Perversitäten

Ganz tief unten in meiner Wortschatztruhe befindet sich das Wörtchen „pervers“, samt den zugehörigen Ableitungen. Hin und wieder mache ich Inventur im Wortschatz – und da ist es mir am Wochenende wieder begegnet. Es hat inzwischen schwer gelitten. Wie eine Topfpflanze, die während  des Urlaubs nicht gegossen wurde, hängt es dürr und welk in seinem näheren Sprachumfeld, um das es nicht besser bestellt ist.

Ich stand also vor der Frage: Soll ich alles „Perverse“ aussortieren und über die Biomülltonne entsorgen, oder soll ich versuchen, es mit Eifer und Hingabe noch einmal aufzupäppeln?

Eine schwere Entscheidung. Es gibt ja keine Anwendungsfälle mehr. Der Zeitgeist ist darüber hinweggegangen. Da, wo „pervers“ früher seine Berechtigung hatte

– und Wikipedia formuliert diese vergangenen Anwendungsfälle so: „Traditionell wurde in vielen Kulturkreisen insbesondere ein Sexualverhalten als pervers bezeichnet wenn es nicht der Fortpflanzung diente“ –

sind Perversion und Perversität nicht mehr anzutreffen.

Klaus Wowereit sagte es als einer der Ersten frei heraus: „… und das ist gut so!“

Wir sind im Reich der wunderbaren – manchmal  auch wundersamen – Vielfalt angekommen, wo das, was noch der Fortpflanzung dient, eher als verschroben, wenn nicht gleich als rechts angesehen wird. Da lassen wir die Finger davon. „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“, sagte meine Oma – mit pikiertem Naserümpfen – schon vor 40 Jahren, und bekräftigte damit ihre bereits semitolerante Einstellung, die rückblickend zwar immer noch altbacken und ziemlich rechts wirkt, damals aber einen Vorfrühling der Aufgeschlossenheit, Weltoffenheit und Toleranz erahnen ließ.

Seit mindestens 20 Jahren ist der Begriff „pervers“ im Hinblick auf untaugliche Fortpflanzungsbemühungen vom Sprachleben ausgeschlossen. Man nennt und bewertet es halt anders. Sprache wandelt sich. Denken Sie nur an den Begriff „Schaum“. Früher fand man den Schaum im Schaumbad, in der überschäumenden Lebensfreude, ja sogar noch im Bau- und Montageschaum aus der Dose. Heute ist „Schaum“ eine der Substitutionsmöglichkeiten für das ausgetilgte und verstoßene N-Wort und taucht in den „Schaumküssen“der Firma Storck wieder auf. In den Medien zögert man noch, den „Schaum“ auch in den Nachrichten zum Einsatz zu bringen. Da bleibt man lieber bei „ein Mann“ oder „eine Gruppe“, statt „Schaum“ oder „Schäume“ einzusetzen. Kann ich verstehen.

Das Adjektiv „pervers“ hat dann versucht, anderweitig einen sinnvollen Einsatz zu finden. Immer dann, wenn das tatsächliche Handeln das Gegenteil der angeblichen Absicht bewirkte, hangelte sich das Perverse wieder an die Oberfläche. Wenn also zum Beispiel der Fallmanager im Job Center einer Person,

die zuletzt als Angestellte eines Schulungsanbieters damit beschäftigt war, Arbeitslosen im Rahmen einer „Maßnahme“ zu vermitteln, wie man sich bei potentiellen Arbeitgebern erfolgreich bewirbt,

bei Androhung von Leistungskürzungen die Teilnahme an einem Bewerbungstraining verordnete, dann galt das für einige Zeit als pervers, bzw. als Pervertierung einer an sich guten, mindestens gutgemeinten Sache.

Auch wenn jemand sich als Veganer präsentierte und keinerlei echte tierische Produkte verzehrte, aber mit seinem Essen nur dann zufrieden war, wenn die veganen Zutaten so bearbeitet, verändert und gewürzt wurden, dass er den Unterschied zu einem echten Schnitzel, einer echten Frikadelle oder einer echten Bockwurst nicht mehr feststellen konnte, da gab es Menschen, die nach einigem Kopfschütteln zu der Aussage kamen: „Irgendwie ist das doch pervers, oder?“

Das alles ist vorbei. Es gibt nichts Perverses mehr. Was einst pervers war, hat sich zum „neuen Normal“ entwickelt. Ein Ausdruck, der relativ frisch in meine Wortschatztruhe Einzug gehalten hat.

Vor vielen Jahren habe ich einmal – empört – beschrieben, dass viele Menschen nicht hungern, weil es keine Lebensmittel für sie gäbe, sondern weil ihnen das Geld fehlt, sie zu kaufen. Sinngemäß habe ich das so auf den Punkt gebracht: „Die Verhungern vor dem wohlgefüllten Supermarkt.“ Mit Schröders Armutspolitik kamen dann hierzulande die Tafeln und das Containern auf. Wo es gute Gründe gibt, trotz aller betriebswirtschaftlichen Gegenargumente, Tafeln zu beliefern, kann es im Grunde keine übergeordneten Interessen mehr geben, das Containern unter Strafe zu stellen. Aber das ist halt das neue Normal.

So wie es das neue Normal ist, wenn der zuständige Minister mit (möglicherweise nur gespielter) Sorge auf die drohende Energieknappheit und den Gasmangel hinweist und zum Sparen und Frieren aufruft, ohne auch nur in einem Halbsatz zu erwähnen, dass Gas in Hülle und Fülle in Lublin am Endpunkt der Pipeline North Stream 2 nur darauf wartet, abgenommen zu werden. Gleiches gilt für die Raffinerie in Schwedt. Er will versuchen, irgendwo auf der Welt noch Rohöl aufzutreiben, dass dann unter erheblichen Schwierigkeiten in Schwedt verarbeitet werden soll. Die Pipeline Druschba, aus der seit Jahrzehnten das benötigte Öl für Berlin und Brandenburg entnommen wurde, ist so voll wie der Supermarkt, vor dem die Armen verhungern müssen. Der Witz, weder beim Gas, noch beim Öl, fehlt es am Geld. Der Oberwitz: Würde man Gas über North Stream 2 und weiterhin Öl über die Druschba-Leitung beziehen, würden sogar die massiv angestiegenen Preise wieder auf ein erträgliches Niveau zurückfinden.  Aber, da kannste nichts machen. Das ist eben nicht mehr (P-Wort), sondern das neue Normal.

Früher, wenn jemand wüst verprügelt worden war, oder wenn sich jemand bis zum Stehkragen vollgesoffen hatte, kam in der Schilderung des Zustandes häufig die Redewendung zum Einsatz: Ich wusste nicht mehr, ob ich Männlein oder Weiblein war. Nun, die Zahl der Prügeleien zwischen Gruppen hat ein hohes Niveau erreicht. Der Pro-Kopf-Alkoholkonsum soll hingegen zurückgegangen sein. Dennoch scheint die Zahl derjenigen, die nicht mehr wissen, was sie sind, und es daher für sich selbst immer wieder neu entscheiden müssen, so stark zugenommen zu haben, dass die voll im neuen Normal agierende Bundesregierung meinte, ein Gesetz auf den Weg bringen zu müssen, das es gestattet, einfach mal beim Standesamt vorbeizuschauen und anzugeben, wie man ab sofort genannt werden will, und für welches der drei zur Wahl stehenden Geschlechter man dieses Mal votiert. Strafen für jene Rechtsextremisten, die das neue Normal „Kunigunde“ weiterhin mit „Kunibert“ ansprechen sollten, ob nun versehentlich oder in der diskriminierenden Absicht, den biologischen Mann als Mann anzusprechen, sind im Gesetz auch schon vorgesehen. Wenn Kunigunde allerdings nach Ablauf von 12 Monaten sich wieder für Kunibert entscheiden sollte, dann wird  bestraft, wer immer noch Kunigunde zu ihm sagt.

Man hat dafür, wenn ich es mir recht überlege, das P-Wort früher auch gar nicht benutzt. Das P-Wort war reserviert für die eklatante Differenz zwischen vorgeblicher Absicht und dem Ergebnis. Man hatte Ausdrücke dafür, aber auch die dürfen getrost vergessen und über die Biomülltonne entsorgt werden, denn das neue Normal überstrahlt inzwischen alles, wovon man früher glaubte, es differenziert betrachten und benennen zu müssen.

Es gibt eigentlich keinen guten Grund, noch länger gegen das neue Normal anzukämpfen. Es hat doch was. Es hat was vom 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der ja durchaus so interpretiert werden kann, dass das Zerfallen aller Ordnung unaufhaltsam ist und erst ein Ende finden wird, wenn alles, bzw. wenn alle auf dem gleichen, niedrigen Niveau angekommen sind und keine Unterschiede mehr erkennbar sind. Vielleicht handelt es sich beim neuen Normal ja auch um das Nirwana der Buddhisten, jener Raum, in den eingehen darf, wer sich in der höchsten Erkenntnis, die keines Erkennens mehr bedarf, sondern den Geist wie ein strahlendes Licht erfüllt, vom Rad der Wiedergeburten lösen konnte und fortan in wahrer geistiger Freiheit über den Wassern schweben kann.

Vielleicht nur andersrum. Also mit – mangels Unterscheidungsvermögen – immer weiter minimierter Erkenntnis, bis der Geist am Anfang der Lebenskette kein niedrigeres Wesen für seine Reinkarnation mehr finden kann und zwangsläufig als – wenn auch geistloses – Geistwesen, ins Nirgendwo dahinschwebt. Ein Nirgendwo, das sich vom Nirwana in nichts unterscheidet – ausgenommen dieses allgegenwärtige und nimmer endende, ewig blendende Grün …