Mindestlohnanpassung – Wir werden alle ärmer

Mit einer „Tariferhöhung“ um zwei mal 3,5 Prozent hat Hubertus Heil die Altersarmut-Absicherungs-Grenze deutlich unterhalb der Inflationsrate gehalten und damit die mit Antritt der Ampel schwungvoll durchgesetzte Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro als keineswegs nachhhaltig gemeintes Wahlkampfgeschenk entwertet.

Ich habe Verständnis für alle Betroffenen und für die Argumente ihrer Fürsprecher in den Gewerkschaften und den linken Flügeln der Parteien. Gerade auch, weil in den tief unten liegenden Einkommensgruppen die Inflation viel stärker zuschlägt als es am allgemeinen Warenkorb abgelesen werden kann.

Festgehalten werden kann: Der inflationäre Kaufkraftverlust der Mindestlohnempfänger wird durch die beschlossene(n) Erhöhung(en) nicht kompensiert. Die Betroffenen werden ärmer.

Die Fokussierung auf die Entwicklung des Mindestlohnes birgt jedoch die Gefahr in sich, zu übersehen, dass unsere gesamte Gesellschaft ärmer wird, auch wenn man in die Berechnung jene einbezieht, die gegen den Trend reicher werden. Es findet zwar nach wie vor eine Umverteilung von unten nach oben statt, doch handelt es sich dabei nicht mehr um ein Nullsummenspiel, sondern per Saldo um einen Verlust, der gleich an mehreren Stellen in Erscheinung tritt.

Beklagt wird von den Ökonomen die über Deutschland hereingebrochene Rezession. Zwei Quartale in Folge ist das BIP geschrumpft. Dass sich dieser Schrumpfungsprozess in den nächsten Quartalen fortsetzen wird, kann bereits kaum mehr in Zweifel gezogen werden. Unter anderem die Konjunktur-Prognosen des Ifo-Instituts sprechen hier eine deutliche Sprache. Das Verarbeitende Gewerbe, der Dienstleistungssektor, der Handel, die Bauwirtschaft – sie alle vermelden unisono sowohl eine Verschlechterung der Lage als auch unerfreuliche Zukunftsaussichten. 

Das ist aber nicht nur eine statistische Größe, die man zur Kenntnis nehmen kann, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Ein Rückgang des BIP ist mit einem Rückgang der Einkommen verbunden. Dieser Rückgang kann sich unterschiedlich auf Arbeitnehmereinkommen und Kapitaleinkommen verteilen, wird aber die Arbeitnehmereinkommen in der Regel stärker betreffen. Innerhalb der Arbeitnehmereinkommen werden sowohl die Löhne, deren Entwicklung nicht mit der Inflationsentwicklung Schritt hält, die Verarmung spürbar werden lassen, als auch jene Löhne, die aufgrund von rückläufigen Arbeitsstunden gar nicht mehr gezahlt werden.

Den Arbeitnehmereinkommen folgen die Rentenzahlungen. Mit einer Erhöhung vom 5,35 % (West) zum 1. Juli 2022 konnte der inflationsbedingte Kaufkraftschwund der bis zum 30.06.23 eingetreten ist, bei Weitem nicht kompensiert werden, und mit der Erhöhung um 4,39 % (West) wird auch der sich fortsetzenden Inflation kein realer Kaufkraftgewinn entgegen stehen.

Bisher haben wir allerdings nur über jene Verarmung gesprochen, die sich im Bereich der Liquidität der privaten Haushalte abzeichnet. Doch das ist weniger als die halbe Miete. Größer ist der Verlust, der sich im Schrumpfen des Vermögens abzeichnet. Es mag zwar für Nichtkaufleute ungewohnt sein, doch es gibt neben den positiven Vermögenswerten, wie zum Beispiel Immobilien, auch negative Vermögenswerte, die üblicherweise als Schulden, von Finanzministern gerne auch einmal als „Sondervermögen“ bezeichnet werden. Bei der Darstellung des Gesamtvermögens müssen positive und negative Vermögenswerte saldiert werden, was bedeutet, dass das Vermögen der Bundesrepublik Deutschland, früher auch „Volksvermögen“ bezeichnet, durch die forcierte Schuldenaufnahmen seit 2020 so massiv geschrumpft ist, dass der Bundesrechnungshof sich mahnend eingeschaltet hat, mit der Aussage:

„Um einen drohenden Kontrollverlust bei den Bundesfinanzen zu verhindern, muss der Bund die Dynamik der Neuverschuldung stoppen.“

Es kann nicht oft genug erwähnt werden, dass die Staatsverschuldung in den Jahren 2020 bis 2023 um 850 Milliarden Euro gewachsen ist. Das sind 10.000 Euro pro Einwohner, bzw. 20.000 Euro pro Erwerbstätigem. Geld, das wir verfrühstückten, ohne es verdient zu haben, und das über die Jahre mit Zins und Zinsenzinsen zurückgezahlt werden muss. Dafür gibt es grundsätzlich zwei Wege.

  • Weg Nummer 1 besteht darin, dass ein massiver, konjunktureller Aufschwung stattfindet, dessen Mehrerlöse zur Schuldentilgung verwendet werden, während die Löhne und Gehälter dem Wachstum nicht folgen, sondern stagnieren. Das heißt, Mehrarbeit ohne Lohnausgleich. Die Zeichen dafür, dass dieser Weg beschritten werden könnte, stehen ausgesprochen schlecht. Deutschland ist bereits in der Rezession. Deutschland ist aufgrund einer ungünstigen Situation in der Energieversorgung zudem von einer fortschreitenden Deindustrialisierung betroffen. Die massiven Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien bringen jedoch keinen Vermögensaufbau mit sich, weil die gleichzeitige Zerstörung der längst nicht abgeschriebenen, bestehenden Energie-Infrastruktur allenfalls das positive Vermögen nicht sinken lässt, während die dafür aufgebrachte Leistung letztlich wirkungslos verpufft.
  • Weg Nummer 2  soll über die Inflation zur Entschuldung führen. Dazu muss die Inflation schneller steigen als die Zinsen, so dass die Nominalwerte der in der Vergangenheit aufgenommenen Schulden mit einst hoher Kaufkraft mit Inflationsgeld weit geringerer Kaufkraft getilgt werden können. So schön das klingt, der Nebeneffekt, dass nämlich alle Geldvermögen und alles umlaufende Geld zuletzt schneller als im Schweinsgalopp entwertet werden, wird letztlich dazu führen, dass die Schulden aus den Vermögen der Sparer bezahlt werden.

Das, liebe Leute, sind die Aussichten. Aber wir klagen lieber über die armen Mindestlohnbezieher, denen nicht einmal der Inflationsausgleich zugestanden wird, ohne zu bemerken, dass wir dabei alle klammheimlich bis auf das letzte Hemd ausgezogen werden, während uns mit der Liquidität aus Schuldenmilliarden vorgegaukelt wird, Deutschland sei immer noch ein reiches Land.

Das ist aber immer noch nicht alles. Der Investitions- und Sanierungsstau im Bereich der öffentlichen Hände und der damit verbundene Verfall der Infrastruktur, der sich nicht nur am miserablen Zustand vieler Schulgebäude, an den Problemen mit den Gleisanlagen der Bahn und zigtausend dringend sanierungsbedürftiger Straßenbrücken zeigt (für die nach wie vor längst nicht genug Geld da ist), sondern eher unsichtbar in der versäumten Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, im offenkundig zu wachsenden Fehlleistungen neigenden Schul- und Bildungswesen und der alle Initiativen lähmenden Bürokratie als Verlust der Leistungsfähigkeit sichtbar wird, muss – betrachtet man das damit stillgelegte Leistungs- und Ertragspotential – in einen Vermögensverlust umgerechnet werden.

Vergessen wir auch nicht den von der Ampel mit dem angekündigten Wärmepumpen-Erlass ausgelösten Verfall der Immobilienpreise, der trotz akutem Wohnungsmangel und Inflation bereits mit der Ankündigung die Altersvorsorge weiter Teile der „Häuslebauer“ schwer reduziert hat und durchaus das Format hat, eine Bankenkrise nach sich zu ziehen, weil die einst angenommenen Besicherungswerte nicht mehr ausgewiesen werden können.

Dass eine Volkswirtschaft, in der außer hochsubventionierten Investitionen ausländischer Geldgeber kaum noch vitale Lebenszeichen wahrzunehmen sind, wie eine in die Jahre gekommene Milchkuh nur noch abgemolken wird, bevor es zum Schlachthof geht, darf nicht verwundern. Dass, wer überhaupt noch kann, die Flucht ergreift und im viel attraktiveren Ausland neu aufbaut, statt auch nur noch einen müden Euro in die deutschen Fabriken zu stecken, oder den Laden gleich an Konkurrenten oder Heuschrecken verkauft, die sich damit entweder Marktanteile und Patente sichern, oder sich aus dem Ausschlachten der Substanz einen Gewinn erhoffen, ist nachvollziehbarer Egoismus. Jeder muss sehen, wo er bleibt. 

So schrumpft eben auch die industrielle Basis, die im Sinne einer auf das Wohlergehen des Staatsvolkes ausgerichteten National-Ökonomie dringend erhalten werden müsste, im Sinne der dem Globalismus huldigenden Makro-Ökonomie aber nicht mehr als schützenswertes Gut des Staates angesehen wird, der stattdessen nur noch möglichst günstige Standortbedingungen für das auf der Suche nach Rendite um die Welt vagabundierende Kapital herstellen soll.

Wir werden alle ärmer.
Wir sind schon ärmer geworden, merken davon aber noch kaum etwas.

Die Entwicklung der Mindestlöhne ist dabei wirklich eines unserer kleineren Probleme,
zumal es sich nur um ein Symptom der Krankheit handelt, nicht aber um die Ursache.