Ein Fluss, der über die Ufer tritt, weil er in seinem Bett eingeengt wurde, das ist Natur.
Einer Gesellschaft, die – bildlich gesprochen – über die Ufer tritt und wegschwemmt, was sie stört und behindert, ist das nicht gestattet. Menschen haben sich an die Regeln zu halten, selbst dann, wenn diese Regeln vollständig gegen ihre Natur und ihre natürlichen Bedürfnisse gerichtet sind.
Die Natur braucht weder Selbstbewusstsein, noch Selbstvertrauen, noch ein Selbstwertgefühl. Sie ist einfach.
Wir sind von diesem Zustand weit weg. Wir sind nicht mehr einfach, wir müssen uns bemühen, uns selbst zu erkennen – und das in einer Welt, in der es scheinbar nur noch Zerrspiegel gibt. Zerrspiegel der Fremdbestimmung und Fremdbewertung, nach Nutzen und Gefährlichkeit.
Wenn es allerdings einmal gelingt, dass Gesellschaften die Dämme einreißen und über die Ufer treten, dann feiern wir noch Jahrhunderte später die Dammbrecher als Freiheitshelden, obwohl die Dämme längst neu und noch höher errichtet sind und obwohl der Gedenk-Jubel von den Errichtern dieser Dämme angeordnet wird, damit die neuerlich Eingezwängten im Glauben bleiben, sie seien immer noch so frei, wenn nicht noch freier, wie eine Jeanne d’Arc, ein Andreas Hofer, ein Schmied von Kochel oder ein Abraham Lincoln es sein wollten.
Doch fließende Gewässer taugen auch noch für ein zweites Bild. Die Fließgeschwindigkeit in einem Fluss oder Strom ist nämlich, über die Breite der Flussoberfläche gesehen, recht ungleich. An den Ufern fließt das flache Wasser, gebremst durch die Ufergestaltung, deutlich langsamer als in der Mitte – und selbst in der Mitte gibt es noch einen Unterschied in der Fließgeschwindigkeit. Das oben treibende Wasser bewegt sich schneller als das tief unten im Flussbett.
Dort, in der Mitte unten, hat das Wasser allerdings wegen des hohen Drucks, den es ausübt und der immer noch relativ hohen Geschwindigkeit die meiste Kraft, dort bewegt es nicht nur Tonnen von Sand sondern auch Steine und sogar Felsbrocken. Rückübertragen auf die Gesellschaft, die ja auch von einer „Mitte“ geprägt wird, während sich „links“ und „rechts“ Ränder ausbilden, wird klar, dass jede Gesellschaft sich Rahmenbedingungen (das Flussbett) schafft, die das Fortkommen der „Mitte“ begünstigen, während die Mitte zugleich die Last übernimmt, die Gegebenheiten in der Tiefe zu erhalten und auszubauen.
Randgruppen, links und rechts, kämpfen mit Hindernissen, die es für die Mitte nicht gibt. Ihr Fortkommen wird gebremst und ruft bei ihnen Ungeduld hervor.
Die Frage, warum wirkliche Veränderungen so schwer in Gang zu bringen sind, warum sich im Grunde überhaupt nichts verändert, und wenn, dann zum Schlechten, also die Kernfrage dieses Buches, ist eine typische Randgruppenfrage, wenn nicht gar eine Randgruppenpsychose. Sie projizieren ihre Probleme des ufernahen Daseins wie selbstverständlich auf die Mitte und erwarten von der Mitte jene Veränderungen, die ihnen ermöglichen sollen, sich selbst wieder der Mitte zugehörig zu fühlen. Bisweilen gelingt das sogar, doch weil der Fluss als solcher bei normalem Wasserstand immer bis an die Ufer reicht, also ohne rechte und linke Ränder nicht auskommt, werden lediglich die Menschen ausgewechselt, welche die Randgruppen bilden.
Ein natürlicher Fluss, in dem es nichts als Mitte gibt,
ist noch nicht einmal denkbar.
Dieses Bild überfordert unseren Verstand, so wie er von der Vorstellung von Unendlichkeit und Ewigkeit überfordert wird.
Der Hinweis im letzten Absatz, „bisweilen gelingt das sogar“, bedarf vermutlich noch einer Erläuterung. Es ist ein Phänomen, das mit der „Trägheit der Masse“ zusammenhängt. Flussläufe, vor allem da, wo die Flüsse noch jung und das Meer noch fern ist, ändern häufig ihre Richtung, weil die Topologie der Landschaft dies erzwingt. Die bewegte Wassermasse – ja, die Mitte – lenkt nun aber nicht selbstständig und aus guter Einsicht in die Gegebenheiten um die Kurve, nein, sie behält ihre Richtung bei, bis sie auf Widerstand stößt und drückt dabei das ufernahe Wasser mit ihrer ganzen Kraft auf und an dieses Ufer. Betrachten Sie einen Fluss an einer scharfen Biegung. Sie werden ein steiles, unterspültes Ufer an der Kurvenaußenseite und ein flaches, von Sandbänken geprägtes Ufer an der Kurveninnenseite finden.
Der äußere Rand der Gesellschaft wird, wenn die Gesellschaft in seine Richtung marschiert, zu ihrer Speerspitze und übernimmt die Herkulesaufgabe, dem Flussbett eine neue Form, im äußersten Fall (Durchbruch) eine neue Richtung oder einen eigenständigen Seitenarm zu geben.
An dieser Kehre bilden sich häufig stabile Wirbel – und in diesen Wirbeln vermengen sich die Randgruppen mit der Mitte, nicht selten zieht Wasser, das dem Wirbel entronnen ist, von da aus schnurstracks zur Mitte (werfen Sie ein Stöcken ins Wasser und beobachten Sie, wo es hinschwimmt), auch weil nach der Kehre schon wieder zwei schöne flache Randgruppenufer bestehen, die längst besetzt sind.
Die scharfe Wendung, die von einer Gesellschaft hin und wieder gefordert wird, verändert den „Querschnitt“ der Bevölkerung.
Allerdings nicht radikal. Die große Masse der konservativen Mitte bleibt in der Mitte, doch dazwischen sind Mitglieder ehemaliger Randgruppen und ihr Gedankengut angekommen und angenommen worden, sie werden nun nicht mehr als Fremdkörper bekämpft, sondern mitgenommen, ja sogar unterstützt. Es hat ein gesamtgesellschaftlicher Lernprozess stattgefunden, der an der nächsten scharfen Kurve zwar wieder verloren gehen kann, aber durchaus nicht muss.
Beispiele dafür gibt es auch in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik zuhauf. Adenauers strikter Pro-West-Kurs, verbunden mit dem schon aus dem Nationalsozialismus gewohnten und von den USA zur Perfektion gesteigerten Anti-Kommunismus, der selbst Sozialdemokraten als Staatsfeinde wahrgenommen hat, ist spätestens mit der scharfen Wende, die von Willy Brandts Ostpolitik eingeleitet wurde, verschwunden. Erzkonservative und Sozialdemokraten mögen sich zwar immer noch nicht besonders, doch sie schaffen es, sich auf Koalitionsverträge und Grundgesetzänderungen zu verständigen, ohne dass jemand aus dieser neuen Mitte noch ernsthaft behaupten wollte, davon ginge die Welt unter.
Eine nachkriegsprüde Gesellschaft, bei denen Vermieter, die unverheiratete Paare aufnahmen, wegen Kuppelei verurteilt wurden, die mit dem Paragraphen 175 StGB die Homosexualität unter Strafe stellte, in der Bilder unbekleideter Menschen unter größter Vorsicht nur unter dem Ladentisch gehandelt wurden, die immer noch den Mann als den Haushaltsvorstand ansah, der das Leben seiner Frau in allen wichtigen Belangen bestimmen durfte, hat sich mit Oswald Kolle und Beate Uhse, unterstützt von exzentrischen Filmemachern und Werbeleuten von den religiösen Tabus befreit. Die Mitte ist voller offener Sexualität in allen Spielarten. Die einst von Strafe bedrohten Randgruppen haben Einzug in Ämter, Behörden und Regierungen gehalten und erklären selbstbewusst: „Das ist auch gut so“.
Als die Studenten im Mai 68 auf die Straße gingen, weil sie den Muff von tausend Jahren unter den Talaren nicht mehr riechen wollten, und zugleich gegen den persischen Kaiser, Schah Reza Pahlewi demonstrierten, weil sie ihn für einen Tyrannen hielten, wurden Demonstranten von der Polizei gejagt, Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen – und die Bevölkerung, die Mitte, stand voll und ganz hinter der Ordnungsmacht.
Die von den Studentenunruhen in Frankreich und Deutschland ausgelösten Liberalisierungen, das neu entstehende Bewusstsein dafür, dass viele Angehörige des untergegangenen Nazi-Regimes in der Bundesrepublik schon wieder in Amt und Würden waren, hat auch in die Mitte hineingewirkt und den Kurs der Gesellschaft verändert. Doch das hat auch neue Ränder hervorgebracht. Andreas Baader und Ulrike Meinhof gingen in den Untergrund, verübten Anschläge, ermordeten den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und das Bundeskriminalamt reagierte darauf mit der zunehmenden Überwachung aller Bürger unter dem Schlagwort „Schleierfahndung“.
Natur- und Umweltschützer gründeten Vereinigungen und Parteien. Oh wie jaulte die Mitte auf, weil diese Spinner Unmögliches forderten. Doch der schwarze Himmel über der Ruhr, die zu Abwasserkanälen verkommenen Flüsse, Schadstoffe im Trinkwasser, Schwermetalle in den Fischen, das Waldsterben, das alles war das Steilufer auf das bald auch die träge Masse prallte und so zu einer Richtungsänderung gezwungen wurde. Nach den politischen Turbulenzen, die in Hessen erstmals einen Grünen als Umweltminister hervorbrachten, während der Bundesumweltminister Klaus Töpfer todesmutig ein Bad im schmutzigen Rhein nahm, um zu beweisen, wie sauber das Wasser darin sei, änderte sich das Umweltbewusstsein der Mitte. Die Grünen waren in immer mehr Bundesländern und dann auch im Bund mit in der Regierung. Sie haben uns Mülltrennung und Dosenpfand beschert, aber eben auch viele Gesetze zum Schutz der Umwelt, die vor allem den Schadstoffausstoß der Industrie und die Schädlichkeit der Industrieprodukte, denken wir nur an den Katalysator und das ständige Sinken des CO2-Ausstoßes der Kraftfahrzeuge, ganz erheblich reduzierten.
Maßnahmen, die es so nicht, jedenfalls nicht so früh und so engagiert gegeben hätte, hätte es da nicht eine ökologische Randgruppe gegeben, die sich von der Masse an die steile Uferböschung drücken ließ, deren Widerstand inzwischen weitgehend gebrochen ist.
Die Aufzählung weiterer Beispiele ist müßig. Man findet sie zudem nicht nur bei uns. Ein Blick über die Grenzen unserer Nachbarn, ja selbst ein Blick auf die Vorwende-Zeit in der DDR zeigt, wie Randgruppen, hier vor allem von den Kirchen beeinflusste, mit Mahnwachen und Montagsgebeten unter den Augen der stasidurchsetzten Mitte irgendwann von der Masse gegen die Mauer gedrückt wurden, bis sie einstürzte. Natürlich kann man diese Vorgänge auch unter anderem Blickwinkel betrachten, natürlich kann man Gorbatschow als Auslöser ansehen – und das ist sogar richtig. Gorbatschow, das war die Kehre, und die Masse in der DDR entschied sich gegen einen reformierten Ostblock und für den Anschluss an die Bundesrepublik, ein Bestreben, das seit der Abtrennung der DDR in der Masse latent vorhanden geblieben war.
Angesprochen werden muss zwingend die aktuelle Kehre, an der sich die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gerade abarbeitet. Da hat jemand einen gewaltigen Gesteinsbrocken in der Mitte des Flusses versenkt und zugleich einen Kanal gegraben, über den große Mengen „Wasser“ abgeleitet werden, um zuletzt den gesamten Strom in einen noch größeren gesamteuropäischen Strom einmünden zu lassen.
Doch alles Bemühen, das alte Flussbett mit dem Aushub des neuen Kanals zu verfüllen, ist zum Scheitern verurteilt.
Das massive Hindernis, die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, samt den neuen Gesetzen zur Destabilisierung des Arbeitsmarktes, haben zwar die gewünschte, massive Welle über dem Hindernis entstehen lassen, und diese massive Welle speist auch den neuen Kanal, mit Exportüberschüssen einerseits, sowie Souveränitätsrechten Deutschlands andererseits, und flutet damit in den Mega-Strom EU, doch die Welle über dem Hindernis gräbt sich hinter dem Hindernis unermüdlich eine Vertiefung, in die der dicke Brocken eines Tages hineingespült werden wird. Zudem zwingt das Hindernis die Masse der Mitte an die Ränder, dort weitet der Strom nun sein Bett aus. Trotz der neuerlichen Bildung einer großen Koalition hat die Mitte Mühe, Mehrheiten zu finden, zu weit werden die Zielsetzungen und Wertvorstellungen auch innerhalb der großen Parteien aufgespreizt. Letztlich weiß jeder, dass das nicht mehr das Deutschland ist, auf das er einst stolz sein konnte. Opportunisten springen mutig in das Bett des neu gegrabenen Kanals und erhoffen sich dort ihr Heil. Doch die Masse folgt ihnen nicht. Die Masse rüttelt an den Spundwänden, die Schröder ins Steilufer hat rammen lassen, und sie werden fallen, zur politischen Episode werden, über die kluge Historiker in hundert Jahren schreiben werden, es war ein Irrtum, zu glauben, man könne ein gebildetes, produktives und selbstbewusstes Volk in relativem Wohlstand mit ein paar Gesetzen in ein dummes, lenkbares – aber immer noch produktives Volk in Armut verwandeln.
Weil das Hindernis in die Mitte des Flusses geworfen wurde, dort wo in der Tiefe die Arbeit vollbracht wird, den Weg frei zu halten, hat es die Mitte zwar geschwächt, dafür aber die Ränder stark gemacht – und hinter dem Hindernis vereint sich bereits eine neue Mitte mit den starken Rändern.
Themen der Linken werden – wenn auch unter eigenem Namen – von den großen Parteien aufgegriffen, Themen der Rechten bewegen die Stimmenfänger in allen großen Lagern, sich näher an den Rändern zu profilieren. Nationale Interessen treten auf der europäischen Bühne wieder in den Vordergrund, nicht zuletzt auch deswegen, weil dies in allen anderen Mitgliedsstaaten ebenfalls zu beobachten ist, in einigen sogar deutlich stärker. Gleichzeitig werden, noch behutsam, aber wirksam, die Einschnitte in das soziale Netz zurückgenommen. Die abschlagsfreie Rente mit 63, die Mütterrente, der Verzicht auf die Praxisgebühr, das alles sind scheinbar nur kleine Schritte, doch auch der höchste und immer noch stabil wirkende Deich ist verloren, wenn an seinem Fuß die ersten größeren Rinnsale erscheinen.
Der Ruf nach Sandsäcken, der von interessierter Seite immer lauter ausgestoßen wird, verhallt unerhört. Die Regierung weiß, dass der Damm brechen wird und investiert nicht mehr in Rettungsmaßnahmen, sie versucht, mit Entlastungsgräben und Pumpen die Überflutung des trockengelegten Landes aufzuhalten, doch diese Gräben werden schneller volllaufen, als gebuddelt werden kann. |