Inflation und Leitzins

Morgen, um 14.15 Uhr, wird die EZB bekanntgeben, ob, und falls ja, um wieviele Basispunkte der Leitzins für den Euro-Raum erhöht wird.

Die Kommentatoren werden dann versuchen, abzuschätzen, wie schnell und wie stark sich das auf die Inflation auswirken wird.

Das Paradoxon, warum die Preise sinken sollen, wenn die Nutzung des Geldes, der vielleicht wichtigsten Infrastruktureinrichtung moderner Volkswirtschaften, verteuert wird, mag nicht jedem einleuchten.

Man sollte doch meinen, dass der Kaufmann, dessen betriebsnotwendiges Kapital zu einem hohen Anteil kreditfinanziert ist, die Preise erhöhen müsste, wenn die Zinsen steigen.

Man sollte doch annehmen, dass die Mieten steigen müssen, wenn die Finanzierung der Bau- und Renovierungsvorhaben der Wohnungsbaugesellschaften teurer wird.


Doch bevor dem nachgegangen werden kann, ist es unvermeidlich, die Frage zu stellen, was die Geschäftsbanken eigentlich veranlasst, die Kreditzinsen zu erhöhen, wenn die Zentralbank den Leitzins erhöht.

Jede Bank, der von der BaFin die Erlaubnis zur Führung von Bankgeschäften erteilt wurde, kann prinzipiell Kredite in jeder beliebigen Höhe zu jedem denkbaren Zinssatz vergeben. Das Kreditvolumen ist dabei theoretisch unbegrenzt. Auch wird für die Kreditvergabe keinerlei Zentralbankgeld benötigt, das gegenüber der Zentralbank verzinst werden müsste.

Aus dem Geschäft mit Einlagen und Krediten ergibt sich nur dann die Notwendigkeit, bei der Zentralbank einen Kredit aufzunehmen, wenn die Bargeldauszahlungen die Bargeldeinzahlungen und/oder die Kundenüberweisungen an fremde Geldinstitute die eingehenden Überweisungen von fremden Geldinstituten per Saldo so weit übersteigen, dass das für die Bank von der Zentralbank geführte Verrechnungskonto unter das Mindestreserve-Limit rutscht.

So ein Zentralbankkonto unterscheidet sich vom gewöhnlichen Kontokorrent des Handwerkers oder des Gehaltskontos des Angestellten grundsätzlich nur dadurch, dass darauf nicht die einzelnen Kundenüberweisungen, sondern die gesamten Zahlungsströme, die von einer Bank an andere Banken und von anderen Banken an die eine Bank fließen, per Saldo erfasst werden. Wer sein Girokonto überzieht, hat damit einen Kredit genommen. Wenn die Geschäftsbank ein Mindestguthaben auf dem Zentralbankkonto unterschreitet, muss sie einen Kredit nehmen, das geht entweder im Interbankenhandel, wo man sich über Nacht aushilft, oder eben durch Inanspruchnahme eines Kredits von der Zentralbank, der gegen entsprechende Sicherheiten gewährt wird.

Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das von den Geschäftsbanken ausgereichte Kreditvolumen es keinesfalls erfordert, im gleichen Umfang Zentralbankkredite in Anspruch zu nehmen. Damit bleiben die prozentualen Kostensteigerungen aus dem Kreditgeschäft für die Geschäftsbanken weit hinter den Sätzen der Leitzinserhöhungen zurück, weil nur ein geringer Teil des Kreditvolumens überhaupt betroffen ist. Dennoch beobachten wir den gegenteiligen Effekt, dass nämlich die Darlehenszinsen der einzelnen Institute stärker steigen als der Leitzins, während die Guthabenzinsen für das Sparbuch eine geringere Steigerung erfahren als der Leitzins.

Wenn es also nicht am Kreditgeschäft liegen kann, woran liegt es dann?

Nun, was gedanklich oft vollständig verdrängt wird: Die Banken gehören zu den größten Schuldnern einer Volkswirtschaft.

Alles, was bei einer Bank an Kundeneinlagen vorhanden ist, sind sind Schulden der Bank. Wer ein Guthaben bei einer Bank hält, ist Gläubiger der Bank. Und wer Gläubiger einer Bank ist, möchte eine angemessene Verzinsung. Sonst zieht er sein Geld ab und legt es (wo-)anders an.

Die Erhöhung der Leitzinsen ist also nicht primär ein Instrument, um die Erträge der Zentralbank zu steigern, sondern ein Signal an die Großeinleger der Banken, ihre Zinsansprüche anzuheben. Das können sie auch durchsetzen, weil die Zentralbank ihre Rolle als die günstige Alternative auf ein neues Niveau gehoben hat.


Es findet also tatsächlich eine große Zinserhöhungswelle statt, welche die Erträge der Großanleger der Banken ansteigen lässt.

Die Frage, ob deswegen nicht die Preise steigen, die Inflation anziehen müsste, steht erneut im Raum.


Die Antwort ist nein.

Zinserhöhungen wirken direkt negativ auf die Umsatzerlöse der Wirtschaft, denn Zinserhöhungen reduzieren die verfügbare Kaufkraft in der Sphäre der Realwirtschaft.

Das beginnt schon beim so genannten Dispo. Es soll ja Zeitgenossen geben, deren Dispo – bis auf ein paar Tage nach dem Eingang der Gehaltsüberweisung –  permanent voll ausgeschöpft ist. Nehmen wir an, so ein Dispo steht 25 von 30 Tagen pro Monat bei 5.000 Euro am Anschlag. Wird der Zinssatz für diese eingeräumte Konto-Überziehung von 12 % auf 14,5% angehoben, so fallen nach der Zinserhöhung monatlich 50,35 Euro an Sollzinsen an, statt bisher 41,67 Euro. Ein Kaufkraftverlust von monatlich 8,68 Euro, jährlich 104,17 Euro. Schätzt man ins Blaue hinein, dass es rund 15 Millionen Girokonten mit einer über den Durchschnitt vergleichbaren Überziehungssituation gibt, dann hat eine Leitzinserhöhung um 0,5 oder 0,75 Punkte alleine über diesen Aspekt um die 15 Milliarden Euro aus dem Markt genommen. Das ist ein nicht revidierbarer Kaufkraftverlust, denn dass der Konto-Inhaber, der jetzt schon am Limit kratzt, in der Lage wäre, diese 5.000 Euro, die er am Dispo stehen hat, nicht auszugeben, darf ernstlich bezweifelt werden. Und sollten einige dies tatsächlich durchziehen, dann würde dadurch die am Markt verfügbare Kaufkraft eben schlagartig um 5.000 Euro sinken.

Das ist die Konsumseite. Dem stehen auf der Produktionsseite die Investitionen gegenüber. Vor jeder Investitionsentscheidung steht der Versuch, die Rendite des eingesetzten Kapitals bestmöglich abzuschätzen. Ohne hier auf alle Situationen und Einflussfaktorten eingehen zu wollen, ist eine Auswirkung der Zinserhöhung unmittelbar einsichtig: Sofern die Investition teilweise oder zur Gänze mit Fremdmitteln finanziert werden soll, mindern steigende Zinsen die zu erwartende Rendite. Es kann nun versucht werden, dies durch intensivere Preisverhandlungen mit den Herstellern der Investitionsgüter zu kompensieren, doch das ist nur eine Verschiebung der Problems innerhalb der volkswirtschaftlichen Akteure. Am Ende hat eben immer einer weniger Geld und kann  wiederum weniger investieren.

Die anderer, schwerer erkennbare Auswirkung auf das Invetitionsgeschehen, findet man da, wo die Investition vollständig abgeblasen oder auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben wird. Die vorgesehenen Eigenmittel können dann in einer Finanzanlage geparkt werden und bringen so einen Ertrag, der für den verlorenen Ertrag aus der unterlassenen Investition entschädigt. Der Investitionsgüter-Hersteller geht in diesem Fall vollständig leer aus.

Letztlich wirken sich sinkende Umsätze auch auf die Beschäftigung und auf das Lohngefüge negativ aus, wobei eine Reihe von Unternehmen vom Markt verschwindet und andere versuchen, sich gesund zu schrumpfen.


Und das wirkt sich dämpfend auf die Inflation aus?

Ja. Aber nur, soweit es sich um echte Inflation handelt, wenn also die Geldmenge stärker gewachsen ist als das Angebot an Waren und Dienstleistungen.

Bei zu großer Geldmenge ist es für die Anbieter einfach, die Preise zu erhöhen und trotzdem die gleichen Mengen abzusetzen. Zugleich sind die Preiserhöhungen auch notwendig, weil ja der Anbieter, da, wo er als Konsument oder Einkäufer auftritt, ebenfalls von der Inflation getroffen wird, also bei nominal gleichbleibenden Umsätzen einen Kaufkraftverlust erleiden würde.

Wird die Geldmenge hingegen reduziert, wird der Versuch, das Geschäftsvolumen zu erhalten, durch einen aggressiven Preiswettbewerb unter  Inkaufnahme einer sinkenden Rendite unterstützt. Im Zweifelsfall sinken die Preise bis die Schmerzgrenze der am wenigsten rentabel arbeitenden Anbieter durchbrochen wird. Diese dürfen dann Insolvenz anmelden, oder – wie Herr Habeck doziert – einfach nichts mehr herstellen, um der Pleite zu entgehen. Der Wegfall dieses Angebots kann über seine Verknappungswirkung sogar dafür sorgen, dass bei den verbleibenden Anbietern in der Preisgestaltung wieder Luft nach oben vorzufinden ist, vor allem dann, wenn es sich bei ihrem Angebot um wichtige/notwendige Waren handelt. Es kommt also nach der primären Preissenkungswelle zu einer kleineren, aber erkennbaren Ausgleichsbewegung nach oben.

Die Notenbank, die dieses Geschehen verfolgt und intelligent analysiert, ist dann in der Lage, ihre weitere Geldpolitik so zu gestalten, dass sie ihrem Auftrag: „Wahrung der Geldwertstabilität“, gerecht werden kann.


Was aber, wenn es sich nicht um eine echte Inflation handelt, sondern um ihre garstige Schwester, die Teuerung wegen Angebotsknappheit?

Die Zinserhöhung hat selbstverständlich exakt die gleichen Auswirkungen.

Es wird Kaufkraft vom Markt genommen.

Die Folgen sind allerdings fatal.

Es kommt nicht zu einer Korrektur, mit der ein Geldüberhang beseitigt wird und Zombie-Unternehmen vom Markt ausgeschlossen werden, sondern zu der außerordentlich unschönen Problematik, dass die durch die Teuerung bereits beschädigte Kaufkraft durch weitere Geldverknappung so weit schrumpft, dass sie  nicht mehr ausreicht, um die  Versorgung der Bevölkerung aus deren Einkünften noch vollständig sicherzustellen.

Es hat die Teuerung aus der Energieverknappung schon genügt, um die Bundesregierung zu nötigen, ein 200 Milliarden Euro Hilfsprogramm (Doppelwumms) aufzulegen und dies mit neuen Schulden zu finanzieren, um „einen Volksaufstand“ zu verhüten. Die extremen Spitzen bei den Preisen für Gas, Öl, Strom und Benzin sind zwar gebrochen, doch liegt das jetzt gefundene Niveau immer noch weit oberhalb dessen, was die Wirtschaft –  im Zusammenspiel der volkswirtschaftlichen Akteure – einigermaßen rund laufen ließ. Die grundsätzliche Verwerfung der Verschiebung von Geldströmen, weg vom allgemeinen Konsum, hin zur Energieversorgung, ist geblieben, und dabei ist die Stabilität des neuen Niveaus noch längst nicht gesichert.

Dieses Problem kann mit Zinserhöhungen nur verschärft, aber nicht gelöst werden.

Dass es ungelöst geblieben ist, kann sehr einfach daran abgelesen werden, dass die energieintensive Industrie (Aluminium, Stahl, Chemie, Zement, Papier, usw.)  in Deutschland die Produktion bereits eingeschränkt hat und dabei ist, die Koffer zu packen, um in den USA oder in Kanada unter weitaus besseren Rahmenbedingungen einen Neustart zu versuchen. Aber Robert Habeck freut sich dabei wie ein Sparschwein darüber, dass die Industrie ihre Einsparauflagen einhält.

Dass die Situation mit den Zinserhöhungen verschärft wurde, ist unter anderem daran zu erkennen, dass das größte Wohnungsunternehmen Deutschlands, die Vonovia, beschlossen hat, im gerade begonnenen Jahr kein einziges Neubauvorhaben zu starten. Die bereits spürbare Teuerung im Materialbereich und dazu die steil steigenden Zinsen werden als Ursachen genannt. Dass Wohnungen fehlen, Bedarf also da wäre, steht der Tatsache gegenüber, dass die Budgets der privaten Haushalte für das Wohnen in ganz erheblichem Maße für die Energiekosten aufgewendet werden müssen.

Dass die 400.000 neuen Wohnungen,  die die Ampel versprochen hat, 2022 nur etwa zur Hälfte errichtet wurden und dass 2023 ebenfalls nicht mit einem Boom beim Wohnungsbau gerechnet werden kann, verschärft die Situation auf dem Mietmarkt nur noch weiter und wird die tatsächlich gezahlten Mieten im Bestand – allen Mietpreisbremsen zum Trotz – weiter ansteigen lassen. Ohne EZB-Zinserhöhung, hätte es vermutlich etliche Neubauvorhaben mehr gegeben.

Die EZB verhält sich wie jener Kahnfahrer, dem ein plötzlich aufziehendes Gewitter mit extremen Starkregen 20 Zentimeter Wasser im Boot beschert hat, und der nun, damit das Wasser wieder ablaufen kann, ein Loch in den Boden des Kahns schlägt.

Nun, dem Kahnfahrer war es möglich, nach seinem Irrtum einfach ans Ufer zu schwimmen.
Mit zwanzig, über die Gemeinschaftswährung aneinander geketteten Staaten an Bord, wird es deutlich schwerer, alle miteinander ans rettende Ufer zu bringen.