Das war nun also wieder einmal unser Nationalfeiertag

Schon Wochen vorher hatte sich im ganzen Land eine Stimmung der Vorfreude ausgebreitet. Keine Gemeinde, in der nicht darüber nachgedacht und geplant wurde, wie der Feiertag feierlich begangen werden könnte. Kein Verein, dessen Mitglieder sich nicht Gedanken darüber machten, wie sie sich und ihre Arbeit an diesem Tag der Öffentlichkeit präsentieren könnten. Die Blasmusikkapellen legten extra Übungsstunden ein und so mancher Kapellmeister mühte sich ab, eine eigene, neue Hymne zu komponieren, die an diesem großen Tag erstmals zur Ehre des ganzen Landes erklingen sollte.

Am Vortag schließlich schmückten die Anwohner ihre Häuser und die sauber gefegten Straßen mit Fahnen und Blumengirlanden. In den Kirchen arbeiteten fleißige Hände am Blumenschmuck für den großen Festgottesdienst, an dem die Kirchenbänke vielerorts nicht genug Platz bieten würden, für alle die sich an ihrem großen Tag dort in Einigkeit versammeln wollen. So war es seit jeher Sitte im ganzen Land, den Feiertag mit Lob und Dank für Gott den Allmächtigen zu beginnen, der unser Volk behütet und bewahrt hat vor allem Übel und der Regierung die Weisheit und den Mut, die Kraft und die Liebe zum Volk eingegeben hat, die unser Land haben wachsen, blühen und gedeihen lassen.

Natürlich war das Zentrum der Feierlichkeiten die Hauptstadt. Hunderttausende hatten sich dahin aufgemacht, um die Straßen zu säumen, wenn der Präsident des Deutschen Bundestages, als ranghöchster Repräsentant des Staates, begleitet vom Bundespräsidenten und vom Bundeskanzler im offenen Wagen die Spitze des farbenfrohen Umzugs bildeten, in dem auch die Bundeswehr stolz ihre glänzenden neuen Waffen mitführte. Dann das Donnern am klarblauen Herbsthimmel, als eine Staffel von neun Eurofightern die schwarz-rot-goldene Nationalflagge an den Himmel malte, gefolgt  vom vielstimmigen Geläut aller Kirchenglocken im weiten Rund.

Da brachen bei den braven Deutschen alle Dämme. Wildfremde Menschen lagen sich mit Tränen in den Augen in den Armen, glücklich, Bürger dieses wunderbaren Landes zu sein, in dem zwar nicht überall Milch und Honig fließen, aber doch niemand hungern muss,  in diesem Land, auf das die ganze Welt freundschaftlich mit Achtung und Respekt blickt, und uns zu unserem großen Tag ihre Glück- und Segenswünsche übermittelt hat.

Nach der großen offiziellen Schlusskundgebung, in deren Verlauf verdiente Bürger für ihre Leistungen für Staat und Gemeinschaft mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, wandelte sich der Charakter der Feier ins Private. Überall in den Gärten und Vorgärten stieg  der würzige Rauch der Grillfeuer in den Himmel, in den Wohnzimmern wurde der Festtagskuchen angeschnitten,  die alten Herren zogen sich mit ihren Zigarren und einem Cognac zum Diskutieren zurück, während das Jungvolk wonnetrunken durch die Straßen flanierte. Da wurde so manche neue Freundschaft geschlossen, da entflammte so manche junge Liebe. Ein Tag des Festes, ein Abend des Glücks, doch niemand versäumte es, sich kurz vor Mitternacht vor den Fernseh- und Rundfunkgeräten zu versammeln und sich in Ehrfurcht zu erheben, als der Thomanerchor mit glockenhellen Stimmen unsere Nationalhymne erklingen ließ.

Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland.
Danach lasst und alle streben
brüderlich mit Herz und Hand.
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand.

Blüh im Glanze dieses Glückes
blühe deutsches Vaterland.

Blüh im Glanze dieses Glückes
blühe deutsches Vaterland.

Mit dem Nachhall dieses Liedes in unseren Herzen wollen wir heute diesen Tag beginnen, dieses neue Jahr unseres vereinigten Vaterlandes mit großem Fleiß gestalten, auf dass wir uns am 3. Oktober des nächsten Jahres erneut in Frieden und Freiheit versammeln und unser Glück feiern können.

Dass es unter uns immer noch Einzelne gibt, die mit Deutschland nichts anfangen können, die – außer der Sprache – eine spezifisch deutsche Kultur nicht erkennen können, die Plakate mit sich führen, auf den steht: „Bomber Harris, do it again“, soll uns in unserem Glauben an unser Land nicht irre machen.

 

Und mit diesen Worten beende ich meinen Besuch im besten Paralleluniversum aller Zeiten und schlüpfe durch das sich wieder öffnende Wurmloch zurück in jene andere, freudlose Realität, in der gestern in Erfurt, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, zwei halbe Herzen jene Halbherzigkeit symbolisierten, die ein mögliches Fest der Zuversicht und des Vertrauens, der Freude und des Glücks, eher wie die Generalprobe für den Volkstrauertag erscheinen ließen.