Maßnahmen gegen Andersdenkende

Im Zusammenhang mit der Erweiterung jener Handlungen, die nach Paragraph 130, 5 StGB als Volksverhetzungen strafrechtlich zu verfolgen sind, wird in vielen Diskussionsbeiträgen relativ sorglos der Begriff „Andersdenkende“ benutzt.

Indem aber erklärt wird, die Inhaber der Staatsmacht würden Maßnahmen gegen Andersdenkende ergreifen oder ergreifen wollen, wird die Idee der Trennung von „richtigem“ und „anderem“ Denken faktisch akzeptiert, was bestenfalls dazu führt, dass die „Andersdenkenden“ das ihnen verpasste Etikett abstreifen und es jenen ans Revers heften, die von sich behaupten, die richtigen Gedanken zu hegen.

Wenn ich die „Idee der Demokratie“ richtig verstanden habe, dann muss ihr ein Erkenntnisprozess vorausgegangen sein, der zu dem Wissen führte, dass das Wunder, dass in einer wichtigen Frage alle Beteiligten und alle Betroffenen von vornherein einer Meinung sind, in ihrem Denken also von den gleichen Voraussetzungen ausgehend zu den gleichen Schlüssen kommen, seltener zu bestaunen sein wird als ein Dukaten scheißender Esel.

Womöglich hat schon damals jemand den Gedanken gefasst, dass im Grunde alle Menschen für alle anderen Menschen in allen möglichen Belangen „Andersdenkende“ sind, dass es im Prinzip nichts als „Andersdenkende“ gebe, weshalb es im Grunde unklug und nicht zielführend sein könne, sich in jeder Frage von Bedeutung so lange die Schädel einzuschlagen, bis nur noch eine Fraktion – geeint sowohl aus Überzeugung als auch als Angst um Leib und Leben – übrig ist.

Die Grundlage der Demokratie ist die Akzeptanz der Tatsache, dass unterschiedliche Menschen, die aus unterschiedlichen Verhältnissen stammen und unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Lebenserfahrungen gesammelt haben, auch unterschiedliche Ziele und Wertvorstellungen entwickeln.

Der Ansatz der Demokratie zur Problemlösung besteht darin, Wertvorstellungen, Ziele und Lösungswege offen auszutauschen und in der Diskussion zu einer Lösung zu finden, die für die Gesellschaft insgesamt die meisten Vorteile und die wenigsten Nachteile mit sich bringt. In einer Gesellschaft mit einem tragfähigen Grundkonsens, wie er in Deutschland zum Beispiel in Form des Grundgesetzes immer noch nachlesbar vorliegt, wird diese friedliche Auflösung unterschiedlicher Interessen stets möglich sein, auch dann, wenn eine Entscheidung am Ende nur mit einer hauchdünnen Mehrheit zustande kommen sollte.

Der Versuch, diesen demokratischen Prozess dadurch abzukürzen, dass ein zulässiger Meinungskorridor festgelegt wird, ist prinzipiell sogar sinnvoll. Er sollte sich jedoch darauf beschränken, Ziele und Absichten auszuschließen, die sich gegen den Bestand des Staates (in seiner Gesamtheit aus Staatsvolk, Staatsgebiet und jenem Ordnungsrahmen, den sich Volk im optimalen Fall als Verfassung selbst gegeben hat) richten. Zur Abwehr von himmelschreiendem Blödsinn jeglicher Art sollte hingegen das Mehrheitsprinzip vollständig ausreichen.

Es gab jedoch einen zweiten Erkenntnisprozess, dahingehend, dass es in einem Rechtsstaat nicht möglich sein kann, Fragen von Schuld und Sühne von Parlamenten mit ihren immer wieder wechselnden Mehrheiten entscheiden zu lassen, dafür braucht es Gerichte, unabhängige Richter und eine faire Prozessordnung. In übergeordneten völkerrechtlichen Fragen, in denen Parlamentsmehrheiten regelmäßig im Sinne ihrer Verbündeten parteiisch sein werden, verbietet sich eine Schuldzuweisung durch ein Parlament erst recht. Hier sind überstaatliche, unparteiische Institutionen anzurufen, die auf Basis des Völkerrechts, das ja längst mehr ein Gewohnheitsrecht als codifiziertes Recht ist, ein Urteil fällen und darüber entscheiden, ob ein Fall von Völkermord, von Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Dass es schwer ist, solche unparteiischen Institutionen zu finden, ist kein Freibrief für eine Abstimmung in irgendeinem Parlament zu derartigen Fragen.

Selbst als der Deutsche Bundestag am 2. Juni 2016 darüber abstimmte, ob die Massentötung von Hunderttausenden Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord eingzustufen sei, hütete man sich davor, die von fast allen Abgeordneten geteilte Meinung, es sei Völkermord gewesen, in eine Anklage gegen die Türkei münden zu lassen. Es gelte nur den richtigen Begriff zu verwenden, hieß es, um den Versuch der Aussöhnung nicht von vornherein durch Vertuschung und Beschwichtigung zum Scheitern zu führen. Einige Debattenbeiträge dazu sind im Webarchiv des Deutschen Bundestages nachzulesen. Dass die Bundeskanzlerin an dieser Abstimmung nicht teilgenommen hat, ist dort allerdings nicht überliefert. Allerdings findet sich im gleichen Archiv an anderer Stelle die Information darüber, dass einerseits die Bundeskanzlerin Merkel, der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel  und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier  der Abstimmung ferngeblieben seien und dass andererseits ein türkisches Gesetz besteht, nach dem Personen in der Türkei wegen „Beleidigung der türkischen Nation“ belangt werden können, wenn sie sich, wie die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern aussprechen würden. Letzteres mag gerne als ein Beleg für die oben angesprochene, außenpolitische Parteilichkeit von Parlamenten angesehen werden.

Nun hat die Bundesregierung mit den Stimmen ihrer Fraktionen im Deutschen Bundestag, wobei von deren Abgeordneten bei der Abstimmung höchstwahrscheinlich weniger als die Hälfte anwesend war, den keineswegs unabhängigen, sondern an die Weisungen des der Regierung angehörenden Justizministers gebundenen Staatsanwälten, den Auftrag erteilt, in einer noch nicht abschätzbaren Zahl von Einzelfällen darüber zu befinden, ob eine Kriegshandlung, die von einem Beschuldigten nicht eindeutig als Kriegsverbrechen verurteilt, also geleugnet, sondern möglicherweise sogar gebilligt wurde, als Kriegsverbrechen einzustufen ist und der Beschuldigte deshalb zu bis zu drei Jahren Haftstrafe zu verurteilen sei.

Natürlich hat der Staatsanwalt nicht die geringste Chance, sich in hinreichendem Maße über die infrage stehende Handlung zu informieren. Es stehen ihm, gerade bei noch voll entbrannten Kampfhandlungen, kaum unabhängige Zeugen zur Verfügung und eine Einvernahme der Beschuldigten scheint in den allermeisten Fällen ebenfalls ausgeschlossen. Dem Staatsanwalt stehen kaum andere Mittel zur Aufklärung zu Verfügung, als sich an den Redetexten des Bundeskanzlers und seiner Minister zu orientieren, gegebenenfalls der Argumentation der Vertreter des vermeintlich oder tatsächlich von Kriegsverbrechen betroffenen Staates zu folgen, und dies alles auch nur in dem Maße, in dem von den Qualitätsmedien darüber berichtet wird.

Es wird dann so kommen, dass der Staatsanwalt sich bei der Feststellung eines Kriegsverbrechens  auf die im Gebrauch des § 130 StGb gern genutzte Formel der „Offenkundigkeit“ zurückziehen wird, gegen die kein Einspruch möglich ist, weil der Beschuldigte, der ja lediglich eine ihm ebenfalls im Detail nicht bekannte Handlung nicht verurteilt oder sie sogar gebilligt hat, noch weniger als der Staatsanwalt in der Lage ist, einen Beweis zu führen, in der Lage sein kann, zum Gegenbeweis anzutreten.

Die Entscheidung über das Vorliegen eines Kriegsverbrechens liegt also im Zweifelsfall alleine bei Medien und Propaganda-Organen und wird bei jedem Verdacht, jemand könnte eines der vielen Kriegsverbrechen gebilligt haben, als gegeben vorausgesetzt werden.

Selbst im Fußball wird der Fan, der ein Foul im Strafraum der eigenen Mannschaft mit dem empörten Ruf: „Schwalbe!“ kommentiert, nicht abgeführt und zu drei Wochen Sozialarbeit verurteilt, weil im Zweifelsfall erst der Video-Schiedsrichter im Kölner Keller nach mehrmaligem Ansehen der Szene aus unterschiedlichen Perspektiven zu dem Schluss kommen könnte, dass es tatsächlich keine Berührung gegeben hat. Ausgeschlossen ist es allerdings nicht, dass der DFB, dem Vorbild des Gesetzgebers folgend, irgendwann zu dem Schluss kommen könnte, Meinungsäußerungen von Zuschauern während des Spiels, seien geeignet den Frieden zu stören und strikt zu unterbinden.

Es wird also in Deutschland forthin Recht sein, dass eine Meinungsäußerung zu einem ungeklärten Vorfall, soweit sie nicht der regierungsamtlichen Meinung folgt, strafbar ist. Dabei geht es nicht um eine endgültige Abklärung des Vorfalls selbst, sondern ausschließlich um die Einlassungen des Beklagten dazu, soweit Staatsanwalt und Richter zu der Auffassung gelangen, dass diese Einlassungen geeignet sein könnten, den öffentlichen Frieden zu stören.

Hermann Höcherls klare Ansage von 1963: „Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“, entschuldigt derzeit nicht nur Beamte, sondern auch die Regierung, das Parlament, sowie Staatsanwälte und Richter.

Denn ob der neue Absatz 5 des Paragraphen 130 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist, das vermöchte wohl nur noch der Videoschiedsrichter zu entscheiden, so er denn bereit wäre, sich damit zu befassen.

Ich fordere, von der demokratischen Fankurve her,
stimmgewaltig einen Elfmeter.