Wofür es keine deutschen Wörter gibt …

Ursprünglich sollte die Überschrift dieses Artikels lauten:

„Dynamisch regressiver, epigonaler Eklektizismus“

Das hätte allerdings auf viele Leser viel zu abschreckend gewirkt, um sie zum Anklicken zu animieren. Wie aber sonst sollte man die Entwicklung Deutschlands der letzten vierzig Jahre unmissverständlich auf den Punkt bringen, ohne sich in den Details verlieren zu müssen?

Es fällt mir dazu sonst nur das weit verbreitete, aber eher verharmlosende Zitat von G. Michael Hopf ein:

Harte Zeiten schaffen starke Männer.
Starke Männer schaffen gute Zeiten.
Gute Zeiten schaffen schwache Männer.
Und schwache Männer schaffen harte Zeiten.

„Eher verharmlosend“ erscheint mir dieses Zitat, weil es keinerlei Hinweise darauf gibt, wie sich der Übergang von harten auf gute und von guten auf harte Zeiten vollzieht, und welchen Einfluss starke und schwache Männer darauf haben. Bezieht man die Vita von G. M. Hopf mit ein, der als Angehöriger der US-Marines unterwegs war, bevor er zum Schriftsteller wurde, gerinnt die Metapher von den starken und schwachen Männern eher zu einer Rechtfertigung von Krieg und Faustrecht als sich als allgemeingültige Regel der zyklischen Entwicklung von Gesellschaften zu offenbaren.

Lassen Sie mich die Erläuterung des Begriffs des dynamisch regressiven, epigonalen Eklektizismus bei den Epigonen beginnen.

Davon, dass die Epigonen das schafften, was ihren Vätern zehn Jahre zuvor misslungen war, nämlich Theben zu  erobern, ist im heutigen Sprachgebrauch nur übrig geblieben, dass  ihnen nichts Neues eingefallen ist. Sie haben einen bereits geführten Krieg nur wiederholt, statt sich einen neuen Gegner zu suchen und einen neuen Krieg zu führen. Epigonen fehlt der eigene kreative Ansatz. Ihre Taten und Werke sind, auch wenn sie vollendeter und erfolgreicher erscheinen als die Originale, nur reproduktiv, also Kopien.  Von der Kopie zum Plagiat ist es nur ein kleiner Schritt, wobei der Unterschied lediglich darin besteht, dass der Plagiator die Kopie nicht als solche kenntlich macht. Der Erfolg der industriellen Gesellschaft beruht auf der massenhaften Produktion und dem massenhaften Konsum von mehr oder minder perfekten Kopien, wobei sich die Raubkopie von jenen Kopien, die sich Originale nennen dürfen, nur in der fehlenden Lizensierung und dem (daher) niedrigeren Preis unterscheidet.

Der Eklektizismus stellt eine Sonderform des Nachahmens dar, eine Art Rosinenpickerei, bei der unter Missachtung der Erkenntnis, dass das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile, aus den bekannten Schöpfungen Teile, bzw. Aspekte herausgelöst werden um sie – als vorgeblich neue Ganzheit – zu arrangieren und zu präsentieren. Dieses „Neue“ besticht durch seine Dysfunktionalität, die von den Neuerern jedoch mit dem Argument bestritten wird, dass die Funktionalität aller neu zusammengesetzten Elemente in ihren ursprünglichen Umgebungen schließlich längst nachgewiesen sei. Einfache Beispiele für den Eklektizismus unserer Tage zeigen sich überall da, wo das Prinzip der Privatisierung dazu führt, dass funktionierende Elemente der staatlich organisierten Daseinsvorsorge mit den Aspekten des gewinnorientierten Unternehmertums kombiniert werden. Privatisierte Kliniken, deren Einnahmen von Fallpauschalen bestimmt werden, neigen zwangläufig dazu, sich einerseits auf besonders einträgliche Behandlungen zu spezialisieren und andererseits nur das unabdingbare Minimum an personellen Ressourcen vorzuhalten. Der Arzt wird dabei ebenso zum Akkordarbeiter wie die Pflegekräfte, der Patient ist nicht mehr Mensch, sondern Teil eines entmenschlichten Produktionsprozesses, sein alleiniger Zweck ist es, die Rendite der Anteilseigner der Klinikkonzerne zu sichern.

Eklektizismus zeigt sich aber auch in jenem Brei aus politischen Argumentationen und Zielsetzungen, der daraus entstanden ist, dass die Wesenskerne der Parteien verwässert und weitgehend aufgegeben wurden, indem man sich aus den Programmen der Konkurrenz nach und nach alles herauspickte und dem eigenen Programm zuordnete, was Wählerstimmen versprochen hat. Dieser Prozess der Kannibalisierung, besonders „erfolgreich“ von Angela Merkel vorexerziert, die sich sowohl bei der SPD als auch bei den Grünen und der FPD bediente und eine Landschaft hinterlassen hat, in der alles Konservative fehlt, weil es als „rechts“ ausgeschlossen und mit allen Mitteln bekämpft wurde, während die Parteien sich nur noch in den Gesichtern und Sprachformeln ihrer Repräsentanten unterscheiden, nicht mehr aber in den Zielsetzungen, soweit es Zielsetzungen, die ein bloßes Reagieren auf Sachzwänge übersteigen, überhaupt noch gibt.

Der Eklektizismus wurde zum epigonalen Eklektizismus als die Lust an neuen Rekombinationen erlahmte, weil deren offensichtliche, unabänderliche Dysfunktionalität desillusioniernd und damit demotivierend wirkte. Der Übergang zwischen den Zuständen vollzog sich schleichend und überlappend. Während Gerhard Schröder vermutlich der letzte große Eklektiker war, der die Elemente aus Wirtschafts- und Sozialpolitik neu zu kombinieren versuchte, während Angela Merkel als seine Nachfolgerin dieses „Konstrukt“ nicht mehr zu verändern vermochte, sondern lediglich im dauerhaften Versuch steckengeblieben ist, die Dysfunktionalitäten mit demiurgischen Eingriffen zu korrigieren, damit aber nur vermochte, die sich auftuenden Löcher damit zu stopfen, dass neue aufgerissen wurden, war der Übergang in die nächste Phase schon vorgezeichnet.

Die regressiven Bestrebungen traten als neuer Lösungsansatz in Erscheinung. Weil die aus inkompatiblen Einzelteilen erschaffenen Kombinationen einfach nicht im Zusammenspiel befriedigend funktionieren wollten, hat man damit begonnen, einzelne Einzelteile aus der Komposition zu entfernen. Der erste große Schlag, eigentlich ein Doppelschlag, unter rot-grün mit dem Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie begonnen, und nach dem Ausstieg aus dem Ausstieg mit dem endgültigen Ausstiegsbeschluss vernichtend geführt, hallt bis in unsere Tage nach. Kernenergie war eben nicht kompatibel mit dem Aspekt der grünen Ökologie und deren umfassenden Anspruch, die Erde für Jahrtausende vor radioaktiver Strahlung zu bewahren. Der Blick ging zwar weit in die Zukunft, billigte der Zukunft jedoch keinerlei Veränderung mehr zu, wie sie jetzt, nur wenige Jahre später, zum Beispiel mit dem Dual Fluid Reaktor zur Realität wird.

Ein weiteres, regressives Element war die de fakto Abschaffung der Staatlichkeit Deutschlands, die mit dem Beitritt zur EU und der Abgabe von Souveränitätsrechten an diese begonnen hat und mit der Aufgabe der Sicherung der Staatsgrenzen 2015 ihre massive Fortführung fand. Seither liegt der Nationalstaat in tiefer Agonie und es gibt unter den sich selbst abgrenzend als „demokratisch“ bezeichnenden Parteien keinen erkennbaren politischen Willen ihn wiederzubeleben und nationale Interessen zu vertreten. Es ließen sich noch viele weitere kleine Bausteine aufzählen, die nach und nach über Bord geworfen wurden, bis hin zur Demontage der vom Grundgesetz garantierten Grundrechte. Dabei stellt sich allerdings die Überlappung zur vorerst letzten Episode der Entwicklung dar, nämlich zum dynamisch regressiven epigonalen Eklektizismus.

Seither steigert sich die Dynamik des Prozesses. Der Baukasten der Republik, aus dem bis vor drei Jahren immerhin noch die Kulissen eines Staatsgebildes mit einer funktionierenden Volkswirtschaft errichtet werden konnten, ist fast völlig leer. Die Bausteine sind verschwunden, entsorgt, verschenkt, vernichtet – und dies in immer schnellerer Folge, um nicht zu sagen in einem derart affenartigen Tempo, dass einem beim Zuschauen schwindelig wird. Jetzt entsorgen wir gerade die Stahlindustrie, die Düngemittelindustrie, legen die Diesel-LKWs lahm, weil in Piesteritz kein AdBlue mehr erzeugt wird und die Getränke-Industrie, weil niemand mehr weiß, wo noch die so genannte „Kohlensäure“ herkommen soll. Dass die Bäckereien reihenweise schließen und auch die ersten Metzgereien Alarmrufe hören lassen, dass Kneipen, Restaurants und Hotels nicht mehr wissen, wie sie ihre Stromrechnungen noch bezahlen sollen, während die allgemeine Teuerung die Kaufkraft der Konsumenten auf das Allernötigeste und darunter abschmelzen lässt, wird mit dem „Argument“, deswegen sei das noch lange keine klassische Insolvenz, derart ins Absurde verkehrt, dass die Rede von den dynamisch regressiv agierenden Epigonen allen Betroffenen als eine noch viel zu höflich verpackte Kritik erscheinen muss, weshalb ich mich für meine zurückhaltende Wortwahl an dieser Stelle entschuldige.

Wie viele Wochen wird es wohl noch dauern, bis die letzten Erinnerungen an jenes Deutschland, das tatsächlich einmal ein reiches Land war, beim Schein von Kerzen und Taschenlampen in kalten Wohnungen verblassen werden? Wie viele Wochen wird es noch dauern, bis die öffentliche Ordnung ebenso zusammengebrochen sein wird, wie die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser? Wie viele Wochen wird es noch dauern …?

Und wo werden wir uns wiederfinden? In der Steinzeit, im frühen Mittelalter, im 17. Jahrhundert – oder doch in den Armen von Klaus Schwab der uns fragen wird:

„Warum seid ihr nicht einfach glücklich,
jetzt,  da ihr nichts mehr besitzt
und nichts mehr verlieren könnt?

P.S.: Zur Ehrenrettung der deutschen Sprache: Die „bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE)“ wurde sehr schnell als „Rinderwahnsinn“ ins Deutsche übertragen. Vielleicht gelingt das einem Sprachschöpfer ja auch mit dem dynamisch regressiven, epigonalen Eklektizismus. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben.