Strategien der Geheimhaltung

Die Bundesregierung weigert sich, die Tür zu ihren Erkenntnissen in Bezug auf den Anschlag auf die North Stream Pipelines auch nur einen Spalt breit zu öffnen. Dies ist insbesondere deshalb  verwunderlich, weil sie damit – gemessen an der üblichen Praxis – die Urheberschaft Russlands auszuschließen scheint.

Hätten nicht andere Strategien zur Verfügung gestanden, das Geheimnis zu wahren, ohne Russland vor der Öffentlichkeit reinzuwaschen?

Das ist eine knifflige Frage, der zunächst einmal eine andere Frage vorausgehen muss, nämlich die Frage, zu welchem Zweck Geheimhaltung überhaupt sinnvoll eingesetzt werden kann.

Nun, auf den einfachsten Nenner gebracht, wird Geheimhaltung genutzt, um einen Vorteil zu wahren.

Das beginnt damit, dass man sich beim Kartenspiel nicht in die Karten schauen lässt, ggfs. darüber hinaus ein Pokerface aufsetzt oder versucht, durch gezielt eingesetzte Mittel der Körpersprache, irreführende Informationen auszusenden. Hier geht die Geheimhaltung bereits in den Bereich des Verschweigens oder Vertuschens der Wahrheit und sogar in den Bereich der bewussten und gezielten Fehlinformation (Lüge) über.

Der Vorteil der Geheimhaltung kann sowohl darin bestehen, eigene Ressourcen zu verbergen, um den Gegner leichtsinnig zu machen, oder eigene Schwächen zu verbergen, um den Gegner in Unsicherheit zu halten.

Mit diesen Absichten der Geheimhaltung und den dabei angewendeten Methoden bewegt sich die Geheimhaltung noch im Feld der Spielregeln, oder, wie man heute sagt: Im Feld der regelbasierten Ordnung.

Doch auch beim Kartenspiel kennen wir vielerlei Methoden geheimgehaltener Vorgehensweisen zur Manipulation der Chancen. Sei es durch Manipulation der Karten selbst (gezinkte Karten), durch Manipulationen beim Mischen oder Geben, durch das berühmte „Fünfte Ass im Ärmel“, durch geschickt platzierte Spiegel oder andere Formen der Kenntnisnahme vom Blatt eines Mitspielers.

Diese Art geheimgehaltener Operationen zieht bei Entdeckung Strafen nach sich. Das kann vom Ausschluss vom Spiel bis zum Totschlag im Affekt reichen, ist aber für manche Spieler jener Nervenkitzel, der sie einzig und alleine am Spiel reizt.

Dennoch bleibt es dabei: Geheimhaltung zielt darauf ab, einen Vorteil zu wahren, unabhängig davon, ob er bereits besteht oder erst  durch eine geheim gehaltene Maßnahme errungen wird.

Das Verhalten der Bundesregierung gegenüber der interessierten Öffentlichkeit lässt zwei Deutungen zu:

Entweder, die Regierung sieht sich in dieser Frage als Gegner der Öffentlichkeit, oder die Geheimhaltung richtet sich gar nicht gegen die Öffentlichkeit, sondern gegen einen oder mehrere Gegner im Ausland.

Gehen wir zuerst der zweiten Möglichkeit nach. In diesem Fall könnte es eigentlich nur darum gehen, den eigentlichen Gegner über das tatsächliche Wissen der Bundesregierung im Unklaren zu lassen und damit seine Unsicherheit zu verstärken. Setzen wir  gedanklich Russland als Gegner ein, öffnen sich wiederum zwei Wege, nämlich:

a) Russland hat die Pipelines selbst sabotiert, die Bundesregierung weiß das, plant mit ihren Verbündeten einen verheerenden Gegenschlag und hofft, Russland durch die Geheimhaltung ihres Wissens zu verunsichern. Womit sie sich innerhalb der antirussischen Koalition in guter Gesellschaft befindet.

b) Russland hat die Pipelines nicht sabotiert. Die Bundesregierung weiß aus eigenen Quellen, oder weil es ihr vom Urheber selbst mitgeteilt wurde, wer für den Anschlag verantwortlich ist, kann dieses Wissen aber nicht preisgeben, weil dies gegen die ungeschriebenen Gesetze der ehrenwerten Gesellschaft, deren Teil sie ist, verstoßen und fürchterliche Strafen nach sich ziehen würde.

Die andere Möglichkeit, dass die Bundesregierung ihren Gegner in der deutschen Öffentlichkeit, vornehmlich in den Reihen der Oppositionsparteien sieht, denen sie unterstellt, diese würden dieses Wissen für sich instrumentalisieren, besteht ebenfalls. Betrachtet man jedoch die Parteienlandschaft, dann wäre ein Wissen um die russische Täterschaft etwas, was weder die CDU/CSU noch die LINKE instrumentalisieren könnten, um sich gegen eine Regierung zu stellen, die sich doch selbst den Kampf gegen Russland bis zu seiner vollständigen Niederwerfung auf die Fahnen geschrieben hat. Selbst die AfD, die eher noch versucht, die Beziehungen zu Russland aufrecht zu erhalten, wäre durch solch ein Wissen in ihren Bestrebungen, mit dem „Feind“ guten Kontakt zu halten, bis auf die Knochen blamiert und könnte daraus keinen Nutzen beziehen.

Dieses Variante kann also, in Bezug auf die Geheimhaltung vor der deutschen Öffenlichkeit ausgeschlossen werden.

Sollte es nicht Russland gewesen sein, ergäbe sich allerdings ein anderes Bild. Die Regierung stünde doch unmittelbar als Komplize des Angreifers auf die deutsche und europäische Energieversorgung unter massiver Kritik. Wer käme denn, außer Russland, noch in Frage? Wer hätte ein Interesse an der Zerstörung der Pipelines? Sollte es die Ukraine gewesen sein, dann ist die Bundesregierung als Komplize, Waffenlieferant und Ausbilder der ukrainischen Streitkräfte nicht mehr haltbar. Sollte es Polen gewesen sein, dann hätte Deutschland gegenüber dem EU-Partner jedes Recht, Reparationen zu fordern, hält ihr Wissen aber lieber geheim  um das große europäische Friedenspropjekt EU nicht aus egoistischen Motiven zu gefährden. Sicher, es könnten auch die Briten gewesen sein, aber was  will man gegen die ausrichten? Da hüllt man sich doch lieber in peinliches Schweigen als die eigene Macht- und Hilflosigkeit gegenüber dem abtrünnigen EU-Mitglied zugeben zu müssen. Natürlich steht da  auch noch ein ganz großer Elefant im Raum. Doch es ist wie bei Harry Potter: Sein Name darf nicht genannt werden.

Es gibt allerdings noch ein Motiv  für die höchste aller Geheimhaltungsstufen gegenüber der Öffentlichkeit: Die Geheimhaltung des absoluten Nichtwissens!

Wenn man als Hauptgeschädigter schon von den „gemeinsamen“ Untersuchungen vor Ort ausgeschlossen ist, und selbst die Begründung der Schweden und Dänen für diesen Affront geheimgehalten werden muss, wenn man also nichts hat, als Vermutungen und das Narrativ von der Alleinschuld Putins an allem Übel auf dieser Welt, dann ist es doch herrlich, hinter einer undurchdringlichen Nebelwand der Geheimhaltung den Anschein erwecken zu können, man verfüge über belastbare Erkenntnisse und mit diesem nur behaupteten Wissen sämtliche Überlegungen zur Urheberschaft als reine Verschwörungstheorien abtun zu können.

Doch auch diese Begründung kann ausgeschlossen werden. „Geheimhaltung“ ist nicht gerade die bevorzugte Art des Umgangs mit „Nichtwissen“, die von dieser Regierung gepflegt wird.