Gestern war es draußen noch sonnig. Der Kran der Dachdecker surrte. Der große Container füllte sich und die Paletten mit den neuen Dachplatten leerten sich. Am Abend setzte Regen ein.
Heute Morgen regnet es weiter. Hunderte Kilometer von uns entfernt liegt Julies Nichte im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Nicht wegen Corona. Ein Auto-Unfall, am späten Sonntagnachmittag. Wir warten bang auf neue Informationen, auf ein Zeichen, dass es aufwärts geht. Als das Telefon um halb acht klingelt geht ein Stich durchs Herz.
Dann war es wieder nur einer jener vermaledeiten Werbe- oder Pishing-Anrufe. Es meldet sich niemand. Genuscheltes Englisch vom Band. Auflegen und den Puls wieder runterfahren.
Wolfgang Schäuble hat gesagt, das Grundrecht auf Leben sei kein absoluter Wert. Gemeint hat er, wir müssten mehr Infektionen und mehr Tote durch Corona in Kauf nehmen. Dann hangelt er sich mit der fragwürdigen Argumentation zur Rechfertigung seiner Aufforderung so durch: Nur die Menschenwürde, die sei absolut.
Tübingens grüner OB ergänzt, unabhängig von Schäuble: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Ein paar Stunden später entschuldigt er sich, da sei er missverstanden worden.
Erinnert sich noch jemand an Philpp Mißfelder? 2003 wollte er die Kosten im Gesundheitswesen senken: „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“ Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen. Was würde er uns heute zurufen, wäre er nicht vor fünf Jahren an einer Lungenembolie gestorben?
Es gibt noch mehr Stimmen, die sich in der Abwägung zwischen brummender Wirtschaft und dem Leid, das Krankheit und Tod bei zu früher Lockerung der Einschränkungen erzeugen werden, gegen das Leben und für den Mammon entscheiden. Da werden sogar Horrorszenarien an die Wand gemalt, dass zunehmende häusliche Gewalt und in der Isolation entstehende Depressionen weit mehr Todesopfer fordern werden als wenn man der Pandemie einfach freien Lauf ließe. Eine Argumentation, die von kranken Hirnen aus der Luft gegriffen wurde, nur um die Solidarität der Masse der Bevölkerung, die mehrheitlich die Maßnahmen billigt, zu brechen, um der Angst vor dem Verlust von Gesundheit und Leben eine andere, noch schlimmere Angst entgegenzusetzen, bis die Menschen – orientierungslos zwischen Pest und Cholera – ihren gesunden Menschenverstand an den Nagel hängen und den Anweisungen der im sicheren Abstand bleibenden Leithammel folgen.
Vor ein paar Tagen noch tönte es aus den Höhen der Politik, man dürfe es nicht soweit kommen lassen, dass Ärzte unter den Patienten eine Auswahl treffen müssten, wer mit Behandlung noch eine Überlebens-Chance habe und wen sie, vollgepumpt mit Schmerzmitteln sterben lassen müssten. Das zu vermeiden, ist uns in Deutschland, trotz vollkommen unzureichender Vorsorge für einen solchen Katastrophenfall bisher gelungen. Doch Schäuble und Palmer stellen sich nun auf die andere Seite und sagen mit ihren Erklärungen ganz unverblümt: Wir müssen viele Todesopfer durch eine neue Ansteckungswelle in Kauf nehmen.
Nichts anderes verbarg sich hinter dem Plan, die Zahl der Krankenhäuser von noch 1.600 auf künftig 300 reduzieren. Große, zentrale Kliniken, mit Spezialisten für jede Art von Krankheit, seien einfach besser als die vielen kleineren übers Land verteilten Kliniken, die nicht immer in der Lage wären, die bestmögliche Behandlung anzubieten. Dass die Isolation eines Kranken, der über hundert Kilometer entfernt von seinen Lieben im Krankenbett vom überlastetem Personal weder Zuspruch noch menschliche Wärme erfährt, schlimmer ist, als die Isolation einer Familie, die immer noch zusammen draußen spazierengehen darf, spielte bei dieser Überlegung keine Rolle. Und dass die Zahl der Notfallpatienten, egal ob es sich um Herzinfarkt, Schlaganfall, ein geplatztes Aneurysma oder ein Unfallopfer handelt, die aufgrund des weiten Anfahrtsweges der Sanitäter die Klinik gar nicht mehr lebend erreichen, oder während des Transports irreversible Schäden erleiden, stark ansteigen wird, spielte in dieser Denkweise sicher auch nur eine untergeordnete Rolle.
Glaubt jemand, die Schnoddrigkeit, mit der Angela Merkel sagte:
„Nun sind sie halt mal da“,
ließe sich noch steigern,
indem man vor dem neuen Problem versagend erklärt:
„Nun sind sie halt mal tot“?
In einem meiner letzten Beiträge habe ich darauf hingewiesen, dass es sich beim Großteil der wirtschaftlichen Schäden, die durch die Einschränkungen, von denen die Wirtschaft betroffen ist, entstehen, nicht um „reale Schäden“ handelt. Ich muss das heute nochmals in Erinnerung rufen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden durch den Lockdown keine Werte vernichtet. Fabrikhallen und Bürogebäude stürzen nicht ein, wenn die Arbeit ruht. Maschinen, die am Freitagabend abgeschaltet wurden, springen nach zwei Monaten genauso wieder an, wie sie jeden Montag wieder anspringen. Für Produkte, die nicht gefertigt werden, braucht auch kein Material beschafft zu werden, es braucht weder Strom, noch sonstige Energieträger, um Maschinen und Anlagen zu betreiben. Für die Bezahlung der Mitarbeiter kommt letztlich über Kurzarbeitergeld oder andere Transferleistungen die Solidargemeinschaft auf.
Wo also ist der Schaden?
Der Betriebswirtschaftler in mir sagt mir, dass es neben den „Variablen Kosten“, die durch Art und Umfang der Produktion, bzw. der Dienstleistung entstehen, und die bei einer vorübergehenden Stillegung eines Unternehmens nicht entstehen, auch die „Fixkosten“ gibt, die unabhängig von der Auslastung des Betriebes anfallen.
Bei den Fixkosten handelt es sich beinahe ausnahmslos um Kosten, mit denen die Inanspruchnahme von Kapital oder anderen Eigentumsrechten zu entgelten ist.
Ein Teil dieser Fixkosten ist fiktiv, also lediglich kalkulatorisch zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich um Abschreibungen auf errichtete und (längst) bezahlte Gebäude, Maschinen und Einrichtungen, sowie letztlich alles, was dem Unternehmen gehört und über die Zeit gestreckt in den Preisen weitergegeben wird. Für Abschreibungen muss keine Liquidität verwendet werden. Es ist eine reine buchhalterische und kalkulatorische Angelegenheit, für die man einerseits in den Unternehmen selbst und andererseits von Seiten des Gesetzgebers Regelung treffen könnte, welche die Bilanzen der Unternehmen und die Gewinn- und Verlustrechnung nicht beeinträchtigen.
Ein anderer Teil der Fixkosten verursacht jedoch Mittelabflüsse. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um Miet- und Pachtzinsen, um Leasingraten, Lizenzabgaben und um Kreditzinsen, zum Teil auch um betriebliche Pensionszahlungen, obwohl diese in der Regel ausgelagert sind und aus einem Kapitalstock befriedigt werden.
Die Vernunft sollte allen Beteiligten gebieten, für die Zeit des aufgrund einer Naturkatastrophe erzwungenen Stillstands ein Moratorium zu beschließen, also alle fälligen Zahlungen so lange auszusetzen, und erst ab dann und in dem Maße wieder fortzusetzen, wie die Nutzung des gemieteten oder geliehenen fremden Kapitals wieder stattfindet. Wo die Vernunft nicht ausreicht, muss der Gesetzgeber diese Möglichkeit verbindlich vorsehen, einschließlich der notwendigen Vorgaben für die buchhalterische Behandlung bei Vermietern und Kreditgebern. Ich stelle mir das weit weniger grundrechtsverletzend vor als ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder die Verhängung von Ausgangssperren und Maskenpflicht. Vor allem werden dadurch keine zusätzlichen Polizei- und Ordnungskräfte gebunden.
Klar, und unwidersprochen, ist das Argument, die Unternehmen könnten wegen des Lockdowns keine Umsätze und daher auch keine Gewinne erzielen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie schlimm das für ein Unternehmen ist.
Der kleine Einzelunternehmer, der zur Sicherung seines Lebensunterhaltes auf den Gewinn angewiesen ist, gehört sicherlich zu den besonders Betroffenen. Nach den hier gemachten Vorschlägen, verursacht sein Geschäft während der Stilllegung jedoch auch keine (nennenswerten) Ausgaben, die seine Rücklagen aufzehren würden. Zudem sind staatliche Hilfen vorgesehen, die zwar, wie wir aus Erfahrung wissen, nicht ganz so einfach und nicht ganz in dem Umfang bereitgestellt werden, wie es verkündet wird, aber ganz ohne staatlichen „Schutzschirm“ steht niemand da. Außerdem sollte bedacht werden, dass in einer Situation, in der freigestellte Arbeiter und Angestellte den Gürtel enger schnallen müssen, auch der Unternehmer ggfs. notwendige Einschränkungen im Konsumverhalten verkraften können sollte.
Problematischer sieht es im Bereich der Kapitalgesellschaften aus. Wo keine Gewinne – und folglich auch keine Dividenden – erwartet werden, verlieren Unternehmensanteile an Wert. Die Börsenkapitalisierung bricht ein und es droht die Gefahr der feindlichen Übernahme, wenn nicht gar des Ausverkaufs ganzer Branchen an (ausländische) Investoren.
Auch dagegen wäre ein Kraut gewachsen. Man könnte den Börsenhandel derart regulieren, dass die Kursbildung aufgrund von Angebot und Nachfrage unterbleibt, der Handel jedoch fortgesetzt werden kann, allerdings mit fixen Kursen, die an einem festzulegenden Stichtag vor Ausbruch der Krise an der Tafel standen, meinetwegen zum Höchstkurs der letzten 12 Monate.
Unter diesen Voraussetzungen, und wohl wissend, dass die Versorgung der Bevölkerung nicht nur mit dem Lebensnotwendigsten, sondern mit vielen weiteren Produkten aus den immer noch weiter laufenden Unternehmen gesichert ist, hätte die ganze Pandemie, trotz der schrecklichen Krankheit, für die nicht Betroffenen den Character eines Sabbaticals. Gelegenheit zur Selbstfindung unter bewusst in Kauf genommenen Einschränkungen, so ähnlich, wie es viele halb leerstehende Klöster als Ruhe- und Besinnungsurlaub in ihren spartanischen Zellen anbieten.
Schäuble suggeriert, man müsse das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu Gunsten der Menschenwürde der nicht Betroffenen beschneiden. Das ist Verhöhnung auf höchstem Niveau. Denkt man den Gedanken weiter, dürfte in keinem Krieg mehr ein Trupp Sanitäter ausrücken, um Verwundete zu bergen, Feuerwehrleute müssten sich darauf beschränken, von außen Wasser auf das brennende Dach zu spritzen, statt im Vollbrand noch nach schlafenden Bewohnern im Haus zu suchen, Hilfen für Schüler mit Lernschwäche könnten zu Gunsten derjenigen mit schnellerer Auffassungsgabe unterbleiben, ja, es wäre in diesem Sinne auch vorstellbar, Langzeitsarbeitslosen die staatliche Unterstützung vollständig zu entziehen, weil deren Leben der Menschenwürde der noch Beschäftigten im Wege steht. Denken Sie selbst ein Stück weiter.
Wir sind ein starkes Land. Lassen wir es nicht zu einem Land der Starken, der Reichen und Gesunden verkommen.
Die Einigkeit der Starken und Reichen ist nicht die Einigkeit des deutschen Volkes, wie sie in unserer Nationalhymne verankert ist.
Ich sitze hier in Elsendorf am PC, der Regen hat ein wenig nachgelassen. Wetteronline macht Hoffnung, dass die Dachdecker morgen wieder arbeiten können. In Gedanken sind wir beide bei Julies Nichte, bei aller Sorge sind wir aber froh, dass es die Menschenwürde der Sanitäter noch zugelassen hat, die lebensgefährlich Verletzte zu bergen, dass es in geringer Entfernung zum Unfallort noch eines jener kleinen Krankenhäuser gibt, mit Ärzten, die sie stabilisieren konnten und ihr in einem langen, schwierigen Prozess auch wieder zu einem selbstbestimmten und glücklichen Leben verhelfen werden.
Ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem es immer noch Situationen gibt, in denen das vermeintliche Recht auf maximale Rendite noch nicht über das Recht auf Leben dominiert.