Arbeitsproduktivität im Sinkflug

Bei „Cicero“ gibt einen aktuellen Beitrag mit dem Titel „Die Hütte brennt“, der gut zu der Thematik passt, die ich am Mittwoch angerissen habe: Arbeitsplatz-Abbau vs. neugeschaffene Arbeitsplätze.

Cicero merkt unter anderem an:

In der Zeit vom letzten Quartal 2017 bis zum ersten Quartal 2023 sank die Arbeitsproduktivität – gemessen als reales Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigten – um beinahe zwei Prozent.

Was ist das, Arbeitsproduktivität?

Es handelt sich um eine Kennzahl, gemessen in Geldeinheiten. Man dividiert das BIP (wahrscheinlich inflationsbereinigt) durch die Anzahl der Erwerbspersonen und erhält X Euro pro Beschäftigtem.

Das bedeutet:

Mehrproduktion schlägt sich in steigenden Umsätzen nieder, bei gleichbleibender oder unterproportional steigender Beschäftigung steigt die gemessene Arbeitsproduktivität. Umgekehrt gilt, bei steigender Zahl der Beschäftigten und gleichbleibender oder unterproportional steigenden Umsätzen sinkt die Arbeitsproduktivität.

Hinter beiden Entwicklungsrichtungen verbergen sich ziemlich komplexe Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die hier alle anzusprechen den Rahmen eines Tageskommentars sprengen würde, daher hier nur zwei Szenarien in Stichworten:

  • Die Konkurrenz auf den Exportmärkten macht Preisnachlässe im Export erforderlich. Es wird mit den gleichen Beschäftigten gleich viel produziert, doch die sinkenden Umsätze lassen die Arbeitsproduktivität in Euro pro Beschäftigtem sinken.
  • Aufgrund gesamtwirtschaftlicher Probleme scheiden viele Unternehmen, die sich bisher an der Rentabilitätsgrenze gerade noch halten konnten, aus der Produktion aus. Das BIP sinkt (wir haben bereits Rezession), doch die  Zahl der Beschäftigten sinkt ebenfalls – überproportional – weil nur die efffizientesten Unternehmen, mit den geringsten Personalkosten-Anteilen am Markt bleiben. Ergebnis: Die Arbeitsproduktivität steigt trotz insgesamt sinkendem Brutto-Inlands-Produkt.

Beide Szenarien treffen für Deutschland derzeit so nicht zu.

Ich biete daher einen anderen Erklärungsansatz an:

Die im Vergleich zum BIP relativ hohe Beschäftigung deutet auf einen tiefgreifenden Wandel der Beschäftigungsverhältnisse hin, die sich von gutbezahlten Jobs von Spezialisten und hochqualifizierten Facharbeitern mehr und mehr in den Niedriglohnsektor verlagern.

Wo Fabriken geschlossen werden und Logistik-Zentren und Lieferdienste aufblühen, verschwinden gutbezahlte Jobs und die mit dem gutbezahlten Personal erwirtschafteten Umsätze aus dem BIP. Das Importvolumen wächst dabei, um die im Binnenmarkt fehlende Produktion zu kompensieren, während schlecht bezahlte Jobs, hart an der Mindestlohngrenze entstehen und die mit dem schlecht bezahlten Personal erzielten niedrigeren Umsätze im BIP keinen vollständigen Ausgleich schaffen können, während die Zahl der Beschäftigten annähernd gleich bleibt.

Thomas Mayer, der Verfasser des verlinkten Cicero-Artikels, hebt auf den Zusammenhang zwischen rückläufiger Arbeitsproduktivität und der Finanzierbarkeit der Renten ab. Von daher fordert er Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität, Anreize zur Innovation, Deregulierung, Entbürokratisierung, Steuersenkung, Senkung der Sozialausgaben und Investitionen zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, einschließlich höherer Verteidigungsausgaben.

Kein Zweifel, an alledem mangelt es.

Doch wird es genügen, um die Arbeitsproduktivität wieder zu steigern?

Ein Teil der Ursachen für das Abrutschen der Arbeitsproduktivität in den europäischen Industrieländern ist Gerhard Schröder und Tony Blair anzulasten, die mit dem (einigermaßen gelungenen) Versuch, den besten Niedriglohnsektor der Welt zu schaffen, den „Billiglöhnern“ – durch massive Veränderungen der Sozialsysteme – in der Zahl der Beschäftigten zu relevanter Größe verholfen haben. 

Damit wurde zweifellos die Exportwirtschaft gestärkt, die von den drückenden Sozialllasten ein Stück weit entlastet wurde, während der Lebensstandard der Bevölkerung vor allem durch Importe aus Billiglohnländern wie China einigermaßen gehalten werden konnte, was wiederum den Verlust von Arbeitsplätzen in fast allen auf den Binnenmarkt ausgerichten Branchen nach sich gezogen hat.

Meiner Meinung nach sind die von Thomas Mayer vorgeschlagenen Maßnahmen zwar grundsätzlich richtig und sinnvoll, werden aber nicht ausreichen, um dieses  „tatsächlich strukturelle“ Problem lösen zu können.

Wichtiger und zielführender ist es, die weitere Abwanderung von Unternehmen und ganzen Branchen zu stoppen und die bereits verloren gegangen zurückzuholen oder neu aufzubauen. Nur so kann die Rückabwicklung des Niedriglohnsektors gelingen und zugleich die mit der Globalisierung eingehandelte Abhängigkeit vom Wohlwollen des Auslands wieder reduziert werden.

Die USA zeigen der Welt gerade wie es geht, aus Trumps „America first“ hat Biden den „Inflation Reduction Act“ gemacht, um verloren gegangene Wertschöpfung wieder ins Land zurückzuholen.

Das ist der Weg, um die Kennzahl „Arbeitsproduktivität“ wieder zum Glänzen zu bringen.

Es scheint aber so, dass die derzeit Verantwortlichen der Überzeugung sind, eine Parole, wie „Deutschland zuerst!“, sei zutiefst rechtsextemistisch und es müsse selbst der kleinste Anschein vermieden werden, die Interessen Deutschlands aus der Vergessenheit holen und sie tatsächlich ernsthaft vertreten zu wollen.