Mehr „Meise“ wagen!

Die kleine Tannenmeise war gegen das Badezimmerfenster geflogen. Diesmal hatte sie Glück. Das Fenster war zum Lüften weit geöffnet.

Als wir sie entdeckten, kauerte sie gänzlich unbeweglich hinter der Duschtrennwand. Sie musste also schon einige vergebliche Anstrengungen hinter sich gebracht haben, das Badezimmer wieder zu verlassen, obwohl das Fenster nach wie vor weit offen stand.

Ich habe mich ihr mit gutem Zureden langsam und vorsichtig genähert und sie dann sanft an der Brust angestupst. Als ihr das zu viel wurde, versuchte sie, wie eine Wespe an der Fensterscheibe, auf und ab flatternd durch die Glaswand zu fliegen. Dann saß sie wieder unten. Als ich mich ihr wieder näherte, flog sie auf und krallte sich oben am schmalen Türrahmen der Zimmertüre fest. Von da aus ging es dann zur Lampe und dann von der Lampe oben auf die gläserne Duschtrennwand.

Nach wie vor war das Fenster sperrangelweit offen, doch statt hinauszufliegen peilte sie den offenen Fensterflügel an und landete oben darauf. Blickrichtung vom Fenster weg auf die Wand zu.

Sie ließ sich einfach nicht animieren, durch das offene Fenster davonzufliegen.

Ich machte noch einen Versuch, sie sanft in die richtige Richtung zu scheuchen.

Das war ein Fehler. Nun flatterte sie wild an der Zimmerdecke im Kreis, immer wieder – patsch – patsch – patsch – mit Flügeln und Kopf anstoßend, dass ich mir ernstliche Sorgen um sie machte. Nach vielleicht 15 Sekunden hing sie dann wieder an der Lampe in der Zimmermitte.

Mit Hilfe einer Leiter gelang es mir, sie dort zu fassen. Doch als ich die drei Sprossen wieder hinabstieg, schaffte sie es, sich aus meiner Hand zu befreien und flog mit lautem Kiwitt-Kiwitt los und durchs Fenster ins Freie.

Aus dem Verhalten der Meise lässt sich auf ihre Grundüberzeugungen schließen:

      1. Was ich nicht sehe, existiert nicht.
      2. Wo es hell ist, geht es zum Ausgang.
      3. Oben ist immer Platz.

Die klare Glaswand war für die Meise unsichtbar. Ihr Bestreben, durch das Glas davonzufliegen, war stärker als die Einsicht, dass ihr das einfach nicht gelingen würde.

Die hellen Wände und die helle Decke im Badezimmer standen im Kontrast zu dem viel Dunkleren der Außenwelt vor dem Fenster. Sie wollte weg, also  immer hin zum Hellen, und vor allem auch nach oben. Dass das Helle die Wand war, konnte die Meise nicht wissen – und sie wollte es nicht wissen.

Sie hätte es allerdings lernen können. Ich weiß das von Wellensittichen. Lässt man die erstmals im Zimmer fliegen, knallen sie auch erst einmal gegen die Wände und die Zimmerdecke. Aber nach einer Weile haben sie ihr „Revier“ erkundet und fliegen von da an unfallfrei herum. Aber wehe, sie kommen wieder in eine fremde Umgebung. Da geht das Spiel von vorne los, bis sie sich auch dort auskennen.

 

Mit den Menschen ist das grundsätzlich nicht anders.

HINTERFENSTER

HINSTERBENDER

BENEBELTER

                      


 

Na, wie lange haben Sie gebraucht, um nicht mehr Hinster Bender zu lesen?

Wir erkennen ein Muster, halten es für allgemeingültig und wenden es einfach immer wieder an. Selbst dann noch, wenn wir feststellen müssen, dass es manchmal nicht funktioniert.

Der Reiz des Glücksspiels entsteht bei vielen dadurch, dass sie beim ersten oder zweiten Versuch gewonnen haben. Das Muster: „Kleiner Einsatz – großer Gewinn“, ist dann kaum noch aus dem Kopf zu bekommen. Es wird immer wieder versucht, ja sie versuchen ihr Glück geradezu zu erzwingen, bis sie erschöpft, wie die Meise, der es nicht gelungen ist, durch die Glasscheibe zu fliegen, am Boden zerstört ihr Schicksal beklagen.

Andere haben ein bisschen Physik erlernt, die Wirkung von Kräften aufeinander erkannt und sinnen dann Tage, Wochen und manche ihr Leben lang darüber nach, ein Perpetuum mobile zu erschaffen. Es muss doch möglich sein!

Dahinter steht ein offenbar fest im menschlichen Gehirn verdrahtetes Problemlösungsprinzip, das da lautet:

Versuche es mit mehr von dem Gleichen!

Da bewirkt bei der faden Suppe ein bisschen mehr Salz oft schon Wunder, mit dem zweiten Mann lässt sich das Auto auch bergauf schieben, mehr Kerzen am Kronleuchter bringen mehr Licht in den Saal, und so weiter, und so weiter.

Es funktioniert einfach zu oft und bei zu vielen Gelegenheiten, als dass man im ersten Anlauf darauf verzichten möchte, es einfach mit MEHR zu versuchen.

Das hat nichts mit Dummheit oder Intelligenz zu tun, es ist von der gleichen artspezifischen Qualität wie jenes Verhaltensmuster, das die Meise dazu zwingt, an die Zimmerdecke zu stoßen.

Niemand ist vollständig frei davon, obwohl die Zahl der Fehlversuche mit der Zahl der aus Erfahrungen gewonnenen Erkenntnisse im Lauf des Lebens geringer wird, jedenfalls auf den Gebieten und in den Situationen, die man schon kennengelernt hat. Da unsere schnelllebige Zeit jedoch ständig Neues hervorbringt, ist dieser Lernerfolg stets in Gefahr, sich als überholt und unnütz herauszustellen.

Ich reihe mich da gerne mit ein. Wie lange habe ich mich gewundert, dass trotz genauesten Messens und Anzeichnens manche Bretter nach dem Sägen zu kurz  waren, bis mir klar wurde, dass man die Säge immer so an der angezeichneten Linie entlang führen muss, dass das Stück, das man zuschneidet, nicht unter die Säge kommt.

Ich könnte da durchaus noch mehr aus eigener Erfahrung erzählen, doch weil es hier nur um das Prinzip geht, will ich es bei einem Beispiel belassen.

Doch: Eines noch, weil es so schön ist.

In den ersten beiden Schuljahren hatten wir im „Rechnen“ kleine rote Pappscheiben, etwas größer als ein Pfennig, mit denen wir Mengen erkennen und zählen lernten. Wir haben die in verschiedensten Mustern gelegt, meistens aber in Form von Rechtecken, die mal in der Höhe 6 und in der Breite 2 Chips umfassten, mal in der Breite 3 und in der Höhe 4 Chips und lernten dabei, dass es sich in beiden Fällen um 12 Teile handelte.

Genau dies hat mir ein paar Schuljahre später das Problem eingebracht, dass ich einfach nicht begreifen wollte, dass die Multiplikation mit null stets null ergibt.

Ich hatte da meine sechs Pappscheibchen im Kopf. Die waren ja unverrückbar da. Die können sich doch nicht einfach in Luft auflösen, nur weil ich sie mit null multipliziere.

Nach den ersten rot angestrichenen falschen Rechenergebnissen habe ich mir einfach stur gemerkt: Multiplikation mit null ergibt null. Begriffen habe ich erst lange danach – als wir mit Quadratzahlen hantierten und dabei wieder ähnliche Bilder genutzt wurden, wie im ersten Schuljahr – dass meine sechs roten Punkte nur existierten, weil es sich dabei um 6 x 1 gehandelt hat.

 

Neben solchen individuellen Programmierungen, die in der Regel gar nicht negativ auffallen, sondern nur in seltenen Situationen, auf die sie einfach nicht passen, gibt es jedoch auch kollektive Programmierungen, die eben dann, wenn sie auf die falsche Situation angewendet werden, das Problem nicht lösen sondern verschärfen.

Häufig entstehen solche problematischen Programmierungen in Glaubensgemeinschaften, politischen Parteien, Vereinen, Großunternehmen und Streitkräften und können dann nicht mehr aus der Welt geschafft werden, ohne dass diejenigen, die bestimmte Dogmen zuerst formuliert und durchgesetzt haben, das Gesicht verlieren. Man hält dann bis zum bitteren Ende, bzw. bis zum Endsieg unbeirrbar daran fest, und alle, die dabei Verluste an Hab und Gut, Leib oder Leben erleiden, werden wegen ihres heldenhaften Eintretens für die gute Sache mit Orden und Ehrenzeichen überschüttet, auf dass sie allen anderen als leuchtendes Vorbild dienen mögen.

Verheerend wirkt sich das immer dann aus, wenn sich zum vorherrschenden Narrativ keine Opposition findet oder die Opposition mundtot gemacht wird.

Dann kann sich im Zweifelsfall ein ganzer Staat verhalten wie die Meise, die sich ins Badezimmer verirrt hat.

Bei weit offenem Fenster unfähig, den Ausweg zu erkennen, bis zur Erschöpfung dicht unter der Zimmerdecke herumflattern und jedes Mal, wenn der Kopf gegen die Decke stößt, die Hoffnung schöpfen, dass man nur kräftiger und härter gegen das Hindernis knallen müsste, dann würde es schon nachgeben, das ist das Bild, das Deutschland auf praktisch allen Politikfeldern bietet.

Ob die Impfung nicht – oder gar kontraproduktiv – wirkt:

Kein Problem, dann muss eben noch mehr geimpft werden.

Ob die Energie immer knapper und immer teurer wird:

Kein Problem, dann müssen eben die letzten
Kraftwerke noch früher abgeschaltet
und noch mehr Windräder errichtet werden.

Ob die Migration statt der großen Zahl der erhofften Fachkräfte für die Wirtschaft eine große Zahl von  dauerhaft auf Transferleistungen Angewiesenen mit sich gebracht hat:

Kein Problem, dann müssen eben noch mehr
Flüchtlinge ins Land geholt werden.

Ob die Digitalisierung selbst im Vergleich mit Albanien noch schlecht abschneidet:

Kein Problem, es muss eben nur noch
mehr über Digitalisierung geredet werden.

Ob der knappe Wohnraum für immer mehr Wohnungssuchende unbezahlbar wird:

Kein Problem, es muss nur der Bau von
Einfamilienhäusern verboten werden,
dann gibt es auf der gleichen Grundfläche
auch mehr Wohnungen.

Ob die hohen Energiepreise und die überbordende Bürokratie immer mehr Unternehmen dazu bewegen, das Land zu verlassen:

Kein Problem, es müssen ja nur die Steuern erhöht
werden, um den Einnahmeausfall auszugleichen.

Ob die Bundeswehr unter Personal- und Ausrüstungsmangel leidet:

Kein Problem, da schenken wir Israel
halt wieder mal ein U-Boot,
und schon glaubt die Welt,
wir hätten Waffen und Material im Überfluss.

Ob die Autobahnbrücken reihenweise nachgeben, die Bahngeleise zu schwach für schnelle Züge sind, die Kanalisation ins Grundwasser leckt:

Kein Problem, erst müssen wir alle
Mittel einsetzen, um die Erderhitzung aufzuhalten,
sonst brauchen wir das alles sowieso nicht mehr.

Ob deutsches Recht und Gesetz immer öfter weder in Berlin noch in Karlsruhe, sondern in Brüssel gesetzt wird:

Kein Problem, wir geben einfach noch mehr
Rechte an Brüssel ab, bis niemand mehr
auf die Idee kommt, nach
Berlin oder Karlsruhe zu fragen.

Ob die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Politik von immer mehr Menschen geteilt werden:

Kein Problem, dann muss der Kampf gegen
rechts eben noch mehr intensiviert werden.

Wäre es nicht an der Zeit für einen neuen Wappenvogel?
Meise. Meise wäre toll.