Vom Leiden des entmündigten Verstandes – Deutschland 2023

PaD 39 /2023 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 39 2023 Vom Leiden des entmündigten Verstandes

Es wäre ziemlich einfach ein Essay zu schreiben über einen fiktiven Staat, dessen Regierung auftritt, wie ein einziges Wahrheitsministerium.

Über einen Staat, dessen Regierung goldene Verheißungen an den Himmel malt und jeden, der es wagt, noch einen Blick auf den Boden der Realität zu werfen, auch ohne, dass er öffentlich darüber sprechen würde, so lange mit Strafen überzieht, bis er es vorzieht, die Realität ebenfalls nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen.

Das Problem dieser einfachen Lösung bestünde jedoch darin, dass die Fiktion nicht gänzlich ohne Überzeichnungen auskommt, wenn sie Beachtung finden will, und dass die Parallelen, die sich nach dem Willen des Verfassers aufdrängen sollten, von den Rezipienten willentlich – zum Selbstschutz – oder gänzlich unbewusst an der falschen Stelle gezogen würden.

Ein Staat,  in dem die Schaufenster der Metzgerläden kaum Fleisch und Wurst, dafür aber jede Menge Propagandaplakate für die Partei und die von ihr propagierte vegane Ernährung zur Schau stellen? Da kann doch nur die längst verstorbene DDR gemeint sein.

Ein Staat, in dem Kritiker von der Bildfläche verschwinden und manchmal nach vielen Monaten als Geläuterte wieder auftauchen, manchmal aber auch nie wieder gesehen werden? Das kann doch nur Nordkorea sein, oder China. Wahrscheinlich China. China ist wichtiger.

Ein Staat, in dem der Strom regelmäßig stundenweise abgeschaltet wird, dessen Wirtschaft bei steigender Inflation schrumpft? War das nicht Venezuela? Oder Argentinien? Südamerika auf alle Fälle. Ganz gewiss.

Ein Staat, in dem die Alten im Müll wühlen und sich um schmutzige leere Flaschen streiten, in dem inzwischen Millionen ihre Nahrungsmittel da abholen, wo kurz vor dem Verderben stehende Lebensmittel zusammengekarrt werden, wo Wohlfahrtsverbände abgetragene Kleidung und Schuhe verteilen? Irgendwo in Afrika? Nee. Da gibt es weder Tafeln noch Kleiderkammern. Tibet? Ach was! Bulgarien, Rumänien, Kosovo? Ja, irgendwo da am Balkan. Da wird es solche Zustände wohl geben, es sollten nur noch die vielen Obdachlosen mit in Betracht gezogen werden. Dann passt das wirklich.

Sie erkennen das Problem.

Es ist hingegen gar nicht einfach, ein Essay zu schreiben, über einen real existierenden Staat mit einer real existierenden Regierung in dem alles Vorgenannte, bereinigt um fiktionale Übertreibungen, Realität geworden ist.

Es ist nicht nicht einfach, weil es die Missstände nicht gäbe und man sorgsam Halbwahrheiten aneinanderreihen müsste, um den Text aufrüttelnd und wirksam zu gestalten. An den Missständen herrscht schließlich weniger Mangel als an allem anderen. Es ist nicht einfach, weil man dieses Essay so gestalten müsste, dass weder die Künstliche Intelligenz der Sozialen Wächtermedien, noch die natürliche Intelligenz der Faktenchecker daran Anstoß nehmen, denn dies kann üble Folgen haben, die ich hier lieber nicht benenne, um weder KI noch NI zu alarmieren.

Wie aber stellt man es an?

Ich habe einen Großmeister der Wahrheitsvermittlung entdeckt, der in seiner Kommentierung der Zeitgeschichte in literarischer Schlichtheit das Stilmittel der Kinder- und Jugendpsychologie einsetzt, wo zwar nicht mehr unzeitgemäße Feen und Rumpelstilzchen in Erscheinung treten, aber eben auch böse, unbeeinflussbare Mächte, denen mit fantastischen Geistesblitzen Paroli geboten wird, so dass sich der Glanz der glänzenden Zukunft – sich in der schimmernden Rüstung des weißen Ritters widerspiegelnd, tausendfach gebrochen wie von geschliffenen Diamanten – übers Land legt  und alles Ungemach in einem überirdischen Leuchten einhüllt und vergessen macht.

Sie haben sicherlich auch schon von ihm gehört und gelesen. Seine Name ist Beck. H. Beck. Oft geschüttelt, stets gerührt.

Er vertraut darauf, dass Sie seine Botschaft richtig verstehen. Dazu bedarf es lediglich eines kleinen Tricks, den er gelegentlich in einem flüchtig dahingeworfenen Halbsatz verrät, aber immer so flüchtig und kryptisch dahingeworfen, dass er nie Gefahr läuft, selbst der im säkularen Gewande wiedererstandenen Inquisition zum Opfer zu fallen. Dieser kleine Trick ist, auf den Punkt gebracht, die Eliminierung seiner erzählerischen Gabe und lautet für den allgemeinen Gebrauch: „Denk dir den Glanz der glänzenden Zukunft einfach weg!“

Es braucht im Grunde nur ein einziges Beispiel, um das Prinzip zu verdeutlichen.

H. Beck hat die Absicht, uns allen zu verdeutlichen, dass das, was in der Gegenwart bedrückt, nur ein Vorspiel ist, dass das tiefe Tal der bitteren Tränen erst noch vor uns liegt, doch so kann er das natürlich nicht sagen. Er würde aus dem Stand geteert und gefedert, aufs Rad geflochten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Wie verpackt er diese Botschaft nun so, dass weder KI noch NI Alarm schlagen?

Zunächst lässt er den Glanz der glänzenden Zukunft erstrahlen und modelliert den Basis-Satz:

„Wir kommen aus der Krise heraus!“

Dieser Satz steht und glänzt gar wunderbar. Nun gilt es noch, ihn auf die aktuelle Situation anzupassen. Die aktuelle Situation sieht so aus, dass inzwischen alle Institute einig in der Vorhersage sind, dass Deutschland keineswegs vor einem Aufschwung sondern vor einem weiteren Abschwung steht, was sogar die Bundesregierung dazu gebracht hat, ihre kleine Aufschwungsprognose für 2023 (+0,4%) zu revidieren und in eine Abschwungsprognose (-0,4%) zu verwandeln.

Nun, das lässt sich stilistisch wunderbar gestalten, es braucht nur  drei Worte der Ergänzung, und die lauten:

„langsamer als gedacht“

Die Botschaft bleibt erhalten. Wir kommen heraus. Aber: Ihr! Ihr habt euch das zu einfach vorgestellt. Ihr habt gedacht! Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr nicht denken sollt. Denken ist fiktiv. Nur die Erfahrung ist die Realität. Hättet ihr nicht gedacht, müsste ich jetzt nicht so einen Satz formulieren.

Und so murmelt er diesen Satz leise vor sich hin:

„Wir kommen langsamer aus der Krise heraus als gedacht. Wir kommen langsamer aus der Krise heraus als gedacht. Wir kommen langsamer …“

Stimmt. Das ist noch nicht stimmig. Es fehlt die Erklärung für den Denkfehler. Es war ja ein allgemeiner, sozusagen ein kollektiver Denkfehler, ein Denkfehler, der selbst den lizenzierten Vordenkern unterlaufen ist und vom Volk ordnungsgemäß nur 1 : 1 nachgedacht wurde – wenn man das wirklich Denken nennen will.

Nun ist der Satz aber schon recht lang geworden. Bloß jetzt nicht in den Nebensatz flüchten, das könnte Teile der Bevölkerung verunsichern.  Am besten nur ein einziges kleines Wort noch, die alles erklärende Wundervokabel. Wuchtig muss es sein. Unwiderlegbar im Kontext des bereits geschmiedeten Satzes. Und dann ist die Erleuchtung da. Das Wunderwort:

„daher“

Klar. Das ist eingängig. Da hat jeder eine Idee dazu.  So wirds gemacht:

„Wir kommen daher langsamer aus der Krise heraus als gedacht.“

Nun betrachten Sie sich bitte diesen formvollendeten Satz. Was bleibt davon übrig, wenn er vom Glanz der glänzenden Zukunft befreit wird?

„Wir kommen ganz langsam daher …“

Langsamer als alle anderen bedeutenden Volkswirtschaften. Aber das ist noch nicht alles. Wer kennt noch den Unterschied zwischen „her“ und „hin“?

Richtig. Wie war das gleich in Chemnitz? „Hasi komm her!“ 

Da wurde der Fortschreitende zurückgepfiffen. Sonst hätte es heißen müssen: „Los Hasi, geh hin!“, oder wie es der Sachse sächselnd auszudrücken pflegt, „Hasi, mach hinne!“

So verschlüsselt H. Beck also seine Gewissheiten. So wie er leiden auch alle anderen ob ihres entmündigten Verstandes und umschreiben, umschreiben und umschreiben die Fakten, bis der Glanz der glänzenden Zukunft, immer neu mit gewaltigen Anleihen an diese Zukunft erkauft, ja geradezu erwummst, nur noch im stillen Kämmerlein des Denkers sorgfältig vom harten Knochen der Realität wegpräpariert werden kann.

Haben Sie sich bisher an diesem Text köstlich amüsieren können? Glauben Sie mir, es war nicht meine Absicht. Erschrecken wollte ich Sie!

Gestatten, dass ich „daher“ noch eine Schippe nachlege.

Ein Jünger des zitierten H. Beck formulierte im SPIEGEL  zum gleichen Thema:

„Deutschland braucht für die Erholung von den Energiepreissprüngen im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine mehr Zeit.“ Da ist es, das ausbuchstabierte „daher“, stümperhaft im Vergleich zum Großmeister, aber immerhin, ein Versuch.

Es kamen also Energiepreissprünge im Zuge daher.

Die Rache der Russen für Lenin, der von den Deutschen im plombierten Zuge eingeschleust wurde, um die Revolution zur Blüte zu treiben?

Hier ist die glänzende Zukunft als Erholung ausgemalt. „Das braucht seine Zeit“, sagt auch der Onkel Doktor gerne, wenn der Patient auf die Arznei so gar nicht ansprechen will. Vor allem dann, wenn er das lähmende Grünfieber des Patienten irrtümlich als aggressive Putinose diagnostiziert und Abführmittel anstatt Fieberzäpfchen verordnet hat. Warten wir also auf die Erholung. Wir haben ja alles. Wir haben Platz, wir haben Sondervermögen, wir haben Zeit … Sie kommt schon noch, die Erholung. Kommen Sie in vierzehn Tagen wieder vorbei.

Eine weitere Großtat der SPIEGEL-Texter, die glänzende Zukunft versprechend, findet sich im hier besprochenen Artikel als Link auf einen weiteren Artikel.

Glänzende Zukunft: Immer weniger Fachkräftemangel.

Das ganze Satzfragment im Original:

„Schwache Konjunktur mildert Fachkräftemangel“

Das erinnert mich an angebliche Sparbemühungen in der DDR, wo angeblich das beidseitig benutzbare Toilettenpapier mit diesem Slogan beworben wurde:

„Der Erfolg liegt klar auf der Hand!“

Damit habe ich mir eine klassische Überleitung zu einem Wort geschaffen, das H. Beck besonders gerne in den Mund nimmt. Sie ahnen es, es geht um das Müssen.

Ein „Müssen“, vollkommen losgelöst vom „Können“, geschweige denn vom „Wollen“. Ein „Müssen“ um des „Müssens“ Willen täuscht Handlungs- und Führungsstärke vor, im engeren Sinne also wieder den Glanz der glänzenden Zukunft, vor dessen Erscheinen die Götter den Schweiß der Regierten gesetzt haben.

  • Investitionshemmnisse müssen aus dem Weg geräumt werden.
  • Mehr Fachkräfte aus dem Ausland müssen angelockt werden.
  • Die Bürokratie muss  abgebaut werden.

Drei Monster, wie frisch aus den Sagen und Märchen der Alten entsprungen. Die siebenköpfige Hydra der Bürokratie, der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen, der Teufel der Zuwanderung, in dessen Bart drei goldene Haare vermutet werden, die es auszureißen gilt, und die Flut des süßen Breis der Investitionshemmnisse aus dem Topf der grünen Dekarbonisierungsküche, die allesamt nur mit Hilfe von Kräften aus den gleichen Sagen und Märchen zu besiegen sind, die müssen, müssen! jetzt endlich angegangen werden.

Ihr müsst ja bloß, dann wird es schon. (Frei nach Kaiser Franz: Schaun mer mal, dann sehn wir schon)

Dann kommt erst die Erholung. Die wird ihre Zeit brauchen, und dann, ihr werdet es sehen, werden wir – langsamer als gedacht – aus der Krise herauskommen, aber erst muss gemusst werden.

Nehmen Sie alles weg, was irgendwie nach dem Glanz der glänzenden Zukunft riecht. Nehmen Sie die Verheißung des Paradieses vom irdischen Jammertal weg, in dem ja nicht nur die Umstände miserabel sind, sondern auch noch jede Menge Opfer erwartet werden.

Dann,
wenn Sie diese Prüfung bestanden haben,
dürfen Sie eintreten in den Orden
„Vom bitteren Leiden des entmündigten Verstandes“.

Dort dürfen Sie Ihre Linke auf das Buch der Wahrheit legen und mit hoch erhobener Rechten schwören, Ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, den Schleier der falschen Prophetien zu zerreißen und an dem Ort, an den Sie das Schicksal gesetzt hat, an der Wiederherstellung der Ordnung zu arbeiten.