Schon 1967, als der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller die erste bundesrepublikanische „Konzertierte Aktion“ aus der Taufe hob, war der Versuch, Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter Regierungsleitung an einem Tisch zur Vernunft zu bringen, nicht von Erfolg gekrönt, obwohl damals durchaus noch wirtschaftspolitischer Sachverstand in der Regierung anzutreffen war. Damals ging es primär darum, Deutschland auf den Wachstumspfad zurückzuführen. Seit gestern geht es in der Neuauflage der konzertierten Aktion darum, die Inflation zu besiegen.
Obwohl die drei Musketiere im Kampf gegen das Böse gestern noch recht gefasst vor die Kameras traten, um zu verkünden, was man so verkündet, wenn man sich nicht einige ist, nämlich dass man jetzt unterhaken müsse und gemeinsam nur noch das große Ganze im Auge haben wolle, war unschwer zu erkennen, dass sowohl der Arbeitgeberanführer als auch die Gewerkschaftsanführerin wie auch der Kabinettsanführer sehr unterschiedliche Vorstellungen vom großen Ganzen entwickelt hatten, was sich insbesondere an den Statements der so genannten Tarif-Partner erkennen ließ.
Yasmin Fahimi, die DGB-Vorsitzende, und Rainer Dulger, der Arbeitgeberpräsident, erklärten übereinstimmend, dass sie sich vom Staat nicht in die Lohnfindung hineinreden lassen wollen. Sie meinen jedoch durchaus Unterschiedliches. Während die Gewerkschaften fürchten, dass die Inflation durch Lohnzurückhaltung bekämpft werden soll, was realen Kaufkraftverlust – nicht nur für die gewerkschaftlich Organisierten – bedeuten würde, sondern auch für die Nichtorganisierten und für die Rentner, deren Bezüge ja an die Lohnentwicklung angekoppelt sind, fürchten die Arbeitgeber, dass der Bundeskanzler, beraten von Finanzminister Lindner, darauf hofft, der Geldmangel in den Taschen der Konsumenten solle nicht länger durch Stützungs- und Hilfsmaßnahmen des Bundes, sondern durch kräftige Lohnerhöhungen kompensiert werden. Was Olaf Scholz sich konkret von der konzertierten Aktion erwartet, ist nicht zu erkennen – vermutlich hofft er auf ein Wunder.
Das Dumme an diesem groß herausgestellten Aktionismus ist die Tatsache, dass alle Beteiligten offenbar übereingekommen sind, den verlorenen Schlüssel für das Tor zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht nicht da suchen wollen, wo er verloren gegangen sein könnte, sondern ausschließlich im engen Lichtkegel der Laterne, weil man da halt am besten sieht, selbst wenn man nichts sieht.
Hilfreich wäre hingegen ein ganz kurzer Blick zurück in bessere Zeiten.
Nach dem verlorenen Krieg hieß die wirtschafts- und sozialpolitische Strategie der jungen Bundesrepublik: „Soziale Marktwirtschaft“. Soziale Marktwirtschaft, das ist längst in Vergessenheit geraten, bedeutete nichts anderes, als dass die Wirtschaft angehalten war, die Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg angemessen teilhaben zu lassen. Soweit erforderlich, griff der Staat sanft korrigierend ein. Damit war zunächst einmal auf dem Binnenmarkt sichergestellt, dass Massenkaufkraft und Produktivität miteinander Schritt halten konnten.
Von der Sozialen Markwirtschaft ist nichts mehr übrig. Sie ist zerfallen, bzw. wurde zerlegt, in zwei sich feindselig gegenüberstehende Komponenten, nämlich in den freien, weitgehend deregulierten Markt, dem auch weite Teile der einst staatlich organisierten Infrastruktur der Grundversorgung überlassen wurden, und einem überbordenden Sozialstaat, der sich darin gefallen hat, die von der freien Marktwirtschaft angerichteten Schäden zu reparieren. Dieses Reparatursystem funktioniert so, dass den Benachteiligten mit Zuwendungen geholfen wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, während die Mittel für diese Zuwendungen durch Steuern und Sozialabgaben von den materiell etwas besser gestellten abhängig Beschäftigten aufgebracht werden mussten oder durch Kreditaufnahme zu Lasten späterer Generationen beschafft wurden. Wirtschaft und Kapital wurden dabei allerdings geschont. Die gerne verbreitete Rede, dass die Reichen mehr zum Steueraufkommen beitragen als die weniger Reichen und Armen, ist ein schlechter Witz, dessen Pointe bei einem einzigen Blick auf die Statistik des Steuer-Aufkommens nach Steuerarten in sich zusammenfallt. Lohnsteuer, Mehrwertsteuer und alle weiteren Konsumsteuern finanzieren den Staat. Was an Körperschaftssteuer und veranlagter Einkommensteuer oben drauf kommt, ist nicht mehr als Feigenblatt.
Mit dieser Strategie ist es durchaus gelungen, die Inflation im Wirtschaftskreis der Realwirtschaft so gering zu halten, dass eher Anzeichen einer schleichenden Deflation auszumachen waren. Der Staat ständig klamm. Kein Geld für Schulen, kein Geld für den Erhalt der Infrastruktur, kein Geld für die Bundeswehr, kein Geld für das Gesundheitswesen. Dafür sprudelnde Gewinne einer Wirtschaft, die mit niedrigen Löhnen im Inland und niedrig gehaltenen Ertragssteuern sehr erfolgreich dabei war, die Ergebnisse der Arbeit der Beschäftigten im Export zu vermarkten. Das Realeinkommen der Beschäftigten stagnierte hingegen seit vielen Jahren und war in bestimmten Bereichen sogar rückläufig. Aber noch war die Versorgung mit allen Waren des täglichen Bedarfs gesichert, wenn auch am unteren Ende der Einkommenspyramide schon nur noch über die soziale Institution der Tafeln und die Möglichkeit, durch das Einsammeln leerer Flaschen ein paar Cent zusätzlichen Einkommens zu generieren, der akute Hunger befriedigt werden konnte.
Kein Geld im Markt – keine Inflation!
Ganz so einfach ist es aber nicht. Das unerschütterliche Axiom der Marktwirtschaft lautet:
„Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.“
Nun hat es den deutschen Politikern gefallen, die Nachfrage künstlich anzukurbeln. Ob sie sich dessen bewusst waren, sei dahingestellt. Zugegeben haben sie es jedenfalls nicht, als Deutschland seine Grenzen für die Mühseligen und Beladenen und Wirtschaftsflüchtlinge und Kriminelle ohne Ansehen der Person geöffnet hat. Das angeblich oder vermeintlich reiche Land, das angeblich oder vermeintlich Platz hat, und als humanitärer Leuchtturm aller Welt ein Vorbild sein sollte, hat damit konsequent – einer unerklärlichen Eingebung folgend – das Verhältnis von Produktiven zu Transferleistungsempfängern zu Lasten der Produktiven verändert. Es wurde damit auf der Angebotsseite knapp, am deutlichsten sichtbar im Bereich des Wohnungswesens, wo die Preise durch die Decke gingen, als die Statistiker es immer noch verstanden, diese Effekte aus der Inflationsrechnung herauszuhalten. Discounter haben es übernommen, durch gnadenlose Preisdrückerei bei ihren Lieferanten und ebenso gnadenlose Lohndrückerei bei ihren Beschäftigten und den Beschäftigten der Subunternehmer, die gesenkten Hauptes die Regale nachfüllten und den Schmutz wegschafften, sowie durch schleichende Qualtitätsminderung die Versorgung mit dem Mindesten auch für das moderne Prekariat soweit aufrecht zu erhalten, dass Hungeraufstände vermieden werden konnten, ohne dass die Löhne der Produktiven angepasst werden mussten.
Eine Wirtschaft wie aus dem Lehrbuch des Neoliberalismus. Auf Kante genäht – und stellenweise durfte die Naht auch neben der Kante verlaufen.
Die schlampige Naht, mit der Angebot und Nachfrage zusammengehalten wurden, platzte jäh auf, als im Zuge der weltweiten Corona-Panik die Lieferketten zerbrachen. Dinge, die vorher noch reichlich vorhanden waren und zu niedrigen Preisen in den Regalen standen, wurden auf einmal knapp, und die Händler reagierten darauf mit Preiserhöhungen. Aber nicht nur Lebensmittel und Konsumartikel aus chinesischer Fertigung fehlten, auch die Produktion ging zurück. Einerseits wegen der verhängten Lockdowns, andererseits wegen des Ausbleibens von Zulieferteilen. Der Staat sah es wieder einmal als seine Aufgabe an, die „Arbeitsplätze“ zu erhalten und finanzierte massenhaft und für lange Zeite ein Heer von Kurzarbeitern, was das Verhältnis von Produktiven zu Transferleistungsempfängern, und zugleich das Verhältnis von Angebot zu Nachfrage noch einmal verändert hat und die Angebotspreise steigen ließ.
Was in der Pandemie mit der Wirtschaft geschehen ist, hat eine Teuerung hervorgebracht, deren Ursache nicht ein Überschuss an Liquidität in den Taschen der Konsumenten war, sondern ein Mangel auf der Angebotsseite. Knappheit.
Knappheit erzeugt Knappheitspreise.
Dies war allerdings immer noch ein schleichender Prozess, wie auch die Verknappung preiswerter Energie aus Kernkraft und Kohle und deren Ersatz durch teure Energie aus Wind und Sonne sich schleichend vollzogen hatte. Das Wasser im Topf erwärmte sich langsam. Der Frosch bemerkte die Veränderung auch dann noch nicht. Als sich die Temperaturerhöhung beschleunigte.
Erst als unsere kluge und weise Regierung beschlossen hat, die Zufuhr von Kohle, Öl und Gas aus Russland zu kappen, das Energieangebot verheerend zu verknappen und die Energiehändler begannen, den verfügbaren Rest zu Mondpreisen an die noch zahlungsfähige Kundschaft zu verteilen, brach das ganze schöne Gebäude aus niedrigen Löhnen und hohen Exportquoten in sich zusammen. Im Mai 2022 war es soweit: Aus dem Außenhandelsüberschuss Deutschlands war erstmals seit langen Jahren wieder ein Außenhandelsdefizit geworden. Die Ursachen sind in teuren Energie-Importen ebenso zu suchen, wie in der durch Handelskrieg und fehlende Zulieferteile geschrumpften Produktion. Aber bisher sind weder die Löhne gestiegen, noch die Steuern. Das steht uns erst noch bevor.
Auch großflächige Produktionseinstellungen wegen der drohenden Rationierung der noch verfügbaren Energie hat es noch nicht gegeben. Auch das steht uns erst noch bevor. Genauso wie der daraufhin zu erwartende Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Nun soll es, in höchster Not, die Konzertierte Aktion wieder richten.
Es wird nicht funktionieren. Auch wenn sich drei Zauberlehrlinge aus verschiedenen Zauberschulen, nachdem ihnen das Wasser inzwischen bis zum Halse steht, an einen Tisch setzen, während der verhexte Besen nicht aufhört, das Land mit Unheil zu fluten: Der alte Hexenmeister, der den faulen Zauber noch rückgängig machen könnte, hat dieses Land schon lange verlassen und sich geschworen, erst zurückzukehren, wenn die Fluten jene selbstherrlichen Demiurgen davongespült haben, die das Chaos angerichtet haben.
Konsterniert, also bestürzt und fassungslos, suchen sie weiter nach dem Zauberspruch, der so einfach zu finden wäre, könnte man sich nur überwinden, gemachte Fehler zu korrigieren und die aus dem Ruder gelaufenen Besen der selbstzerstörerischen Sanktionen und der selbstzerstörerischen Energiepolitik, mitsamt allem Corona-Klima-und-Gender-Übel in jenen ideologischen Schoß zu verbannen, aus dem sie gekrochen sind.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seids gewesen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister.«