Brüsseler Spitzen für die Ukraine

PaD 4 /2023 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 4 2023 Brüsseler Spitzen für die Ukraine

Die Zeiten ändern sich. „Brüsseler Spitzen“, das waren für mich bis heute jene filigranen, in mühevoller, künstlerischer Handarbeit hergestellten Erzeugnisse der Spitzenklöppler, mit denen Bekleidungsstücke geschmückt und teuer aufgewertet wurden.

Heute, so habe ich frisch gelernt, werden Brüsseler Spitzen nicht mehr geklöppelt, sondern entsandt, und zwar in die höchsten Ämter der EU.

Auf Tagesschau.de habe ich nämlich diesen Text gelesen:

Brüsseler Spitzen haben sich zuletzt einen regelrechten Überbietungswettbewerb geliefert, mit Versprechungen für eine – mehr oder weniger nahe – europäische Zukunft der Ukraine. Zuletzt war es Ratspräsident Charles Michel, als er vor zwei Wochen nach Kiew reiste und vor dem ukrainischen Parlament so konkret vom EU-Beitritt sprach, wie kaum einer zuvor:

„Wir haben der Ukraine den Kandidatenstatus ja schon verliehen. Das heißt: die Frage der Mitgliedschaft ist beantwortet. Die Ukraine ist die EU, und die EU ist die Ukraine. Und wir müssen alles tun, damit dieses Versprechen eingelöst wird.“
Starker Tobak!
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Ich weiß, das sagt heute auch niemand mehr, der Charles Michel als „Brüsseler Spitze“ einordnet, aber das heute verwendete und allgemein verstandene Universal-Prädikat „Wahnsinn“, möchte ich in diesem Zusammenhang lieber vermeiden, lädt es doch auch zu Missinterpretationen ein. Und als Brüsseler Spitze mag ich Michel auch nicht bezeichnen, weil damit  – nach meinem altertümlichen Sprachverständnis – zum Ausdruck gebracht werden könnte, ich hielte ihn für beklöppelt.
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Weit gefehlt!
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Der Mann ist intelligent, zielstrebig, und auf eine gefährliche Art offen (Offen sagt man auch nicht mehr, heute ist man transparent.), die erkennen lässt, dass  offenbar jener Zustand erreicht ist, den Jean Claude Juncker seinerzeit so zum Ausdruck brachte:
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„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
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Ist es also so weit. Gibt es bereits kein Zurück mehr?
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War es bisher vielerorts zu beobachten, dass Personen, die ihr Schäfchen im Trockenen, ihre Pension gesichert hatten, insbesondere emeritierte Professoren, von diesem sicheren Ufer aus aus dem Nähkästchen plauderten und dem offiziellen Narrativ zu widersprechen wagten, was durchaus noch geholfen hat (better late than never), so manche offizielle Desinformation zu erkennen, so wagt sich mit Charles Michel nun einer, der noch in Amt und Würden, ja als Ratspräsident sogar die Spitze aller Brüsseler Spitzen darstellt, eine Wahrheit auszusprechen, die vergleichbar jener Wahrheit ist, die vor einem Dutzend Jahren Bundespräsident Horst Köhler zum Rücktritt gezwungen hat, nachdem er sie ausgesprochen hatte:
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„Aus meiner Einschätzung ist es wirklich so: Wir kämpfen dort auch für unsere Sicherheit in Deutschland, wir kämpfen dort im Bündnis mit Alliierten auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen. Alles das heißt, wir haben Verantwortung. Ich finde es in Ordnung, wenn in Deutschland darüber immer wieder auch skeptisch mit Fragezeichen diskutiert wird. Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“
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Nein, verwechseln Sie das nicht mit den Geständnissen von Poroschenko, Hollande und Merkel. Die haben sich alle drei vorher aus der Schusslinie und ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Nun genießen sie ihren Ruhestand und machen sich mit Erzählungen aus ihrer Amtszeit noch einmal interessant für Presse, Rundfunk, Volk und Vaterland. Der Widerhall des Eingeständnisses, das Minsk II Abkommen nie einhalten zu wollen, sondern der Ukraine Zeit zu geben, gegen Russland aufzurüsten, war aber eher dürftig. Der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gab, war längst überschritten, der Krieg in Gang gesetzt, und: Nach allem was verbreitet wird, handelt es sich um einen Verteidigungskrieg. Artikel 26 GG braucht Angela Merkel also nicht zu fürchten. Schließlich hat der Betrug an der Bevölkerung  der Krim und des Donbass, an Russland und nicht zuletzt an den Bürgern der EU ja nicht der Vorbereitung eines Angriffskrieges gedient, sondern nur die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine hergestellt, und dass diese Verteidigungsfähigkeit acht Jahre lang durch den Beschuss der Separatistengebiete geübt und erprobt werden musste, um sicher zu sein, sich auch wirklich wirksam verteidigen zu können, sollte da nicht an den Haaren als Gegenargument herangezogen werden.  Das wäre ja, wie man heute sagt „Whataboutismus“.
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Der einzige namhafte deutsche Beteiligte an den Minsker Abkommen, der noch im Amt ist, Bundespräsident Steinmeier, wird mit seinem Bekenntnis zur Aufrüstung der Ukraine vermutlich noch warten, bis er – selbst im Ruhestand – seine Memoiren schreiben lässt. 
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.Aber zurück zu Charles Michel. Der Mann, dessen zweite Amtszeit als Ratspräsident der EU erst am 30. November 2024 enden wird, hat  – als der einer Politikerfamlie entstammende Politprofi –  mit klaren Worten zum Ausdruck gebracht, was Annalena Baerbock, die im Vergleich zu Michel eher als Politnovizin angesehen werden dürfte, versehentlich kundgetan hat, dass nämlich WIR als die EU, im Krieg mit Russland stehen.
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Die Ukraine ist die EU, und die EU ist die Ukraine.

Daran gibt es nichts mehr zu deuteln. Man müsste schon die Sprachregelung Russlands  anerkennen, die ja besagt, dass Russland sich nicht im Krieg mit der Ukraine befindet, sondern dort nur eine militärische Spezialoperation durchführt, um aus dieser Falle wieder herauszukommen.

Die Tagesschau hat nun die Richtung vorgegeben, indem sie den Spruch des Ratspräsidenten zwar öffentlich macht, aber diesen nur unter dem Aspekt des formellen Beitritts der Ukraine zur EU beleuchtet. Dazu heißt es dann: „Aus einigen Hauptstädten der EU kommen schon Warnungen nach Brüssel, dass beim Kommissionsbesuch in Kiew bitte nicht zu hohe Erwartungen (auf einen baldigen Beitritt) geweckt werden sollen, die dann später enttäuscht werden müssen.

Um welche Hauptstädte es  sich handelt, lässt die Tagesschau offen. Vermutlich um nicht zu erwähnen, dass es sich dabei vor allem um Budapest handelt, denn das würde wieder zu Erklärungsnotwendigkeiten führen, auf die man sich wohl lieber gar nicht erst einlassen will.

Nachdem diese Hürde umschifft ist und Michels Äußerung im Framing ausreichend entschärft wurde, wird fürsorglich darauf hingewiesen, dass die Ukraine in diesem Jahr 18 Milliarden Euro aus der EU-Kasse erhalten soll, was fast 2 Milliarden mehr sind als das, was die beiden Hauptempfänger unter den Mitgliedsländern,  nämlich Polen (11,8 Mrd.) und Griechenland (4,5 Mrd.) zusammen aus dem EU-Topf erhalten. 

Dass die einzelnen Mitgliedsstaaten aus den eigenen Kassen ebenfalls erhebliche Mittel für die Ukraine bereitstellen, also der eigenen Bevölkerung vom Munde absparen, und Militärgüter liefern, die irgendwann wieder nachbeschafft werden müssen, ist in diesen 18 Milliarden noch gar nicht enthalten.

Wer zwischen Michels Aussage, die EU sei die Ukraine und die Ukraine sei die EU, und den Hilfsleistungen der EU für die Ukraine eine Verbindung herstellt und dabei erkennt, dass die Ukraine der von der EU meistbegünstigste Staat ist, kann gar nicht umhin, das ganze Gerede um den formellen Beitritt auf die gleiche Stufe zu stellen, wie das Bemühen, die Minsker Abkommen als Friedensinitiativen hinstellen zu wollen.

Die EU geht ganz offensichtlich davon aus, dass sie die Ukraine, samt Donbass und Krim, für sich und die NATO bereits gewonnen hat, und dass nun nur noch der militärische Sieg, also das Zurückdrängen der russischen Truppen hinter die ukrainischen Staatsgrenzen abgewartet werden müsse, was mit der Lieferung schwerer Waffen im gewünschten Umfang zweifellos gelingen werde.

Ja. Die Ukraine.

Die Ukraine muss mit voller Solidarität gegen einen barbarischen Angriffskrieg verteidigt  werden.

Was ist denn das für ein neuer Geist in der EU? Wo und warum hatte sich der denn bisher verborgen gehalten?

Oder wurde bisher irgendeinem anderen Staat auf dieser Welt, der sich gegen eine militärische Invasion zu verteidigen hatte oder hat, jemals so viel Unterstützung von der EU zuteil, wie der Ukraine. Wurde irgendeinem anderen Staat, der sich zu verteidigen hatte oder hat, je die unerschütterliche Unterstützung und die unverbrüchliche Treue der EU zugesagt?

Man könnte leicht in Versuchung geraten, diese Treueschwüre für reine Heuchelei zu halten, wäre da nicht unser unerschütterlicher Kanzler, der ausdrücklich darum gebeten hat:

Vertrauen Sie der Regierung und vertrauen Sie auch mir.

Wir werden uns weiterhin nicht von öffentlichem Druck und von lautem Gerede beeindrucken lassen. Wir werden Entscheidungen treffen, die immer so abgewogen sind, dass sie durch ihre Einbindung in die Entscheidungen unserer internationalen Partner und Verbündete auch aus Sicherheitsgründen für Deutschland und Europa, gut vertreten werden können.