Dass etwas geschehen musste, um die Ampel vor dem Winter zu schützen, war klar. Dass FDP und Grüne nicht willens waren, jeweils um ein halbes Kernkraftwerk aufeinander zuzugehen, um vor der eigenen Klientel nicht das Gesicht zu verlieren, war nicht mehr zu übersehen. Dass es die Aufgabe des Inhabers der Richtlinienkompetenz gewesen wäre, dem Hickhack ein Ende zu bereiten, um noch vor dem Eintreten des GABO (Größter Anzunehmender BlackOut) die Regierungshände in Unschuld zu waschen, wusste jeder, der dem Machtspiel auf offener Bühne mit Interesse folgte.
Ob Scholz sich aufraffen würde, das Notwendige zu tun, stand jedoch bis zuletzt in Frage.
Nun hat er einen Brief an seine Minister geschrieben und darin mitgeteilt, was zu tun sei.
Dies allerdings wirft neue Fragen auf.
Der Weiterbetrieb eines zusätzlichen Kernkraftwerkes bis 15. April und die Abschaltung aller drei noch in Betrieb befindlichen am 15. April 2023, das ist ja alles andere als die Lösung der deutschen Energieprobleme. Es ist lediglich die kurzfristige Besinnung auf das Gebot der Vernunft, in Anbetracht einer im Winter verstärkt drohenden, existenzgefährdenden Energiemangellage, auch die letzten noch verfügbaren Reserven zu mobilisieren.
Welche erkennbare Entwicklung gibt denn Grund für die Zuversicht, dass Deutschland nach dem 15. April 2023 ohne Strom aus Kernkraft zurechtkommen wird?
Ist endlich die Speichertechnologie auf dem Markt, mit der es möglich wird, den wind- und sonnengetriebenen Flatterstrom zu bändigen und die benötigte Leistung für Industrie und Haushalte kontinuierlich und nachfragegerecht ins Netz zu bringen?
Nicht, dass ich wüsste!
Sind die unverzichtbaren Gaskraftwerke schon gebaut, von denen es im Koaltionsvertrag heißt:
„Wir beschleunigen den massiven Ausbau der Erneuerbare Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken. Die bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke müssen so gebaut werden, dass sie auf klimaneutrale Gase (H2-ready) umgestellt werden können. Erdgas ist für eine Übergangszeit unverzichtbar.“
Sind die Prognosen bezüglich des steigenden Strom- und Energiebedarfs inzwischen überholt? Hat sich die Notwendigkeit, den Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken inzwischen erübrigt? Was ist aus der Unverzichtbarkeit von Erdgas für eine (lange) Übergangszeit geworden?
Es ist gerade einmal ein Jahr her, dass die Koalitionäre zu diesen Einsichten gelangt waren. Alles, was seither geschehen ist, hat an den zugrundeliegenden Fakten nichts geändert. Es ist allerdings mit Hilfe fragwürdiger außenpolitischer Entscheidungen gelungen, alle diese hehren Pläne zu torpedieren. Das unverzichtbare Erdgas steht nicht mehr zur Verfügung, jedenfalls nicht mehr in den ausreichenden Quantitäten und zu hinnehmbaren Preisen. Die Versorgungssicherheit ist gefährdet, und dass es mit strengen Sparvorgaben gelingt, den Energieverbrauch zu senken, ändert nichts daran, dass der (steigende) Bedarf nicht gedeckt werden kann, was zu erheblichen Problemen auf allen Feldern der Wirtschaft führt.
Was Olaf Scholz mit seiner Order getan hat, hat nichts mit „Richtlinienkompetenz“ zu tun. Im Gegenteil! Er ist der im Koaltionsvertrag vereinbarten politschen Weichenstellung absolut treu geblieben und hat lediglich da eine Entscheidung im Detail getroffen, wo sich die Kontrahenten Habeck und Lindner nicht einigen wollten. Beim Fußball nennt man so etwas den „Schiedsrichterball„. Das Spiel geht einfach an der Stelle weiter, an der es unterbrochen wurde.
Um im Beispiel zu bleiben: Richtlinienkompetenz ist es im Fußball, wenn ein Trainer vor dem Spiel die Aufstellung und die Spieltaktik vorgibt oder während des Spiels eine Auswechslung anordnet und/oder eine Veränderung der Grundformation vornimmt.
Von daher lässt sich die Großtat des Bundeskanzlers auf nichts anderes als den Selbsterhaltungstrieb zurückführen. Die Chancen der Ampel, ungeschoren über den Winter zu kommen, haben sich geringfügig verbessert. Die Chancen Deutschlands, vor der vollständigen Deindustrialisierung wieder auf preiswerte Energieressourcen zugreifen zu können, sind nach wie vor nicht zu erkennen.
Die Vermutung, dass das Vorgehen so abgesprochen war, um entweder Habeck oder Lindner ein Nachgeben zu ersparen und so einen Gesichtsverlust vor den eigenen Parteigängern zu vermeiden, liegt nahe. Sonst hätte die Einmischung des Bundeskanzlers nämlich eigentlich zum Bruch der Koaltion führen müssen.