Wer sagt denn, dass die EU eine Demokratie ist?

Die Nachsilbe „-kratie“ bezeichnet immer eine Herrschaftsform. Um welche Art von Herrschaft es sich handelt, zeigt das Basiswort an. Autokratie, Plutokratie, Bürokratie, Demokratie, Ochlokratie, Idiokratie, und so weiter …

Der Begriff  Demokratie ist für mich untrennbar mit dem Begriff Staat verbunden.  In Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland stimmen diese Begriffe zusammen, wenn es in Art. 20, GG heißt: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Was aber ist die EU?

Stellen Sie sich vor, jeder einzelne Nationalstaat der EU sei ein Omnibus. Manche dieser Busse sind ziemlich alt und anfällig für Pannen, manche sind klein und eng, andere sind riesengroße, vollklimatisierte Doppeldecker. Manche ziehen einen Anhänger hinter sich her. Das Bild einer großen Vielfalt. Kein Bus gleicht dem anderen. Aber es herrscht in allen diesen Reisebussen das gleiche Prinzip: Die Passagiere stimmen – demokratisch – darüber ab, wer von ihnen den Bus fahren soll, und der so gewählte Fahrer bestimmt das Ziel und die Reiseroute.

Was aber geschieht, wenn  die  gewählten Fahrer einen kleinen, elitären Verein gründen? Einen Verein, in dessen Kasse, alle Fahrer einen Teil der  von den Passagieren entrichteten Fahrpreise einzahlen, einen Verein, der eigene Angestellte beschäftigt, die unabhängig vom Willen der Passagiere Ziele und Routen für alle Busse festlegen und die Geld an jene Fahrer ausschütten, die diesen Routen folgen, während diejenigen, die weiterhin dahin fahren, wo ihre  Passagiere hinwollen, leer  ausgehen?

Der Verein der Busfahrer behauptet nun, dass der Verein demokratisch legitimiert sei, weil  schließlich alle seine weitgereisten und im wahrsten Wortsinne „erfahrenen“ Mitglieder von ihren jeweiligen Passagieren demokratisch gewählt wurden. Dass der Rat der Busfahrer bei der Festlegung der gemeinsamen Reise-Ziele und -Routen nicht mehr auf den Willen der Insassen einzelner Busse Rücksicht nehmen könne, liege doch in der Natur der Sache. Selbst wenn nicht ein einziger Passagier dahin fahren wollen würde, wo die gemeinsame Reise hingehen soll, wäre es doch immer noch besser, gemeinsam dieses von niemandem gewollte Ziel anzusteuern als 27 unterschiedliche Ziele. Wo kämen wir denn da hin?

Man kann es drehen und wenden wie man will: Der Rat der Busfahrer, der dem Verein der Busfahrer vorsteht, hat sich – per Vereinsgründung – von den Passagieren vollständig emanzipiert. Die Passagiere, die nach wie vor in ihren angestammten Bussen sitzen, dürfen zwar immer noch ihren Fahrer wählen, doch wohin die Reise gehen wird, das bestimmt nicht mehr der gewählte Fahrer, das bestimmt  – einstimmig – der Rat der Busfahrer.

An dieser Stelle muss kurz über die zweifelhaften Vorzüge der Einstimmigkeit referiert werden.

Die klassische Demokratie funktioniert ja nach dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Das bringt automatisch neben den Vertretern der Mehrheit, die (als Regierung) das Sagen haben, auch die Vertreter der Minderheit(en) als Opposition dazu hervor. Die Kunst besteht darin, Mehrheiten zu organisieren, und das wiederum beruht auf dem Versuch, es möglichst vielen recht zu machen. Wir erinnern den Sinnspruch: „Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.“

Einstimmigkeit herzustellen funktioniert ganz anders. Da versagt der Kompromiss, der ausreichen würde, eine Mehrheit zu organisieren, denn die Macht der Widerständler ist schier grenzenlos. Selbst wenn nur eine Stimme an der Einstimmigkeit fehlt, lässt sich auch der beste Plan nicht umsetzen. Das ermutigt geradezu dazu, sich quer zu stellen. Je wichtiger der Mehrheit ein Ziel ist, desto eher wird diese Mehrheit bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen, um den Widerständler umzustimmen. Auch wenn der Preis ganz offen bezahlt wird, handelt es sich dabei doch in aller Regel um das, was gemeinhin als „Schmiergeld“ bezeichnet wird, also um eine legal erscheinende Form der Korruption. Dem steht die nicht minder anrüchige Form der Beeinflussung der Widerständler gegenüber, die als  „Erpressung“ bekannt ist. Hier bleibt man allerdings im Geheimen und Verborgenen. Da werden Drohungen ausgesprochen, Folterwerkzeuge gezeigt, um das Einknicken zur Vermeidung eines größeren Schadens zu erwirken.

Einstimmigkeit entwickelt sich entweder zur vollständigen Lähmung oder zu mafiösen Machtstrukturen. Einstimmigkeit und Demokratie sind unvereinbare Gegensätze.

Schon bei der Gründung ihres Vereins waren sich die Busfahrer darüber im Klaren, dass ihre Passagiere ihrem verlorenen Einfluss auf Zielsetzung und Routenplanung nachtrauern würden. Um den Schmerz des Verlustes zu lindern, hat man den Passagieren angeboten, eine Art Beirat zu wählen, das Parlament der Passagiere.

Anders als andere gewählte Parlamente demokratisch verfasster Staaten, bestimmt aber die parlamentarische Mehrheit nicht darüber welche Partei die Regierung anführt. Die Regierung  wird vom Rat der  Busfahrer in eigener Machtvollkommenheit bestimmt. Das Parlament kann die vom Rat vorgeschlagene Regierung entweder ablehnen oder akzeptieren. Bei Ablehnung macht der Rat eben einen neuen Vorschlag. 

Ist die Kommission installiert, darf das Parlament – dem es verboten ist, sich eigene Themen zu setzen – über jene Vorhaben der Kommission diskutieren, die dem Parlament von der Kommission zu diesem Zwecke vorgelegt werden. Meist handelt es sich dabei um Vorhaben, die dem Rat nicht  wichtig sind. Sollte einmal ein Wichtiges darunter sein, besteht grundsätzlich auch die Möglichkeit, es  gegen das Votum des Parlaments durchzusetzen.

Eine Gefahr für die Durchsetzung der Absichten des Rates der Busfahrer besteht zu keiner Zeit.

Heute ist der Tag der Wahl.

Die Wahl zum Parlament der EU macht aber noch keine Demokratie. Die Macht dieses Parlaments entspricht allenfalls der Macht der Volkskammer der DDR.  Die Älteren erinnern sich: Die DDR, der Staat unserer Brüder und Schwestern im Osten, wurde vom Westen nie als Demokratie anerkannt.

Es ist aber nicht nur so, dass ein Verein, der kein Staat ist, der kein einheitliches Staatsvolk repräsentiert, der seine Außengrenzen nicht sichern kann und auch in wichtigen Themenbereichen keine einheitliche Rechtsordnung vorzuweisen hat, aus allen diesen Gründen keine Demokratie sein kann. Es ist schlimmer.

Dieser Verein, dem es durch den Widerspruch aus der Bevölkerung versagt geblieben ist, sich eine Verfassung zu geben und sich so zum Staat zu erheben, hat auch die Demokratie in den Mitgliedsstaaten demoliert.

Um ins Bild zurückzukehren: In jedem einzelnen Bus spielt der Wille der Passagiere, die immer noch ihren Fahrer wählen dürfen, keine ausschlaggebende Rolle mehr, weil der Fahrer den Beschlüssen des Rates der Busfahrer zu folgen hat, will er verhindern, dass seine Passeagiere mit dem Entzug von Fördermitteln oder mit einem Vertragsverletzungsverfahren bestraft werden. Es ist also so, dass sich Völker, wie zum Beispiel die Ungarn, in einem angeblich demokratischen Umfeld einer falschen Wahl schuldig machen können und vom Zentralkommissiarat  in Brüssel erst dann Absolution erhalten, wenn sie falsche Ergebnisse korrigieren, wie  zuletzt die Polen.

Wer sagt denn, dass die EU eine Demokratie ist?

Diese Frage verharmlost den Zustand noch. Sie muss weiter gefasst werden.

Wer sagt denn, dass es innerhalb der EU überhaupt noch eine Demokratie gibt, wenn die EU keine ist, aber weitgehend die Politik der Mitgliedsstaaten dominiert?