Im Bordkapellen-Modus

Dushan Wegner hat mich heute Morgen mit seinem verwirrenden, aber keinesfalls verworrenem Essay „Die Hühnerverschwörung“ aus dem Schlaftrunkenheitsmodus in den Modus des luziden Träumens versetzt. Sein Grundgedanke: „Ist real, was wir als Realität ansehen, oder ist alles nur eine Simulation?“, hat  bei einer ganzen Brigade von vermeintlich längst stillgelegten Hinterkopf-Neuronen ein wüstes Trommelfeuer sprunghafter Assoziationsketten ausgelöst, von dem ich, aus Platz und Zeitgründen, nur den allerkleinsten Teil hier wiederzugeben vermag.

Der Vogel Strauß, dem nachgesagt wird, er stecke den Kopf in den Sand, um dem herannahenden Fressfeind nicht ins eiskalte Mörderauge schauen zu müssen, und der daher zum Namensgeber der so genannten Vogel-Strauß-Politik geworden ist, muss dringend in ehrenrettender Weise rehabilitiert werden. Es ist eine Fehlbeobachtung, die zudem von den längst vergilbten und vergriffenen Aufzeichnungen des Herrn Alfred Brehm widerlegt ist, die dessen ungeachtet aber nicht nur im Volks- sondern auch im Elitenmunde ungetrübt weiterlebt. Brehm hat, ohne es so zu benennen, das „Kopf-in-den-Sand-Stecken“ so beschrieben:

„Die Strauße begannen mit dem Nestbaue, nachdem sie sich in den ihnen zugewiesenen Gehegen eingerichtet hatten, indem sie zunächst eine einfache Aushöhlung im Sande ausgruben und vermittels einer sonderbaren Bewegung des Halses rings um dieselbe einen runden Wall aufhäuften, welcher dem Neste die Gestalt eines kleinen Hügels gab.“

(Besonders liebe ich an dieser Stelle den wunderbaren Wohlklang, den das längst von Sprachbereinigern – vergleichbar nur den ungestümen, frühen Flurbereinigern – ausgemerzte Dativ-E hervorzubringen in der Lage ist: „…dem Nestbaue, … im Sande,  … dem Neste“. Da schmerzt mich der Gedanke an die schmucklose Sprachruine, die uns als kommunikatives Werkzeug noch verblieben ist.)

Doch zurück zum Strauß. Sollte dem angesprochenen Irrtume doch ein wahrer Sachverhalt zugrunde liegen, der Strauß also jemals angesichts einer Gefahr den Kopf in den Sand gesteckt haben, dann doch nicht aus Furcht und Resignation, sondern um dem Feind als das Schreckensbild des mächtigen Löwen zu erscheinen. Da wird der lange, nach unten hängende Hals zum Löwenschwanz, die Federn rings um die Kloake zur Löwenmähne und die weit aufgerissene Kloake selbst zum gefährlichen Rachen, bereit alles zu verschlingen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Mimikry! Der Straußenhintern als wirksame Simulation des weit aufgerissenen Löwenraches. Das ist der aktive Einsatz eines Mittels des Tarnen und Täuschens zur abschreckenden Selbstverteidigung, Arterhaltung und semihegemonialer Dominanz!

Wie armselig dagegen die selbstbetrügerische „Heile-Welt-Simulation“ der Titanic’schen Bordkapelle. Ein musikalisches Sedativum, die Regression des Daseins auf das bekannte und eingeübte Repertoire. Den Schrecken des Untergangs ausblenden, einfach immer weitermachen, weiterspielen, sich retten in eine alle schrecklichen Geräusche des Untergangs verdrängende, selbsterschaffene Klangwelt, bis hin zur vollständigen Abkapselung von der Realität.

So ist es im Sturm der Zeiten auch den Brüsseler Bärentanzmusikanten gelungen, pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit, und diese damit verharmlosend, die zwangsweise Vereinheitlichung der Ladekabel für alle Gattungen unserer kleinen elektronischen Wegbegleiter zu beschließen. Mit Terminen versehen, die in einer Zukunft liegen, wie man sie sich für den schlimmsten Katastrophenfilm nicht ausdenken könnte.

Es fliegt uns der Euro mit Inflation und Kursverlusten um die Ohren, dass einem schwindelig werden könnte. Doch Frau Lagarde zupft weiter – wie die Musikanten der bereits erwähnte Bordkapelle – nach den vertrauten Noten aus den Heiligen Büchern der Volkswirtschaftslehre unverdrossen an den Saiten ihrer kleinen Zinsanhebungs-Ukulele, als könne die bereits eingetretene Katastrophe damit wieder in Wiege des Schicksals zurückgedrängt werden.

In den Kohlebunkern der TEUtanic schaffen die durch alle Sanktionslöcher eindringenden Wasserfluten vollendete Dekarbonisierungs-Tatsachen, die Generatoren stehen still, die Lichter gehen aus, aber noch arbeitet die Druckerpresse und kauft den Weltgasmarkt leer, um jene Speicher zu füllen, die im Winter jedoch nicht von denen geleert werden, die dafür schon bezahlt haben, sondern von jenen, die dann noch in der Lage sein werden, dem Auktionator die höchsten Gebote zuzurufen.

Doch Robert Habeck tändelt weiter schlafwandlerisch um die noch funktionsfähigen Atomreaktoren herum, will mal alle, mal einen, mal zwei, aber bloß nicht alle drei, in die Reserve stecken, oder doch noch für drei Monate weiterlaufen lassen, weil in seinem Universum im Energiepoker am Ende der gewonnen haben wird, der – UNO-typisch – als erster alle Karten aus der Hand gegeben hat und völlig blank dasteht.

Da ist es nur folgerichtig, dass die Rechtsnachfolgerin der  einstigen „Rheinisch-westfälische Elektrizitätswerk AG“ im Wettstreit um den vorgezogensten Kohleausstieg aller Zeiten den Turbo gezündet hat und sich – unter Mitnahme reichlicher Staatsprämien und goldener Nasen für tollkühnes Dekarbonisieren – selbst verpflichtet hat, nun schon in acht, statt erst in sechzehn Jahren alle ihre Kohlekraftwerke stillgelegt zu haben, um irgendwo, wo wirtschaftliches Handeln noch nicht zum Hasardspiel verkommen ist, einen Neubeginn zu wagen. 

Dass die Bundesnetzagentur mit schrillen Tönen schon im Juli 2022 vor den verheerenden Folgen des Totalausfalls russischer Gaslieferungen warnte – wohlgemerkt: da waren die beiden Ostseepiplines noch nicht zerstört – wird offenbar, nachdem dieser Ernstfall eingetreten ist, für nicht mehr hinreichend relevant gehalten. Die Experten haben ja nur zum Sparen aufgerufen. Wir müssen ja nur genug sparen, dann wird das schon, mit dem Winter. Und wenn der erst einmal vorbei ist, dann stellen wird Windräder in den Wind, Windräder – soweit das Auge reicht, Windrad an Windrad, Flügelspitze an Flügelspitze, und wenn das nicht reicht, können wir ja immer noch den legendären Choral anstimmen:

„Näher mein Gott zu dir, näher zu dir.
Drückt mich auch Kummer hier, drohet man mir.
Soll doch trotz Kreuz und Pein, dies meine Losung sein:
Näher mein Gott zu dir, näher zu dir!“

 

Tiefgläubigen Christen mögen diese Verse vor hundert Jahren noch Trost gespendet haben. Die Nenn-Christen und Atheisten, die unseren Karren in gottloser Selbstüberschätzung wahlweise und immer wieder in den Dreck oder an die Wand gefahren haben und damit weitermachen, bis das Vehikel wie ein ausgebrannter Kampfpanzer in der Landschaft steht und allmählich von Brennnesseln, Krötenbinsen und Sandbirken überwuchert wird, die singen ein anderes, ein garstiges Lied:

 

Kreuzberger Nächte sind lang
Kreuzberger Nächte sind lang
Erst fang‘ wir ganz langsam an
Aber dann …, aber dann!

Ich sitz schon seit ′ner Stunde ziemlich dumm
Allein im Ministerium herum
Ich denke schnell, obwohl ich’s nicht vermag
Weil ich Gedanken nun verdammt noch mal nicht mag

Jetzt fragt mich doch so’n Typ, ob ich’s kapier
Ich sag: „Na klar. Die Wirtschaft lebt vom Bier“
Da sacht der, dass er von der Zeitung wär
Und er wäre der Lokalredakteur

Kreuzberger Nächte sind lang
Kreuzberger Nächte sind lang
Erst fang‘ wir ganz langsam an
Aber dann …, aber dann.

 

Gegen meine Freude über die Leistungen der politischen Kaste war Trapattonis Wutrede noch ein Sonntagsspaziergang.