Deutschland profitiert am meisten

Der Spruch, seit Jahrzehnten rituell benutzt wie ein alter Teebeutel, der immer wieder aufgegossen wird, hat mit der Realität nichts zu tun. Es ist eine platte  Lüge, die zu jener Sorte gehört, von der man sagt: Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann wird sie auch geglaubt.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass dem üblicherweise keine Begründung folgt, schon gar keine nachvollziehbare Berechnung des angeblichen Profits?

Vielleicht wäre das ja ein starkes Thema für eine kleine Anfrage an die Regierung …

Vermutlich käme als Antwort der Verweis darauf, dass die deutsche Wirtschaft auf den Export angewiesen ist und daher vom gemeinsamen Markt am meisten profitiert, was ja am Exportüberschuss gegenüber den anderen EU-Staaten klar abgelesen werden könne.

Vom Gesamtexport in Höhe von 1.328 Milliarden Euro seien 2019 schließlich 777 Milliarden in die EU-Staaten gegangen.

Ja, das stimmt. Doch es stellen sich gleich mehrere Fragen:

  1. Wer sagt denn, dass die Exportleistung Deutschlands in den Kreis dieser Länder ohne EU und ohne Euro nicht die gleiche Größenordnung erreicht hätte?
  2. Deutschland hat aus den EU Staaten im gleichen Jahr nur Waren und Leistugen im Wert von 631 Milliarden erhalten. Das heißt: für Exportleistungen in Höhe von 146 Milliarden Euro ist kein vergleichbarer Gegenwert in Deutschland angekommen. Warum nicht? (Geld zählt hier nicht, denn Geld kann man nicht essen.)
  3. Woher nehmen die Volkswirtschaften, die unsere Exporte aufnehmen, aber selbst weniger an uns exportieren, das Geld, mit dem sie bezahlen?
  4. Warum rangiert Deutschland, wenn man das Median-Vermögen der privaten Haushalte betrachtet, innerhalb der EU auf einem so schlechten Platz? Warum haben die Italiener mehr als das Dreifache, die Griechen immer noch fast das Doppelte an Privatvermögen?
  5. Wie passt das dazu, dass Deutschland die übrigen Euro-Staaten „ewig“ anschreiben lässt, ohne je die Zahlung einzufordern? Da stehen jetzt 935 Milliarden an der Tafel, die sich Target 2 Saldo nennt?

 

Die Bundesrepublik Deutschland war, seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts, kaum dass der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und Fabriken in Schwung gekommen war, lange vor dem Anschluss der neuen Bundesländer, mit der Deutschen Mark als Währung, eine starke Exportnation. Es gab Vollbeschäftigung und über lange Zeit stetig wachsenden Wohlstand. In den sechziger und siebziger Jahren wuchsen die Frei- und Hallenbäder wie Pilze aus dem Boden. Städte und Gemeinden errichteten stolze neue Rathäuser und Schulgebäude und schmückten die Innenstädte mit aufwändig gestalteten Fußgängerzonen. Landstraßen und Autobahnen wurden wie am Fließband gebaut und ordentlich instandgehalten. Bahnen und Busse fuhren auch auf dem flachen Land (wo es heute nur noch stillgelegte Bahnhöfe und abgerissene Gleisanlagen gibt) mit zufriedenstellend kurzer Taktung. Den meisten Familien genügte ein Einkommen, um mit zumeist zwei oder drei Kindern auskömmlich leben zu können.

Der Prozess der Annäherung der europäischen Staaten, der mit der Montanunion 1952 (EKGS – Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) begonnen wurde, und schon 1958 mit der Gründung der  Zollunion „EWG“ (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und „EURATOM“ als Kernkraftförderungsgemeinschaft erweitert wurde, 1967 zur Zusammenlegung von EKGS, EWG und EURATOM  zur EG (Europäische Gemeinschaft) führte, brachte tatsächlich Prosperität für die Mitgliedsstaaten. Doch seit der Gründung der EU mit den Verträgen von Maastricht 1993 und Lissabon 2007, der Schaffung der Institutionen Kommission, Rat, Parlament, dem Versuch, die nationalen Parlamente zu entmachten, nationale Gesetzgebung durch EU-Recht zu verdrängen, also die Demokratie der Nationalstaaten zu beschädigen und durch demokratisch nicht legitimierte Personen und Institutionen zu ersetzen, wurde aus Deutschland, der einstigen Lokomotive der Weltwirtschaft ein schwer beladener Packesel, der noch dazu verdonnert wurde, für alle anderen unaufhörlich Dukaten zu scheißen. Wenn wir von etwas am meisten profitieren, dann ist das die Zuwanderung, an der wir uns ohne die offenen EU-Binnengrenzen längst nicht so erfreuen könnten.

Das alles ging an die Substanz – und das kann überall besichtigt werden. Was Deutschland, auf sich gestellt, mit dem Fleiß und der Intelligenz der deutschen Bevölkerung bis in die achtziger Jahre auf die Beine gestellt und an Volksvermögen aufgebaut hatte, wurde in Privatvermögen umgewandelt, und was sich nicht verkaufen ließ, dem Verfall anheimgegeben. Wer sich noch an Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren erinnern kann, würde nie auf die Idee kommen, Deutschland habe von der EU und dem Euro profitiert. Selbst wer in der DDR sozialisiert und 1989 der BRD beigetreten wurde, muss mit Blindheit geschlagen sein, wenn er die Reste dessen, was Deutschland vor Maastricht und Schengen und der Währungsunion einmal war, als die Krone eines ausschließlich der EU und dem Euro anzurechnenden Wohlstands ansieht.

Am meisten profitiert? Noch nicht einmal „am wenigsten verloren“ wäre korrekt!

Wohnungsnot und Horrormieten, Millionen Arbeitslose – gezählte, wie nicht gezählte – ein Heer von Sozialleistungsempfängern, die höchsten Strompreise, die niedrigsten Renten (nur irische und schwedische Rentner werden noch karger alimentiert), die Schul- und Hochschulbildung kaputtgespart, 5.000 von 40.000 Brückenbauwerken in einem nicht ausreichenden oder ungenügenden Zustand, Hallenbäder wurden massenhaft geschlossen, Schwimmunterricht für Schüler findet praktisch nicht mehr statt, die Bahn fährt weiterhin ihren Fahrplänen mit kaputten Türen und Klimaanlagen hinterher – vom Zustand der Bundeswehr ganz schweigen.

Das war alles einmal ganz anders, und zwar besser. Sehr viel besser.

Aber wir waren doch letztes Jahr zum vierten Mal in Folge Exportweltmeister!

Stimmt. Waren und Leistungen im Wert von fast 300 Milliarden Dollar haben wir der Welt mehr gegeben, als wir von ihr erhalten haben.  So hat es wenigstens das Ifo-Institut ausgerechnet. Außerdem dürfen wir als größter Nettozahler der EU nicht nur mit einem um rund 40% steigenden Gemeinschaftsbeitrag die BREXIT-Lücke finanzieren und für die EU-Programme zur Corona-Hilfe ebenso haften, wie für alle vorangegangenen Euro-Rettungsprogramme und müssen noch dazu zusehen, wie die Bilanz der EZB, deren Hauptgesellschafter wir sind, geradezu explodiert, weil Schuldscheine fragwürdigen Wertes im Billionenumfang aufgekauft werden.

Deutschlands ganzer Stolz?

Man könnte auch sagen:

Deutschland wurde bei der Entkolonialisierung vergessen.

Und so lange es den Statthaltern gelingt, die Illusion von Wohlstand und Weltmeisterschaft aufrecht zu erhalten, so lange das Volk von Staatsfunk und Medien vom Gelächter des Auslands abgeschottet wird, so lange wir Deutschen wirklich glauben, am meisten zu profitieren, so lange wird das auch so bleiben.