Die North Stream 2 Erzählung

PaD 43 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 43 2022 Die North Stream 2 Erzählung

Ein Schriftsteller, der beschließt einen Roman zu verfassen, hat die Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Perspektiven, aus deren Sicht er seine Geschichte aufbaut. Er kann entweder zum Stilmittel des Ich-Erzählers greifen oder einen allwissenden Erzähler einsetzen. Beide Erzählperspektiven haben Vor- und Nachteile. Die höhere Authentizität des Ich-Erzählers wird durch erhebliche Einschränkungen in der „Breite“ der Geschichte erkauft, während die unbegrenzten Möglichkeiten des allwissenden Erzählers dazu verleiten, die Zahl der Handlungsstränge über das vom Leser noch gebilligte Maß hinaus auszuweiten.

Die Erzählungen unserer Regierung haben inzwischen jedoch ein neues Erzählformat angenommen, nämlich das einer Gruppe alleswissender Ich-Erzähler. Dies ist gewöhnungsbedürftig, auch weil sich dabei logische Brüche in der Erzählung ergeben, die nicht nur mit dem Wechsel der Regierung von der schwarz-roten GroKo zur grün-gelb-roten Ampel erklärt werden können, sondern den Verdacht aufkommen lassen, mit einer ganzen Wagenladung kognitiver Dissonanzen konfrontiert zu sein, die sowohl intrapersonell als auch im gruppendynamischen Prozess in Erscheinung treten.

Als Beispiel möge hier die North Stream 2 Erzählung dienen.

Blättert man ein paar Seiten zurück in diesem Thriller um zwei Pipeline-Röhren am Grund der Ostsee, liest man von der heldenhaften Rettungstat einer Angela Merkel, die Deutschland mit dem Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie gerade noch rechtzeitig, wahrscheinlich sogar in allerletzter Minute, vor dem alles vernichtenden Super-Gau der totalen radioaktiven Verstrahlung bewahrt hat.

Blättert man noch etwas weiter zurück, findet man im Jahre 2002 den ersten Beschluss zum Ausstieg aus der Atomenergie, damals von den Grünen in der Regierung Schröder durchgesetzt. Damals war man allerdings noch der Überzeugung, dass die damit fehlende Energie auf andere Weise ersetzt werden müsse. Es dauerte nur zwei Jahre, bis im Juli 2004 die erste Absichtserklärung zum Bau von North Stream 2 zwischen Gazprom, E.ON Ruhrgas und Wintershall auf dem Tisch lag. 2005 war es dann so weit, dass die Grundsatzvereinbarung über den Bau in Gegenwart von Wladimir Putin und Gerhard Schröder unterzeichnet werden konnte.

Der 2010 von der Regierung Merkel beschlossene Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie durch die Laufzeitverlängerung der bestehenden Atomkraftwerke hatte keinen negativen Einfluss auf den Bau der neuen Ostseepipeline.

Nur ein Jahr später und nur Tage nach der von einem Tsunami ausgelösten Havarie des AKW Fukushima beschloss die gleiche Bundesregierung die sofortige Abschaltung der vor 1981 in Betrieb genommenen Atomkraftwerke Biblis A und B, Brunsbüttel, Isar 1, Neckarwestheim, Unterweser und Philippsburg 1.

Nach Befragung der Ethik-Kommission wurde schließlich Gesetz, alle weiteren noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke bis Ende 2022 vom Netz zu nehmen.

Ersatz sollte durch vermehrten Einsatz von Photovoltaik- und Windstrom-Anlagen geschaffen werden.

Inzwischen war die Angst vor der radioaktiven Strahlung, die sowohl im Betrieb von Atomkraftwerken freigesetzt werden könnte, aber auch durch die ungelöste Endlagerfrage auf alle Zeiten nicht zu bändigen schien, einer anderen Angst gewichen, nämlich der Angst vor einer weltweiten Klimakatastrophe, die – so erzählten es die Mitglieder der Gruppe der allwissenden Ich-Erzähler – nur dann abgewendet werden könne, wenn Deutschland nun auch noch darauf verzichten würde, Kohlekraftwerke zu betreiben. Das führte dazu, dass Bundestag und Bundesrat sich 2020 auf ein Gesetz über milliardenschwere Entschädigungen für die Betreiber und auf das Ende der Kohleverstromung in Deutschland bis zum Jahre 2038 einigten.

Auch dies geschah noch unter der Federführung der großen Physikerin, deren wissenschaftliche Expertise zweifellos ausreichte, um die Auswirkung dieser Entscheidung auf die deutsche Energiebilanz ebenso überschauen zu können, wie die Verbesserung der Chancen von CDU und CSU bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag im Jahr 2021 eine Koalition mit den Grünen schmieden zu können und sich damit vom lästigen Langzeitkoalitionspartner SPD zu lösen.

Dass der im Januar 2017 als US-Präsident installierte Donald Trump nicht nur America great again machen wollte, sondern zugleich die Schwächung Russlands, Chinas und wohl auch der EU im Auge hatte, was schon im August 2017 dazu führte, dass der Kongress verschärfte Sanktionen gegen Russland verhängte, die insbesondere gegen die russischen Exporte von Gas und Öl gerichtet waren und daher auch Sanktionen gegen europäische Unternehmen umfassten, die es wagen sollten, sich weiterhin direkt oder indirekt am Bau von North Stream 2 zu beteiligen, was im Gegenzug die Möglichkeiten der US Exporte von Fracking-Gas erweitern sollte, wurde in Berlin offenbar nicht so ernst genommen. Trump, so war man sicher, würde diese erste Amtszeit politisch nicht überleben, und danach würde man sich mit dem nächsten demokratischen Präsidenten schon wieder irgendwie arrangieren können.

Gestärkt vom Erfolg in der Frage des Kohleausstiegs lieferten die Grünen einen fulminanten Bundestagswahlkampf, bei dem die Energiefrage als Allheilmittel gegen die Erderhitzung im Vordergrund stand. Eine Energiewende mit spürbarer staatsgemachter Verteuerung fossiler Energieträger und dem beschleunigtem Ausbau der so genannten „erneuerbaren“ Energien, der Umstieg von Verbrenner-Fahrzeugen auf die E-Mobilität, ja sogar die vollständige Dekarbonisierung Deutschlands wurden als Ziel ausgerufen, wobei Bedenkenträgern entgegengehalten wurde, dass man sich bewusst sei, bis zur endgültigen Zielerreichung noch auf schnell hochfahrbare Gaskraftwerke setzen zu müssen, von denen man im beschleunigten Verfahren unverzüglich mindestens 30 genehmigen wolle.

Dies zu einem Zeitpunkt,  zu dem die deutschen Strompreise bereits die höchsten auf der ganzen Welt waren und die Stromnetze aufgrund der massenhaften Einspeisung von witterungsabhängig produziertem Strom hart an der Belastungsgrenze gefahren werden mussten.

Es lief scheinbar alles nach Plan, und North Stream 2, die Pipeline, die trotz der US-Sanktionen weitergebaut worden war, stand kurz vor der Fertigstellung.

 

Was dann geschehen ist und die Erzählung grundsätzlich veränderte, wird von der Gruppe der allwissenden Erzähler nicht mitgeteilt. Es wird – im Buch – sozusagen ein „Zweites Buch“ aufgeschlagen, in dem sich die Erzähler von der gesamten Vorgeschichte verabschieden. Das beginnt damit, dass die neue Pipeline aus für mich undurchsichtigen juristisch-bürokratischen Gründen nicht zertifiziert werden konnte. Sie war jetzt zwar fertig, sogar schon mit Gas gefüllt, aber es war unmöglich, sie in Betrieb zu nehmen, weil irgendein Papier, das dies ermöglicht hätte, einfach nicht unterschrieben und abgestempelt werden konnte. Es war auch niemand da, der an dieser Stelle auf die Bundesnetzagentur politischen Druck hätte ausüben wollen. Schließlich ist Deutschland keine Bananenrepublik.

Ein paar Seiten weiter im Text ist die alte North Stream 1 Pipeline bereits massiv beschädigt und vermutlich nie mehr nutzbar. Gleiches gilt für eine Röhre von North Stream 2, die zweite Röhre, so hörte man es eine Weile später aus Russland, sei heil geblieben und könne jederzeit in Betrieb genommen werden. Man müsse auf deutscher Seite nur den Hahn aufdrehen.

Versuche der deutschen Regierung, den Schaden selbst zu begutachten und den Verursacher ausfindig zu machen, blieben nach vielstimmigen Aussagen der allwissenden Erzähler deshalb erfolglos, weil die befreundeten Staaten Schweden und Dänemark den Deutschen die Teilnahme an der Begutachtung der Schäden verweigerten und weil ein deutsches Einsatzkommando, das mit zwei Schiffen ausgerückt war, sich die defekten Röhren auf eigene Faust aus der Nähe anzusehen, vor Ort feststellen musste, dass man vergessen hatte, die Tauchausrüstung für den Einsatz in ca. 70 Meter Wassertiefe mitzunehmen. Wirklich dumm gelaufen.

In ihrer Allwissenheit wissen die allwissenden Erzähler also, dass sie selbst nichts, aber auch gar nichts wissen, dass sie keine eigenen Erkenntnisse haben und über die Erkenntnisse anderer auch nichts wissen. Sie wissen zudem, dass das, was sie dennoch in Erfahrung gebracht haben, keinesfalls preisgegeben werden darf, nicht einmal gegenüber dem Parlament, weil eben die Büchse der Pandora nicht geöffnet werden dürfe, aus der sonst der Klimahitzetod, die totale radioaktive Verseuchung, das Waldsterben, das Ozonloch und überhaupt alles Üble und Schlechte entweichen und Deutschland zu einem trostlos unbewohnbaren Landstrich machen würden.

Das ist eine unglaubliche dramaturgische Steigerung, die dringend vor der letzten Seite des Buches einer Auflösung bedürfte, wenn der Leser den Wälzer nicht am Ende enttäuscht und wütend in die blaue Altpapiertonne treten soll.

Doch schon bahnt sich etwas an.

Der von den allwissenden Erzählern ins Abseits gedrängte Feind von Demokratie und Grundgesetz sieht seine Stunde gekommen und nutzt die Gelegenheit, die aufgrund der Ränkespiele Putins unterbundene Gaslieferung auf infame Weise zu instrumentalisieren.

Schließlich habe das Land immer noch einen erheblichen Bedarf an Energieträgern, wird gemutmaßt, wohl auch am Chemierohstoff Gas. Dass allenthalben die Kommunen, Landkreise und Bundesländer die braven Bürger auffordern, sich auf einen länger andauernden Blackout vorbereiten, hätte ja wohl auch schwerwiegende, von der Regierung geheim gehaltene Gründe. Dass die Stahlwerke ihre Öfen erkalten lassen, dass die Bäckereien dem Rat des Wirtschaftsministers folgen und aufhören zu produzieren, könne ja wohl nicht nur an der Inflation liegen. Doch dass nun die BASF öffentlich erwägt , immer noch mehr ihrer Produktion nach China zu verlagern, wo die Energie reichlich und zu niedrigsten Preisen angeboten wird, wo es noch Wachstum gibt, und wo die Regelungsdichte, was die Ausgestaltung von Produktionsprozessen betrifft, das Gewinnstreben nicht erstickt, das müsse doch ausreichen, sich zum Wohle Deutschlands zu Wort zu melden.

Also fordert die AfD: „Öffnet endlich die unbeschädigte Röhre von North Stream 2, bevor die Deindustrialisierung Deutschlands unumkehrbar ist!“

Nun aber schlägt die große Stunde der allwissenden Erzähler.

Dass sie die Büchse der Pandora bis zu diesem Augenblick höchster Not geschlossen gehalten, und Deutschland damit durch explizites Nichtwissen vor dem Untergang bewahrt haben, das ist das Eine. Das andere – und das steckt nicht in der vorher angesprochenen Büchse – ist das, was sie sicher wissen.

Die allwissenden Erzähler wissen nämlich absolut sicher, dass die zweite Röhre von North Stream gar nicht heilgeblieben ist, dass man gar nicht versuchen muss, sie in Betrieb zu nehmen, weil sie schlicht und einfach auch viel zu kaputt ist, um sie sicher betreiben zu können, und selbst wenn sie noch heil wäre, was definitiv nicht der Fall sein kann, müsste sie erst zertifiziert werden, und das ist bekanntlich aufgrund der allgemein bekannten Sachlage schlicht unmöglich, denn daran hat selbst die Sabotage nichts ändern können.

Und woher wissen sie das?

Auch das unterliegt nicht der Geheimhaltung. Den Schlüssel dafür hat gestern die WELT geliefert, als sie die Meinung ihres außenpolitischen Chefkorrespondenten, Clemens Wergin, mit der Titelzeile versah:

Wir müssen jede Aussage Putins erst einmal als Lüge betrachten.

Damit hätte sich der AfD Fraktionsvize Holm die Antwort der Bundesregierung auf seine parlamentarische Anfrage nach der Nutzung der laut Putin verbliebenen Röhre eigentlich selbst geben können. Die lautete nämlich:

„Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Sabotageakt mit starken Explosionen negative Auswirkungen auf beide Pipelinestränge hatte und die grundsätzliche technische Verfügbarkeit somit aktuell nicht mehr gegeben ist.“
Und damit Herr Holm gar nicht erst auf die Idee kommt, zu fragen, warum man es nicht einfach versucht, einfach mal nachsieht, ob da nun Gas ankommt oder nicht, wurde auch noch die Sache mit der fehlenden Zertifizierung nachgeschoben.
Es gibt zwar, so die allwissenden Erzähler an anderer Stelle, für sie keine roten Linien mehr. Was sie wollen, das tun sie auch. Aber das muss ja nicht heißen, dass sie auch tun müssten, was sie nicht wollen, und wenn dieses Nichtwollen vielleicht nicht bei allen Wählern auf vollstes Verständnis stoßen sollte, da wäre es doch ausgesprochen dumm, die selbst verhängte bürokratische rote Zertifizierungslinie ohne Not zu überschreiten. Wo bliebe denn da das Vertrauen der Bürger in die Gesetzestreue ihrer Regierung?