sind ja noch keine Stunde alt – und schon … da kommt der nächste Trupp – ich bring mich im Hotel in Sicherheit … und schon geht die Randale los.“

„Vielen Dank Dietmar, für diese erste Einschätzung. Wir machen hier weiter mit österreichischer Landespolitik.“

 

Kein Wort von Garmisch. Harald schaltete das Radio ab und hatte ab Kiefersfelden endlich wieder ein Stück nicht geschwindigkeitsbegrenzter deutscher Autobahn unter den Rädern.

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.