Vom Abreißen der Eskalationsspirale

Was viele Handwerker aus eigener, leidvoller Erfahrung wissen, den meisten ungelernten Politikern aber vollkommen fremd sein dürfte, ist die Tatsache, dass die Absicht, eine Schraube wirklich bombenfest einzudrehen, schlagartig die ganze Mühe zunichte machen kann, weil die Schraube der Belastung nicht standhält und abreißt.

Es handelt sich um die Extremfolge des universellen Gesetzes vom sinkenden Ertragszuwachs. Ob es sich um den Einsatz von Dünger auf dem Acker oder um die Gabe von Medikamenten zur Bekämpfung einer Krankheit handelt: Sobald die Dosis über das sinnvolle Maß hinausgeht, wird das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag  erst immer ungünstiger, bis zum Schluss ein totgedüngter Acker oder ein toter Patient die Fehlbehandlung offensichtlich werden lassen.

Zu den beliebtesten Anwendungsfällen solcher Art von Eskalation gehört seit jeher der Krieg. Zu den anekdotischen Beispielen dafür gehört das sprichwörtliche „Hornberger Schießen“.

Im Jahre 1519 hatten sich die Villinger aufgemacht, um Hornberg anzugreifen. Warum, das weiß heute niemand mehr. Jedenfalls vertrauten die Hornberger auf ihre schweren Waffen und feuerten mit der großen Kanone so lange auf die anrückenden Villinger, bis die Munition verbraucht war. Ob es am Schießpulver mangelte oder an den Kanonenkugeln oder ob es gar die Kanone zerrissen hat, weiß heute auch keiner mehr. In der Villinger Chronik für die Zeit von 1495 bis 1533 findet sich jedenfalls der Eintrag:

„Und do es ward umb die finffe nachmittag, do fing der uff dem hindern schlos an zů schiesen under unssern huffen, das die escht ab den bomen sprutzten; doch schoss er nit uber zwen schutz gefarlich, die andern ginen all uber die berg hinuß, ob dye hundertt schutz. Allso kam die bottschafft hinuß, die statt und das åin schloss hettend uffgeben.“

Kurz: Die Hornberger Kanoniere haben um die hundert Schuss abgegeben, von denen jedoch nur zwei gefährlich waren, der Rest ging ins Nirgendwo. Und als die Munition alle war, haben sich die Hornberger ergeben.

Dumm gelaufen.

Anders herum lief es im Herbst 1632 als Wallenstein Coburg überfallen und ohne nennenswerte Gegenwehr eingenommen hatte. Nun sollte auch noch die auf dem Festungsberg gelegene „Veste Coburg“ eingenommen werden. Mit zwei Haubitzen schoss man am 29. September vom Fürwitzberg aus auf die Hohe Bastei. Weil dies jedoch keine nennenswerte Wirkung zeigte, wurden weitere Geschütze auf dem Rögnersberg in Stellung gebracht und  Laufgräben ausgehoben, um in deren Schutz näher an die Festung heranzugelangen.

Am 3. Oktober endlich versuchten Wallensteins Truppen die Festung zu stürmen. Als sie auf Schussweite heran waren, wurden sie von den Belagerten zurückgeworfen und auch die Artillerie Wallensteins ausgeschaltet.

Dumm gelaufen.

Sicherlich glaubten die Hornberger, wenn sie nur mehr Kanonen und Munition gehabt hätten, hätten sie die Villinger besiegen können, und sicherlich glaubte Wallenstein, wenn ihm nur bessere Geschütze zur Verfügung gestanden hätten, hätte er die Veste einnehmen können.

So, wie die USA glaubten, wenn sie nur den Urwald Vietnams vollständig entlauben könnten, könnten sie mit ihren überlegenen Waffen auch den Vietcong besiegen, oder wie sie glaubten, mit Drohnenangriffen und bunkerbrechenden Bomben die Taliban besiegen zu können.

Nun sind wir Zeitzeugen und zugleich Teilnehmer einer kriegerischen Eskalationsspirale in welcher der kindlich-feste Glaube daran, mit immer mehr und immer schwereren Waffen sei der Sieg (was man sich auch immer darunter vorstellen mag) zu erringen, jeden anderen Gedanken zur Lösung des Konflikts vollständig aus den Köpfen verdrängt hat.

Ich sehe diese Eskalationsspirale, die deutscherseits ja mit nicht mehr als 5.000 Helmen begonnen hat, als einen phänomenalen kriegerischen Blindflug an, ganz so, als sei der ukrainische Generalstab aus einem Pool grüner Wehrdienstverweigerer zusammengestellt, die nach dem Motto: „Probieren geht über studieren“, einfach austesten, was sie mit den gerade verfügbaren Waffen erreichen können, und wenn sie feststellen, dass sie damit nichts erreichen, Ausschau halten, was es da denn noch gäbe, was man noch anfordern könnte, um noch einen und noch einen Versuch zu unternehmen, bis es gelingt – wobei das Gelingen durchaus auch darin bestehen könnte, dass die Schraube  abreißt. Aber damit rechnen, wie eingangs erwähnt, nur erfahrene Handwerker.

Von russischer Seite wird gerne aufgezählt, welche Materialverluste die ukrainischen Truppen inzwischen zu verzeichnen gehabt hätten. Darunter mehr als 7.500 Panzer und andere gepanzerte Kampffahrzeuge.

Man muss ernsthaft versuchen, sich diese Zahl bildlich vorzustellen, um zu begreifen, was da in der Ukraine abgeht. Eine kleine Hilfe bietet dabei die Deagle-Liste über die Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte:

https://www-deagel-com.translate.goog/country/Ukraine

Ein kleines bisschen scrollen und dann mal auf „Heer“ klicken. Dass da in der Spalte „Available“ hauptsächlich Fragezeichen stehen, darf man ignorieren, was es da 2021 noch gegeben hat, dürfte bereits weitgehend vernichtet sein. In der Order-Spalte wird es interessant, denn da tauchen tatsächlich schon die westlichen Kampfpanzer auf, die sicherlich 2021 noch nicht bestellt gewesen sein können. Oder doch?

Jedenfalls stellt sich der durchaus begründete Verdacht ein, dass sich mit der häppchenweisen Lieferung von Leopard 2 Panzern ab März bis zur Ankunft der 31 zugesagten Abrams-Gefährte aus den USA in vielleicht 12 Monaten, herausstellen wird, dass auch das noch lange nicht genug ist, um einen begründeten Anlass zu haben, die Siegesfanfaren auf Hochglanz zu polieren.

Die Militärs sind ja auf beiden Seiten heute schon der Überzeugung, dass nur die zusätzliche Unterstützung durch Kampfflugzeuge und weitreichende Raketen den Einsatz der schweren Kampfpanzer überhaupt als erfolgversprechend erscheinen ließe. Deswegen hört man aus Russland immer noch sehr zuversichtliche Töne, während die Forderung nach eben dieser Luftunterstützung von der Ukraine mit immer schrilleren Tönen gefordert wird.

Ob es aber taktisch sinnvoll sein kann, solche Kampfflugzeuge auf ukrainischen Stützpunkten zu stationieren und sie damit den russischen Streitkräften quasi auf dem Präsentierteller vor die Nase zu setzen, wage ich zu bezweifeln. Es sei denn, die Fortsetzung der forcierten Verschrottung von Rüstungsprodukten zur Schaffung eines exorbitanten Auftragsbooms für die Rüstungsindustrie, wäre das eigentliche Ziel der Waffenlieferungen an die Ukraine.

Ob es in der ukrainischen Luftwaffe Piloten gibt, die in der Lage sind, westliches Fluggerät ohne längere Schulung überhaupt in die Luft und unbeschädigt wieder herunter zu bringen, wage ich ebenfalls zu bezweifeln.

Sinnvoller, im Sinne des effektiven Einsatzes von Kampfflugzeugen um die russischen Truppen wirksam zurückzudrängen, dürfte es sein, die Flieger von Polen, Rumänien oder auch Deutschland aus mit vollständig ausgebildeten Besatzungen aus den NATO-Streitkräften einzusetzen.

Das könnte allerdings genau die eine Umdrehung zu viel sein. Dann spätestens reißt die Schraube ab, mit der die Ukraine bombenfest an die NATO angeflanscht werden sollte. Dann geht es nicht mehr um die Ukraine, sondern nur noch um den Anspruch der USA auf die weltweite Dominanz und den Willen Russlands das eigene Überleben zu sichern.

Alle, die jetzt mit aller Kraft mit an jenem schweren Schraubenschlüssel ziehen, der die Eskalationspirale Umdrehung für Umdrehung vorwärts bringt, sollten wissen, dass dem Augenblick, an dem die Schraube abreißt, unmittelbar jener Augenblick folgt, an dem die eigene Hand mit aller selbst aufgebrachten Kraft zwangsläufig ruckartig und ausgesprochen schmerzhaft mit dem eisenharten, scharfkantigen Werkstück kollidiert.

Statt dann in klägliches Weinen auszubrechen, wäre es sinnvoll, jetzt aufzuhören, weiter an dieser Schraube zu drehen. Doch, wie heißt es so schön:

„Erfahrung ist erfahrungsgemäß nicht übertragbar.“

(Schon gar nicht von einem erfahrenen Handwerker auf einen ungelernten Politiker.)