München
Montag, 28. November 2022

 

Am Montag überschlugen sich die Ereignisse. Es begann gegen acht Uhr morgens. Harald der eine unruhigen Nacht auf der Couch in Mikes Single-Appartement verbracht hatte, weil er nicht damit aufhören konnte, das, was er von Gregg erfahren hatte, immer wieder neu auf mögliche Widersprüche und Probleme abzuklopfen, war kurz vor sieben Uhr in Hammelburg gestartet, und hoffte, zwischen halb und dreiviertel zehn in München einzutreffen. Dann hätte er Gelegenheit, kurz bei Brenner vorzusprechen und ein Treffen, irgendwo an einem sicheren Ort zu verabreden. Wegen Verkehrsstörungen auf der A9 schlug das Navi vor, nicht über Nürnberg, sondern stattdessen auf der A7 bis Ulm und dann auf der A8 weiter nach München zu fahren. Harald fluchte leise vor sich hin. Er würde kaum vor elf in München ankommen. Je später am Tag, desto schwerer war es, an Brenner heranzukommen, dessen Gewohnheit es war, die ersten beiden Stunden möglichst ungestört im Büro zu verbringen, sich einen Überblick über die anstehenden Aufgaben zu verschaffen, um dann ab zehn Uhr, beginnend mit der Abteilungsleiterrunde, eine Besprechung nach der anderen zu absolvieren. Mal war es der Investitionsausschuss, mal ging es im städtischen Bauamt um großflächige Erschließungsvorhaben, dann war es die Personalabteilung mit den Etatforderungen für die Schaffung neuer Stellen, ein andermal, in letzter Zeit häufiger, die Krisensitzungen zur Wasserversorgung. Harald wusste davon nur, dass Brenner grundsätzlich nach zehn Uhr nicht mehr für spontane Besuche zur Verfügung stand. Er überlegte eine Weile, ob er den Besuch auf morgen verschieben sollte, entschied sich aber dann, sich telefonisch anzukündigen und wegen besonderer Dringlichkeit um einen Termin zu bitten.

„Sekretariat Dr. Brenner, Seyfarth, was kann ich für Sie tun?“

„Hallo, Frau Seyfarth, Harald Schlott, vom Bundes Arbeitskreis Dekarbonisierung. Sie erinnern sich an mich?“

„Hallo, Herr Schlott. Sie haben einen ungünstigen Augenblick für Ihren Anruf gewählt.“

„Ich brauche ja nur einen Fünf-Minuten-Termin bei Herrn Brenner, irgendwann ab elf. Ich weiß, das ist ein Problem, aber wie ich Sie kenne, können Sie es möglich machen.“

„Hm, es ist wirklich sehr ungünstig, und ich fürchte, Herr Brenner wird ausgerechnet heute nicht die geringste Lust haben, sich mit Ihnen über die nächsten Schritte zur Zerstörung der Versorgungssicherheit zu unterhalten. Er hat gerade ganz andere Probleme.“

„Nun, ich will gar nicht wissen, was bei Ihnen los ist. Ich brauche wirklich nur fünf Minuten – und die werden sich doch irgendwo herausschneiden lassen.“

„Tut mir leid, Herr Schlott. Herr Brenner wird heute weder für Sie noch für irgendjemand anderen noch zur Verfügung stehen. Er ist dabei, seine Privatsachen zusammenzupacken und muss bis spätestens neun Uhr das Haus verlassen haben – sonst geleitet ihn die Security hinaus.“

„Nein!“, Haralds entsetzter Ausruf war – im Gegensatz zu seinem Pseudonym, Schlott vom BAD, absolut echt. Frau Seyfarth entging es nicht, dass dieser Schlott, über den ihr Chef nach jedem Besuch so fürchterlich abgelästert hatte, offensichtlich von dieser Auskunft zutiefst betroffen war. Doch was tatsächlich vorgefallen war, das sollte ihm der Chef selbst erzählen. „Ich stelle Sie durch, Herr Schlott. Wenn Herr Brenner auf eine Begegnung mit Ihnen doch noch Wert legen sollte, dann können Sie das mit ihm selbst besprechen. Ich bin ja auch nicht mehr seine Sekretärin, dürfte eigentlich gar keine Gespräche mehr für ihn annehmen.“ Es ertönte kurz die Stadtwerke-Melodie, und dann meldete sich Bernd Brenner.

„Hallo, Herr Schlott. Sie kommen ungünstig. Aber das hat Ihnen Frau Seyfarth sicherlich schon erzählt.“

„Ja, ich bin knapp im Bilde. Es soll nicht ironisch klingen, aber Sie haben jetzt ja viel Zeit. Ich habe nützliche Informationen für Sie. Sie erinnern sich an das kleine Café? Ich werde um elf, vielleicht ein paar Minuten später, dort eintreffen. Schaffen Sie das?“

„Ja, das lässt sich einrichten. Ich weiß nur noch nicht, was ich mit meiner neu gewonnenen Freizeit zwischen neun und elf anfangen soll. Es ist gut. Wir sehen uns. Bis dann.“

„Bis dann.“

Elke Seyfarth hatte so etwas in ihrem ganzen Berufsleben noch nicht erlebt. Als sie, wie üblich, eine halbe Stunde vor ihrem Chef die Tür zum Sekretariat und zu Brenners Büro aufschließen wollte, fand sie die Tür offen und drinnen zwei Männer vom Wachdienst, die Chefin der Grünen-Fraktion im Stadtrat, sowie den persönlichen Assistenten des Oberbürgermeisters vor, die sich im Chefbüro auf der Couch und in den Sesseln der Besucher-Ecke niedergelassen hatten. Erstaunt hatte sie gefragt: „Guten Morgen. Was tun Sie denn hier?“

Doch sie erhielt keine Antwort, sondern eine Anweisung: „Gehen Sie an Ihren Arbeitsplatz, und schließen Sie die Tür zu diesem Büro hinter sich. Zu Ihnen kommen wir später.“

Die Sekretärin tat, wie ihr geheißen, doch natürlich wollte sie wissen, was da los war. Also griff sie zum Telefon, um ihre Freundin, die Sekretärin des Personalchefs anzurufen. Doch statt einer Verbindung bekam sie nur eine Ansage: „Dieser Teilnehmeranschluss hat vorübergehend keine Berechtigung für ausgehende Anrufe. Wir bitten um Ihre Geduld. Bitte versuchen Sie es einige Minuten später wieder.“

Als Bernd Brenner pünktlich um acht eintraf und seine Sekretärin ausgesprochen freundlich, ja geradezu fröhlich begrüßte, versuchte Sie ihn noch vorzuwarnen, doch da hatte er schon die Tür zu seinem Büro geöffnet – und blieb ruckartig in der offenen Türe stehen.

„Was ist denn hier los?“, donnerte er die Gruppe an, die sich in seinem Büro breitgemacht hatte.

„Herr Brenner“, sprach ihn der Adjutant des OBs an, „ich teile Ihnen hiermit mit, dass Sie mit Wirkung von heute Morgen, null Uhr, von Ihren Pflichten als Geschäftsführer entbunden sind. Sie haben, von jetzt an, genau eine Stunde Zeit, Ihre privaten Gegenstände zusammenzupacken und dann das Haus zu verlassen. Herr Müller und Herr Dederichs, die beiden Wachmänner, bleiben solange hier und werden Sie spätestens um neun Uhr aus dem Haus geleiten. Wir werden Ihnen ein Taxi rufen. Ihr Dienstwagen steht Ihnen nicht mehr zur Verfügung.“

Und schon drängte sich das sonderbare Pärchen an Brenner, der immer noch in der Tür stand, vorbei. Im Gehen riefen Sie Elke noch zu: „Sie, Frau Seyfarth, werden diese Woche noch in diesem Büro bleiben und für den Nachfolger von Herrn Brenner die laufenden Vorgänge zusammenstellen und die Übergabe durchführen. Ab nächster Woche werden wir Sie Ihrer neuen Verwendung zuführen.“

Und damit waren sie weg – nur die Wachmänner, die sich offenbar ziemlich unwohl fühlten, saßen weiter abwartend auf den Polsterkanten der Sessel und wagten nicht, sich bequem zurückzulehnen.

Brenner hatte längst mit dem Hinauswurf gerechnet. Die Stadtratsmehrheit ließ schon lange keine Gelegenheit mehr aus, an seinem Stuhl zu sägen und beim OB gegen ihn zu intervenieren. Sein Auftritt bei der nichtöffentlichen Sitzung am Donnerstag letzter Woche, seine Aufforderung, darüber abzustimmen, ob endlich wieder die Vernunft die Oberhand über ideologische Fantasien gewinnen sollte, war den Grünen offenbar zu viel gewesen. Wahrscheinlich hatten sie gedroht, die Koalition zu verlassen und den OB, dessen Zustimmungswerte sowieso stetig zurückgingen, damit erpresst, Brenner zu entlassen.

„Verbinden Sie mich bitte mit meinem Freund Fritz, Frau Seyfarth“, bat er seine Sekretärin, immer noch in der Tür zu seinem Büro stehend.

„Sorry, Chef. Die Telefone sind für ausgehende Anrufe gesperrt. Vermutlich fürchtet man, Sie würden den Ruin der Stadtwerke damit einleiten, dass Sie in der Ihnen verbleibenden Stunde ein Ferngespräch mit Australien führen.“

Das sollte aufheiternd klingen, doch es war der Tropfen, der bei Brenner das Fass zum Überlaufen brachte. Wütend stürmte er in sein Zimmer und herrschte die Wachmänner an: „Sie beide verlassen jetzt sofort dieses Büro. Meinetwegen können Sie im Gang Wache halten und mich um neun abholen kommen. Aber hier will ich Sie jetzt nicht mehr sehen!“

Unterwürfig schlichen die beiden davon, aber er war sicher, sie würden vor der Tür stehen bleiben und ihn ganz gewiss nach einer Stunde auffordern, ihnen zu folgen.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, machte er sich noch einmal Luft.

„Diese Drecksäcke, diese strunzdummen Drecksäcke“, und dann fiel ihm ein, dass die Stadtwerke schon vor geraumer Zeit verpflichtend die gendergerechte Sprache eingeführt hatten, und er ergänzte sarkastisch, „und Drecksäckinnen, und Dreck-X-Sternchen – säckinnen.“

Dann holte er einmal tief Luft, bat Frau Seyfarth ihm zu helfen, den großen Aktenschredder aus der Schrankwand hinter ihrem Schreibtisch in sein Büro zu bugsieren, schickte sie dann wieder hinaus, und begann damit, scheinbar wahllos Unterlagen durch den Reißwolf zu jagen. Es sollte wie eine Racheaktion aussehen, und er freute sich innerlich, dass es tatsächlich auch so etwas war. Denn neben den ihn möglicherweise belastenden Papieren, ließ er auch viele vertrauliche Akten, die sein Nachfolger gar nicht kennen konnte, aber für seine Arbeit brauchen würde, durch den Reißwolf laufen. Das beschäftigte ihn ungefähr zwanzig Minuten. Danach erschien er wieder in der Tür und bat Frau Seyfarth, ihm für seine persönlichen Sachen einen Umzugskarton zu besorgen. Als er den erhalten hatte, packte er ein, was er an Erinnerungsstücken aufgehoben und stets als persönliches Eigentum betrachtet hatte. Bei dieser Arbeit hatte ihn Haralds Anruf erreicht. Zehn vor neun war er fertig, schleifte seinen Umzugskarton ein paar Meter hinter sich her und verabschiedete sich von seiner Sekretärin.

„Es war eine sehr gute Zusammenarbeit, Frau Seyfarth. Ich werde Sie vermissen. Sobald ich weiß, wo und wie ich weitermache, werde ich bei Ihnen anfragen, ob Sie Lust haben, mir an eine neue Wirkungsstätte zu folgen.“

„Ach, Herr Brenner. Denken sie jetzt erst einmal an sich selbst. Sie haben das nicht verdient. Wirklich nicht. Ich werde Sie auch vermissen. Wer weiß, wo die mich hinstecken werden.“

Sie nahm seine Hand, die er ihr zum Abschied reichte, zog sie, zog ihn, nahe an sich, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Mach’s gut, Bernd!“, um sofort sachlich distanziert fortzufahren: „Sie waren ein guter Chef, Herr Brenner. Lassen Sie von sich hören.“

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Dieser Roman wurde im Sommer 2020 geschrieben. Die Handlung beginnt am 17. November 2022 und endet am 1. Mai 2023. Die Kapitel tragen das jeweilige Datum der visionären Handlung. Sie werden jeweils an dem Tag, der in der Kapitelüberschrift genannt ist, in Form eines Fortsetzungsromans veröffentlicht. Viel Spaß beim Mitlesen.