Selbstverschuldeter Gas- und Ölmangel befeuern jetzt den wirtschaftlichen Großbrand

Es war die Meldung darüber, dass der Einzelhandelsverband sofortige Staatshilfen fordert, weil sonst die Läden schließen müssten, die jenen Gedankengang ausgelöst hat, an dem ich Sie mit diesem Aufsatz teilhaben lassen möchte. Die Finanzmarktwelt begann den diesbezüglichen Artikel so:

„Der deutsche Einzelhandel schreit nach Hilfe.
Eine Pleitewelle droht.
Und das Konsumklima fällt ins Bodenlose.“

Mehr Dramatik in einem Wirtschaftsmedium unterzubringen, ist eigenlich kaum möglich. Gibt es denn wirklich nichts mehr, was zur Beschönigung der Lage und zur Beruhigung des Publikums angeführt werden kann?

Nein. Die Wundertüte ist leer. Ende. Aus. Amen.

Die Pipeline an deren Anfang die Erzeugung und an deren Ende der Konsum stehen, ist außer Funktion. Was wir sehen und noch nicht vollends begreifen, ist das Phänomen der sich selbst verstärkenden Rückkopplung in einem von Zauberlehrlingen nicht verstandenen und zur Optimierung zweitrangiger Parameter absichtlich falsch verschalteten System.

Die Frage, ob dieses System noch zu retten ist, kann momentan nicht mit letzter Gewissheit beanwortet werden. Einerseits gibt es da noch jene „alten weißen Männer“, die wüssten, wie mit einigen beherzten Eingriffen die vollständige Implosion vermieden werden könnte, andererseits sind die Zauberlehrlinge trotz aller erkennbaren Fehlfunktionen und Schadensereignisse überzeugt, dass das von ihnen modifizierte System – nach gewissen unvermeidlichen Reibungsverlusten während des Transformationsprozesses – schöner, besser und zufriedenstellender funktionieren werde als je zuvor.

Die alten weißen Männer sind der Auseinandersetzung jedoch längst müde geworden. Nicht wenige von ihnen freuen sich schon auf den Augenblick, in dem sie, angesichts der  vollständigen Zerstörung, für sich reklamieren können, recht behalten zu haben.  Ob die Zauberlehrlinge überhaupt auf die Idee kommen werden, einen der alten Meister zu rufen, ist ebenfalls höchst fragwürdig.

Der Glaube daran, dass die Veränderung eines Parameters, nämlich die Verteuerung der Energie, sich ausschließlich dämpfend auf den Energieverbrauch auswirken werde, während alles andere unverändert  bleibt, ist ein grotesker Irrglaube.

Der Glaube daran, dass die Verteuerung der Energie durch die Herstellung von Knappheit noch verstärkt wird, so dass der Energieverbrauch noch weiter zurückgeht, während immer noch alles andere unverändert bleibt, ist gleich ein doppelter (Wumms!) Irrglaube.

Die Verteuerung von Energie löst zwar Spareffekte aus, aber eben nicht nur bei der Energie.

Sowohl die Wirtschaft als auch die Konsumenten sind durch die Verteuerung der Energie zu problematischen Entscheidungen gezwungen, die teils nur reine Budget-Umschichtungen darstellen, teils aber weit darüber hinausreichende Folgen haben.

Beim Bäcker treffen diese Entscheidungen sichtbar aufeinander. Die Backwarenkäufer beschließen, statt der Produkte des Handwerksbäckers die deutlich billigeren Produkte der Industriebäckereien im Supermarkt zu kaufen. Der Bäcker müsste wegen seiner Gasrechnung (Mehl ist übrigens auch teurer geworden) eigentlich die Preise erhöhen, er sieht aber, dass sein Umsatz sowieso schon rückläufig ist und zieht die Konsequenzen. Er macht dicht.

Bei anderen Produkten ist der Effekt nicht so augenfällig.

Doch: Wer auch immer in diesem unseren Lande etwas produziert, ob Toilettenpapier oder Limonade, ob CNC-Maschinen oder Lastkraftwagen: Die Energiepreisverteuerung erhöht die Kosten, drückt auf den Gewinn oder führt gar zu Verlusten. Es müsste also teurer verkauft werden.

Aber: Wer auch immer in diesem unseren Lande konsumiert, ob der Transferleistungsempfänger oder sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer, ob der Physiotherapeut oder der Manager im Großunternehmen: Die Energiepreisverteuerung schmälert sein für den Lebensunterhalt verfügbares Budget, und wo die Einkommen und die Ansprüche hoch sind, ist zumindest die Sparleistung eingeschränkt.

Die Folge, in der gesamten Breite der Volkswirtschaft: Markträumung ist bei notwendigerweise steigenden Preisen und zugleich schwindender Kaufkraft nicht mehr möglich. Nicht absetzbare Überproduktion führt jedoch zu Kapazitätsanpassungen, was nahezu in jedem Fall dazu führt, dass Arbeitskräfte freigestellt werden. Das führt zum Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu einer weiteren Minderung der Kaufkraft, weil Arbeitslose eben nicht mehr über ihr gewohntes Gehalt verfügen können.

Teile der Wirtschaft versuchen, dem Chaos durch Produktionsverlagerung zu entgehen. Sie legen ihre Produktion in Deutschland still und bauen sie in den USA oder in Ungarn, halt da, wo die Energie nach wie vor preiswert und nicht knapp ist, wieder auf. Ob sie die in den neuen ausländischen Fabriken erzeugten Waren aber in Deutschland wieder absetzen können, ist fraglich. Schließlich haben sie mit der Verlagerung die Arbeitslosigkeit weiter angeheizt, die Kaufkraft noch weiter reduziert als sie schon durch die Energiekosten  reduziert wurde, so dass zumindest angenommen werden kann, dass sie, wenn sie schon weiter in Deutschland verkaufen, dann doch nur geringere Stückzahlen absetzen können. Es sei denn, der Kostenunterschied ist so groß, dass sie weiter in Deutschland produzierende Konkurrenz vom Markt verdrängen können. Die Folge sind weitere Geschäftsaufgaben und Insolvenzen sowie ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Eine ziemlich ausgewogene Volkswirtschaft, in der Angebot und Nachfrage weitgehend im Einklang stehen, ist das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses, der im wesentlichen von unternehmerischen Entscheidungen angetrieben wird und absolut davon abhängig ist, dass die Liquidität für die permanent erforderlichen Geldflüsse im System  stets an den richtigen Stellen vorhanden und abrufbar ist.

Es ist bereits jetzt feststellbar, dass die bei den Konsumenten noch vorhandene Liquidität nicht mehr abrufbar ist, weil die Leute in Erwartung der Heizkosten- und Stromabrechnungen und auch in Erwartung des drohenden Arbeitsplatz- und Einkommensverlustes ihre Groschen zusammenhalten. 

Da muss dann ein großer Schuhhändler wie Görtz, mit 160 Filialen und 1.800 Mitarbeitern Insolvenz anmelden. Radeberger schließt die Binding Brauerei in Frankfurt und Dr. Oetker muss jährlich 250 Millionen Euro einsparen und dazu auch Stellen abbauen.

Die Lage entspricht jenem Begriff, der bei der Beschlussfassung über die Schuldenbremse im Jahr 2005 geschaffen wurde, um Ausnahmen vom Neuverschuldungsverbot zu ermöglichen.

Wir erleben und erleiden hautnah, was es heißt, von einer massiven
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
betroffen zu sein.

Die Löhne und Gehälter reichen nicht mehr aus, um neben den Energiekosten im gewohnten Umfang Konsumausgaben zu ermöglichen. Der Wohlstand sinkt.

Die Kosten der Wirtschaft steigen durch die Energiekosten, können aber nicht mehr an die Konsumenten weitergegeben werden. Ein wirtschaftlicher Betrieb ist nicht mehr, bzw. nur noch eingeschränkt möglich.

Nun sieht das Problem auf den ersten Blick aus, als sei es ein reines Geldproblem.

Die Bundesregierung scheint es bei diesem ersten Blick belassen zu haben, sonst würde sie nicht versuchen, mit 200 Milliarden im Doppel-Wumms-System Geld ins System zu pumpen, das sowohl bei den Konsumenten als auch bei der Wirtschaft ankommen soll.

Sollte es dabei bleiben, werden wir in nicht allzuferner Zukunft erleben, dass die 200 Milliarden weg sind, ausgegeben, verbrannt, ohne dass sich am bewusst und absichtlich falsch verschalteten System etwas ändert. Alle Zuschüsse, Hilfen, Bremsen und Deckel haben keine andere Wirkung als jene Wirkung, welche die Infusion einer Kochsalzlösung durch den Notarzt bei einem Patienten mit am Unfallort nicht stillbarem, starkem Blutverlust hat: Der Blutdruck kann stabilisiert werden. Mehr nicht. Wohl aber wird mit jedem halben Liter Blut, der durch eine Kochsalzlösung ersetzt wird, die Sauerstoffversorgung von Herz und Hirn und allen anderen Organen reduziert. Der kurzfristigen Stabilisierung mit einer physiologischen Kochsalzlösung muss die Transfusion geeigneten Spenderblutes und die chirurgische Versorgung folgen.

Wohin fließt das Geld denn, das uns über die Energiepreise aus der Tasche gezogen wird?

Da gibt es drei Hauptströme. Der erste fließt in die Taschen der Produzenten in den Erzeugerländern, der zweite fließt in die Taschen der Händler, der dritte fließt in die Taschen der Spekulanten, die letztlich die Preise für Gas und Öl und Kohle mit ihren Wetten an den Terminmärkten festlegen. Alles, was dahin abfließt, steht der Realwirtschaft im Binnenmarkt nicht mehr zur Verfügung und kommt auch nicht im Sinne des Wirtschaftskreislaufes zeitnah wieder dahin zurück, wo es benötigt würde. Was also dann? Immer wieder dreistellige Milliardenbeträge mobilisieren und damit die Zinsen hoch und den Euro-Kurs in den Keller treiben?

Ich sehe bisher nur einen Ansatz, der wenigstens in die richtige Richtung zielt. Die „Übergewinnsteuer“.

Der Gedanke einer Übergewinnsteuer zielt zwar in diese Richtung, doch er zielt zu kurz, im Grunde nur auf den einen Strom, der bei jenen Händlern ankommt, die noch Möglichkeiten haben, sich günstig zu versorgen, aber die hohen Marktpreise an die Kunden weitergeben können. Diese werden Wege finden (und in ich bin sicher, dass darüber schon sehr intensiv nachgedacht wird) ihre Übergewinne aus dem Zugriffsbereich der deutschen Finanzämter und der EU-Kommission hinaus zu schieben, was  letztlich dazu führen wird, dass diejenigen, denen dies nicht gelungen ist, am Ende klagen und mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar Recht bekommen, wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes.

Der einzige Weg, der zur Normalisierung der Situation führen würde, besteht darin, alles zu tun, um die ausreichende Energieversorgung baldmöglichst und weitgehend aus eigenen Quellen wieder herzustellen.

Das heißt:

  • Primär
    Alle im Inland  noch erschließbaren Energiequellen mit höchster Priorität nutzbar machen. 6 Atomkraftwerke dauerhaft ans Netz bringen, Reaktivierung des hochmodernen Kohlekraftwerks in Hamburg Moorburg und weiterer stillgelegter Kohlekraftwerke. Priorität im Netz für Kohle- und Atomstrom und damit Sicherung des Grundlast-Bedarfs. Wiederaufnahme der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet. Zuschüsse zu Investitionen in den  Bergbau sind besser angelegt, als Zuschüsse für das kurzfristige, aber nicht nachhaltige wirtschaftliche Überleben von Bäckereien etc. Erschließung der deutschen Erdgasvorkommen und Erschließung von Geothermiequellen.
  • Sekundär
    Nutzung aller Möglichkeiten der Diplomatie eines sich souverän gebärdenden Staates um sich die notwendigen Volumina an Energieträgern aus aller Welt zu vernünftigen Konditionen zu sichern. Das schließt auch langfristige Liefervereinbarungen ein, die weit über die Dekarbonisierungsziele der Grünen hinausreichen. Ein Deal mit Saudi-Arabien, wie er offenbar jüngst stattgefunden hat, um ein britisch-französisches Waffengeschäft mit den benötigten Produkten aus deutscher Fertigung zu ergänzen, liegt im vitalen Interesse Deutschlands und steht im Rang vor allen naiven Hoffnungen, durch Selbstzerstörung die Welt retten zu können.
  • Tertiär
    Bis zur Revitalisierung des Patienten Deutschland sind sinnvolle Maßnahmen zur Energie-Einsparung erforderlich. Der Staat sollte die Voraussetungen schaffen, diese Sparmaßnahmen erträglich zu machen, statt darauf zu setzen, dass die Bürger angesichts der hohen Preise freiwillig bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus Energieverzicht üben.
  • Grundsätzlich
    Die Frage der Energieversorung einer großen Industrienation darf nicht länger vom Klima her bedacht und gelöst werden. Die darauf  fixierte Politik der letzten Jahre hat Deutschland bereits viel von seiner einstigen Widerstandskraft gekostet und erst dazu geführt, dass wir in dieser Krise sprichwörtlich mit dem Rücken an der Wand stehen.