Gefühlte Abhängigkeiten

Die Symbiose, also die Kooperation unterschiedlicher Wesen, ob Tiere, Pflanzen oder Menschen geht oft so weit, dass der eine Teil ohne den Nutzen, den ihm der andere gewährt, nicht existieren kann. Kämen die mit Algen oder Moosen zu Flechten verbundenen Pilze, die Clownfische in ihrer Symbiose mit den Seeanemonen, die Ameisen in ihrem symbiotischen Zusammenleben mit den Blattläusen auf den sonderbaren Gedanken, sich mit der Symbiose in eine gefährliche Abhängigkeit begeben zu haben: Die Populationen aller beteiligten Lebewesen gingen rapide zurück.

Auch unter Menschen gibt es enge Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen, die niemand ernsthaft in Frage stellt. Es genügt da nicht, sich das Muster der ehemals wertgeschätzten Ehe zwischen Mann und Frau mit ihrem klassischen Rollenverständnis vor Augen zu führen. Das Beziehungsgeflecht, in dem wir alle leben, ist sehr viel komplexer.

Nehmen wir den Angestellten eines Maschinenbau-Unternehmens, der sich veranwortlich um die Fertigungsplanung kümmert, also festlegt, welches Teil welcher Maschine an welchem Tag an welcher Fertigungseinrichtung bearbeitet und hergestellt wird, und zwar so, dass alle Fertigungseinrichtungen möglichst gleichmäßig ausgelastet sind und die den Kunden zugesagten Liefertermine eingehalten werden. Dieser Job kann nicht ohne jahrelange Erfahrung in eben diesem Betrieb zufriedenstellend ausgeübt werden. Das Unternehmen kann sich glücklich preisen, diesen Mitarbeiter zu beschäftigen. Der Mitarbeiter kann sich glücklich preisen, in diesem Betrieb arbeiten zu dürfen und dafür ein Gehalt zu erhalten, das ihm seinen Lebensunterhalt sichert.

Es ist ja nicht das Gehalt, nicht das Geld, worauf es ankommt, sondern es sind – vom Frühstücksbrötchen bis zum Kühlschrank –  alle die Dinge, die man für Geld kaufen kann. Das Brötchen  kommt vom Bäcker, der Kühlschrank vom Elektrohändler. Unser Angestellter ist froh, dass es den Bäcker gibt, und er ist froh, dass es den Elektrohändler gibt. Auch der Elektrohändler holt sich seine Brötchen beim Bäcker, und der Bäcker bezieht das Mehl von einem Mühlenbetrieb und das Erdgas für den Backofen von einem Energiekonzern, der wiederum das Gas über eine lange Pipeline von da bezieht, wo Menschen sich daran gemacht haben, eine Erdgaslagerstätte zu erschließen, die weit mehr hergibt als sie für den eigenen Bedarf benötigen.

Man kann dies als symbiotisches Zusammenwirken betrachten, als Kooperation oder eben als arbeitsteilige Wirtschaft.

Setzt man jedoch die Brille des Argwohns auf,

kann man im gleichen, gut funktionierenden System, nur noch erdrückende Abhängigkeiten erkennen. Abhängigkeiten, die möglichst verringert oder ganz aufgelöst werden müssen, um nicht mehr erpressbar zu sein.

Woher kommt nun aber diese Brille des Argwohns?

Wieso fürchtet der Chef des Maschinenbauunternehmens, sein Fertigungsplaner könnte in böser Absicht den Betrieb  zum Stillstand bringen? Wieso fürchtet der Angestellte, sein Chef könnte ihn jederzeit unter einem Vorwand fristlos entlassen, obwohl es keinerlei Hinweis auf solche Absichten gibt und alles zur vollsten, beiderseitigen Zufriedenheit läuft?

In vielen Fällen erwachsen Argwohn und Misstrauen aus Einflüsterungen Dritter, die damit eigene Interessen verfolgen. Mit dem Anschein des wohlwollenden Warners vor einer latent bestehenden Gefahr, bisweilen auch noch gegen Honorar von Beratern vorgetragen, wird ein Risiko, das mit einer minimalen Eintrittswahrscheinlichkeit behaftet ist, zu einer akut drohenden Gefahr hochstilisiert, der dringend ein Riegel vorgeschoben werden muss.

Vor 60 Jahren, mitten im Kalten Krieg, floss das erste russische Erdgas über die von Thyssen-Krupp für die Pipeline gefertigten Röhren, die wiederum mit Gaslieferungen bezahlt wurden, in die alte Bundesrepublik. Schon damals waren erhebliche Widerstände der USA zu überwinden, doch die damalige Bundesregierung hat sich von diesen Hindernissen zwar bremsen, aber nicht aufhalten lassen und den Gas-Deal mit der Union der Sozialistischen Sowjet Republiken (UdSSR) durchgezogen. 

Das war – bis in die jüngste Zeit hinein – nie eine bedrückende Abhängigkeit, sondern eine absolute Win-Win-Situation.

Wo ist der Argwohn hergekommen, der dieses für Deutschland und Russland günstige Geschäft mit Erfolg in eine katastrophale Abhängigkeit umgedeutet hat?

Begonnen hat es mit den Plänen für die neue Ostsee-Pipeline mit einer Direktverbindung zwischen Russland und Deutschland. Da meldete sich die Ukraine aus nicht verkennbarem Eigeninteresse zu Wort und verlangte, das Projekt aufzugeben. Klar. Die Gefahr, dass die bis jetzt in die Kassen der Ukraine fließenden Durchleitungsgebühren geschrumpft oder gar vollständig entfallen wären, war nicht völlig von der Hand zu weisen. ABER: Welches Recht hatte die Ukraine, bei einem Geschäft zwischen Russland und Deutlschland als lachender Dritter abzukassieren?

Gleiche Bedenken gegen North Stream 2 kamen aus Polen, verbunden mit der Sorge, mit der Inbetriebnahme von North Stream 2 könne Russland Polen den Gashahn zudrehen, weil die Durchleitungskapazitäten nach Deutschland dann eventuell nicht mehr gebraucht würden.

Die USA stellten sich massiv hinter die Wünsche der Ukraine und Polens, schon lange vor dem Beginn der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine und warnten vor einer existenzbedrohenden Abhängigkeit, was in der Drohung gipftelte, man werde es zu verhindern wissen, dass die inzwischen fertiggestellte Pipeline in Betrieb geht. Die amtierende Bundesregierung hat sich von dieser Drohung beeindrucken und das Milliardenprojekt am Grunde der Ostsee aufgegeben.

Der Effekt dieses Einknickens vor der Hegemonialmacht ist an den horrenden Preisen für Gas, Strom, Heizöl und Benzin abzulesen. Die Teuerung wäre deutlich geringer ausgefallen, befände sich Deutschland nicht in einem wahnhaften Dekarbonisierungsrausch, der, in Verbindung mit dem gnadenlos durchgezogenen Atomausstieg tatsächlich eine Abhängigkeit von ausländischen Energierohstoffen hervorgerufen hat. Wind und Sonne sind unzuverlässig und nach dem heutigen und dem für 2030 oder 2035 absehbaren Stand der Technik vollkommen unzureichend, um den Energiehunger einer Industrienation zu decken. Die eigenen Steinkohlegruben sind stillgelegt, die heimische Braunkohle soll ebenso in der Erde bleiben, wie die heimischen Erdgasvorkommen, die – allerdings per Fracking – erschlossen werden könnten und für mindestens 50 Jahre ausreichen würden. Zudem besteht in der amtierenden Regierungskoalition auch kein Interesse an einer Energiegewinnungsform der Zukunft, dem DUAL FLUID Reaktor. Ein Kernkraftwerk, das nicht nur von seiner Physik her vollkommen ungefährlich ist, sondern auch in der Lage, die für tausende Jahre einzulagernden, abgebrannten Brennelemente als Brennstoff zu verwenden und dabei einen Abfall zu hinterlassen, dessen Halbwertszeit nur noch bei einigen hundert Jahren liegt. Die Anfangsinvestitionen würden wenige Milliarden Euro betragen, im Vergleich zu den 25 Milliarden der EEG-Umlage, zu den 34 Milliarden der Gasumlage oder zu den 100 Milliarden des Sondervermögens zur Aufrüstung der Bundeswehr ein Klacks. Aber das wollen die Grünen nicht. Dabei haben die Grünen von der US-Fracking-Industrie, die Deutschland als neuen Markt gewinnen wird, noch nicht einmal einen Dollar als Parteispende erhalten.

Nie etwas gehört vom Dual Fluid Reaktor? Tja, unsere Medien … Auf die ist Verlass. Hier ein Link für Interessierte.

Wie lächerlich die Sorge um die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas ist, lässt sich am besten daran illustrieren, dass die Ukraine, die sich mit Russland im Krieg befindet und dabei von Deutschland, der EU und allen voran den USA mit Geld und Waffen versorgt wird, unbekümmert weiterhin russisches Gas importiert. Man kann diese Tatsache auch als Beleg dafür ansehen, dass es Putin mit der Benennung des Militäreinsatzes als „Spezialoperation“ ernst meint. Würde Russland Krieg gegen die Ukraine führen, es gehörte zu den ersten Maßnahmen, dem Kriegsgegner den Gashahn zuzudrehen.

Wer – ohne schon für einen wirtschaftlich vergleichbaren Ersatz gesorgt zu haben – die eigenen Energieressourcen stilllegt und verschrottet, wer zudem Erdgas zu einem neuen Spielzeug der Spekulanten gemacht hat, indem der Handel an der Börse erlaubt wurde, wo sich Unternehmen mit langfristigen Lieferverträgen zu günstigen Preisen inzwischen goldene Nasen verdienen, hat die missliche Situation selbst zu verantworten. Wer dann noch dazu den günstigsten Lieferanten mit Sanktionen vom Markt verdrängt, und dann bemerkt, dass er nun tatsächlich von Russland abhängig ist, erfüllt meine Ansprüche an kompetente und vorausschauend handelnde Wirtschafts- und Außenpolitiker nicht.

Dass man die Schuld an der Misere einzig Putin in die Schuhe schiebt, ist billige Propaganda, auf die jene 25 Prozent der Wähler, die ihre Stimme immer noch den Grünen geben wollen, tatsächlich hereinzufallen scheinen.

Auf die Idee, dass es auch so sein könnte, dass der Fortbestand der US-Hegemonie davon abhängt, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der EU zu Russland weitestgehend gekappt werden und kein „eurasischer“ Wirtschaftsraum entsteht, und dass deshalb die deutsche Wirtschaft und der deutsche Wohlstand zur Abwehr dieser drohenden Abhängigkeit geopfert werden, muss man ja auch selber kommen. Das erfordert nicht nur Informationen, sondern auch die Fähigkeit zu selbständigem Denken. In der Zeitung und in den Abendnachrichten sind solche Überlegungen nicht zu finden.

Inzwischen hat Russland einen Strang der Pipeline North Stream 2 für eine anderweitige Verwendung vorgesehen. Der zweite Strang stünde immer noch zu Belieferung Deutschlands zu Verfügung. Doch der verdammte, eitle Stolz – oder der untertänigste Gehorsam, das dürfen Sie sich aussuchen – verlangt, dass eher die gesamte deutsche Volkswirtschaft an die Wand gefahren wird, als mit Russland einen Vertrag über Gaslieferungen über North Stream 2 zu schließen.

Hätte man Alexander dem Großen eingetrichtert, so wie man es uns permanent eintrichtert, dass es die „einfachen Lösungen“ für komplexe Probleme nicht gibt, dass es sich dabei nur um Populismus handelt, mit dem die Rechtsextremisten auf Stimmenfang gehen, der „Gordische Knoten“ wäre immer noch nicht gelöst.