Kanzler der maximalen Zuversicht

 

„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“

Otto von Bismarck: Gesammelte Werke
(Friedrichsruher Ausgabe)
:
Wenn Kanzler Scholz heute, Sommerpausen-reiselustig von Ort zu Ort zieht und sich den Bürgerdialogen stellt, hat er mit anderen Problemen zu kämpfen als weiland Otto von Bismarck.
Die arbeitenden Klassen zu bestechen, die Ampel, als Manifestation des Staates als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte, das funktioniert nicht mehr.
Die arbeitenden Klassen sind längst marginalisiert. Die Gefahr des Erstarkens der Sozialdemokratie, der Bismarck mit den Sozialgesetzen entgegenwirken wollte, ist gebannt, der Prozess der Selbstzerstörung der Sozialdemokratie voll im Gange. Und wer noch Arbeit hat und Lohn bezieht, weiß, dass nicht er auf die Sozialsysteme angewiesen ist, sondern die Sozialsysteme, wie auch der ganze Staat auf ihn.
Von daher ergibt sich für Scholz ein ganz anderes Bild.
Fachkräfte, und auch die Qualifizierteren unter den Zuwanderern verlassen das Land – rund drei Millionen in den letzten drei Jahren – weil Steuern, Inflation, sowie Gängelung und Bevormundung durch eine überbordende Bürokratie jede Initiative zu ersticken drohen. Dennoch wächst die Bevölkerung, weil die Zuwanderung in die Sozialsysteme den Aderlass der Qualifizierten überkompensiert.
Aus gleichen Gründen – und wegen der Unsicherheit und Kostspieligkeit der Energieversorgung – sucht sich auch die Wirtschaft Standorte außerhalb Deutschlands und so mancher Unternehmer macht Schluss, nachdem er erkennen musste, bereits von der Substanz zu zehren. Andere sperren ihre Geschäfte zu, weil es ihnen nicht gelingt, Mitarbeiter zu finden.
Wenn man sich vor Augen führt, dass es in Deutschland 630.000 Jugendliche und junge Erwachsene gibt, die sich weder in Schule oder Ausbildung befinden, nicht arbeiten, aber auch dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, dann bekommt die Aussage des amtierenden Bundeskanzlers zum Fachkräftemangel, am Donnerstag im Rahmen einer Betriebsbesichtigung ins Mikrofon gesprochen, einen sehr sonderbaren Klang:

„Wer ein bisschen zurückdenkt, weiß, dass das schon einmal ganz anders war“, erinnerte Scholz sein Publikum.

Kein Wort allerdings dazu, warum es schon einmal anders war, nicht einmal der Versuch. Auch kein Wort dazu, wie anders es war. Da mag ich daran erinnern, dass es in Deutschland Jahre der Vollbeschäftigung gab, Jahre, in denen die Arbeitslosigkeit das Niveau, das sich aus der natürlichen Fluktuation ergibt, nicht überschritten hat. Jahre, in denen junge Leute nicht zu Hundertausenden freiwillig untätig, und angebotene Lehrstellen eben nicht leer blieben. Jahre, in denen auch schon Arbeitskräftemangel herrschte, dem man aber durch gezielte Anwerbung von Ausländern begegnete, die schon mit dem Arbeitsvertrag in der Tasche in Deutschland ankamen.

Kein Wort auch dazu, dass die Tatsache,

dass die so genannten Baby-Boomer eines Tages ziemlich geschlossen in Rente gehen würden, schon zum Zeitpunkt ihrer Geburt bekannt war und von den Demografen vorausberechnet wurde, so lange, weder von der Politik, noch von der Wirtschaft, die darin keine Verpflichtung für sich selbst gesehen hat, 

nicht zur Kenntnis genommen wurde, bis das sprichwörtliche Kind im Brunnen lag.

Aber was verlange ich von einem Bundeskanzler auf Bürgerreise? Solche Überlegungen würden die Bevölkerung doch nur verunsichern. Daher: Kein Blick zurück, nichts aus der Vergangenheit lernen, sondern mit Volldampf voraus, und das gleich für Jahrzehnte, als handele es sich um den Kampf gegen das Klima:

„Aber dass wir jetzt 10, 20 vielleicht sogar dreißig Jahre vor uns haben, wo die Hauptaufgabe sein wird, dafür zu sorgen, dass wirklich alle Möglichkeiten, die wir hierzulande haben, genutzt werden, damit alle jungen Leute eine gute Berufsausbildung machen und einen Beruf ergreifen können, damit alle die Qualifikation und Fähigkeiten haben, wenn, mitgehen können mit den Veränderungen der Zeit und vielleicht auch mit Dreißig-, Vierzig- und Fünfzigjährigen noch was lernen können, aber auch, dass wir uns darum bemühen, Fach…Leute, Fachkräfte aus anderen Ländern hierher zu locken.“

Aus dem Konfirmandenunterricht ist mir der Spruch des weisen Salomo in Erinnerung:

„Wenn dich die bösen Buben locken,
so folge ihnen nicht!“

Dabei besteht zwischen dem „Bestechen“ Bismarcks und dem „Locken“ von heute nur ein Unterschied in der Formulierung, nicht in der Bedeutung. Scholz gesteht das unterschwellig, wenn er sagt:

„Das ist lösbar. Und wir haben die Gesetze dazu jetzt gemacht.“

Was sind das  denn für Gesetze?
Auf der Website der Bundesregierung wird Kanzler Scholz zitiert:
(Er) betonte am 29. März 2023 im Bundestag, dass es wichtig sei, dass Deutschland die Fachkräfte auch tatsächlich bekommt. „Und dazu brauchen wir das modernste Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Europäischen Union, eines, das sich im weltweiten Vergleich sehen lassen kann und ganz vorne steht“, so der Bundeskanzler.
„Es ist ein weiterer Schritt zur Modernisierung Deutschlands, ein weiterer Schritt, wirtschaftliches Wachstum auch für die Zukunft zu gewährleisteten, und ein weiterer Schritt, jahrzehntelangen Stillstand zu überwinden.“
Kleiner kann er offenbar nicht, ein Superlativ reiht sich an den anderen, und im Ergebnis sieht das dann so aus, dass die Anforderungen an die Zuwanderungswilligen unter das bisherige Fachkräfte-Niveau gesenkt werden. Nancy Faeser erläutert an gleicher Stelle:
„Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können. Bürokratische Hürden wollen wir aus dem Weg räumen. Wenn Menschen Berufserfahrung oder persönliches Potenzial mitbringen, werden wir es ihnen ermöglichen, auf unserem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.“
Die Details lesen Sie bitte auf bundesregierung.de selbst nach.
Das zweite Gesetz zur Belebung der Fachkräfterotation ist das „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“
Das hat sich Hubertus Heil auf die Fahnen geschrieben und verkündet auf der Webseite des Ministeriums für Arbeit und Soziales ein herrliches Geschwurbel zur Begründung, die ich hier nur in Stichworten wiedergebe:
  • Klimaneutralität,
  • Digitalisierung,
  • Transformation,
  • Energiekrise,
  • Lieferkettenprobleme,
  • Anpassung der Geschäftsmodelle,
  • Qualifizierungsbedarfe,
  • Strukturwandel,
  • Arbeitsplatzabbau,
  • Arbeitsplatzaufbau,
  • Tätigkeitsprofile und
  • Qualifikationsanforderungen.
Das Gesetz wurde am 20. Juli im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. In Kraft tritt es, als handle es sich um einen der inzwischen üblichen Salami-Taktik-Tarifverträge, in Etappen. Teils am Tag nach der Verkündigung, teils am 1. April 2024, teils am 1. Juli 2024, teils am 1. August 2024. 

Geändert werden durch dieses Gesetz,

  • das Zweite Buch des Sozialgesetzbuches
  • das Dritte Buch des Sozialgesetzbuches,
  • das Vierte Buch des Sozialgesetzbuches,
  • das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuches,
  • das Sechste Buch des Sozialgesetzbuches
  • das Siebte Buch des Sozialgesetzbuches,
  • das Elfte Buch des Sozialgesetzbuches,
  • das Mikrozensusgesetz,
  • das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, und
  • das Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte
um damit
  • ein Berufsorientierungspraktikum,
  • einen Mobilitätszuschuss,
  • ein Qualifizierungsgeld,

gesetzlich detailliert zu umschreiben und durch die angegebenen Bücher des Sozialgesetzbuches durchzudeklinieren,  bis auch im letzten Detail klar ist, wie Mitglieder von Selbstverwaltungsorganen gem. dem neuen § 64a des Vierten Sozialgesetzbuches in ihren Sitzungen hybrid und digital zu sitzen haben, nämlich so:

§ 64a
Hybride und digitale Sitzungen

(1) Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane können mit ihrer Zustimmung an den Sitzungen der Selbstverwaltungsorgane durch Zuschaltung mittels zeitgleicher Bild- und Tonübertragung teilnehmen (hybride Sitzung). Das Nähere bestimmt die Satzung; insbesondere kann die Teilnahme mittels Bild- und Tonübertragung von Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Hybride Sitzungen sind nicht zulässig bei konstituierenden Sitzungen. Die Satzung kann weitere Ausnahmen bestimmen.
(2) In außergewöhnlichen Notsituationen und in besonders eiligen Fällen können Sitzungen der Selbstverwaltungsorgane ohne persönliche Anwesenheit der Mitglieder am Sitzungsort durch zeitgleiche Bild- und Tonübertragung stattfinden (digitale Sitzung). Der Vorsitzende des Selbstverwaltungsorgans stellt den Ausnahmefall nach Satz 1 fest. Eine digitale Sitzung nach Satz 1 findet nicht statt, wenn im Fall der außergewöhnlichen Notsituation ein Drittel oder in besonders eiligen Fällen ein Fünftel der Mitglieder des Selbstverwaltungsorgans der Feststellung widerspricht; das Nähere bestimmt die Satzung.

(3) Bei einer hybriden oder digitalen Sitzung gelten per Bild- und Tonübertragung teilnehmende Mitglieder des Selbstverwaltungsorgans als anwesend im Sinne des § 64 Absatz 1 Satz 1. Bei öffentlichen digitalen Sitzungen nach Absatz 2 ist der Öffentlichkeit die Teilnahme durch eine ihr in Echtzeit zugängliche zeitgleiche Bild- und Tonübertragung zu ermöglichen. In den Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Übertragung von Bild und Ton der an der Sitzung teilnehmenden Personen unabhängig davon zulässig, ob sie in die Übertragung einwilligen. Bei nicht öffentlichen hybriden und digitalen Sitzungen haben die durch Bild- und Tonübertragung teilnehmenden Mitglieder des Selbstverwaltungsorgans sicherzustellen, dass bei ihnen keine unbefugten Dritten die Sitzung verfolgen können. In hybriden und digitalen Sitzungen sind Abstimmungen und Wahlen möglich. Das Nähere bestimmt die Satzung.

(4) Der Versicherungsträger hat in seinem Verantwortungsbereich dafür Sorge zu tragen, dass die technischen Anforderungen und die datenschutzrechtlichen Bestimmungen für eine ordnungsgemäße Durchführung einer hybriden oder digitalen Sitzung eingehalten werden. Bei technisch bedingten Störungen der Wahrnehmbarkeit, die nachweislich im Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers liegen, darf die Sitzung nicht fortgesetzt werden. Sonstige Störungen sind unbeachtlich; sie haben insbesondere keine Auswirkung auf die Wirksamkeit eines ohne das betroffene Mitglied des Selbstverwaltungsorgans gefassten Beschlusses. § 64 Absatz 1 bleibt unberührt.

4. § 66 Absatz 2 wird wie folgt gefasst:
„(2) Für die Beratung und Abstimmung gelten die §§ 63, 64 und 64a Absatz 1, 3 und 4 entsprechend. § 64a Absatz 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Mitglied den Ausnahmefall nach Absatz 2 Satz 1 feststellt und eine digitale Sitzung nach Absatz 2 Satz 1 nicht stattfindet, wenn ein Mitglied widerspricht.

Bruce Allmächtig hätte dieses Gesetz wohl mit den Worten kommentiert: “ … und so zerbröselt der Keks.“

Den gesamten Gesetzestext habe ich für die Masochisten unter meinen Lesern, die dem Wiehern des Amtsschimmels noch Vergnügen abgewinnen können, hier verlinkt.

Im vorangegangenen Gesetzentwurf der Bundesregierung, wurden neben den Abschnitten

A) Problem und Ziel
B) Lösung
C) Keine Alternativen

im Abschnitt D) Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand, und E) Erfüllungsaufwand, sowie F) Weitere Kosten, die folgenen Angaben gemacht:

D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs führen im Einzelplan 11 des Bundeshaushalts im Jahr 2024 zu Mehrausgaben in Höhe von 31 Millionen Euro, deren Anstieg bis zum Jahr 2026 auf rund 190 Millionen Euro pro Jahr geschätzt wird.
Für den Bund fallen zur Erfüllung der Aufgaben im Rechtskreis SGB II durch die Jobcenter jährliche Personal- und Sachaufwände in Höhe von etwa 860.000 Euro und einmalige Umstellungsaufwände bei der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern in Höhe von etwa 95.000 Euro an (dies enthält den unter E.3 dargestellten Erfüllungsaufwand).
Sofern der Haushaltsgesetzgeber keine zusätzlichen Mittel bereitstellt, können die Maßnahmen, die zu einem stellenmäßigen und finanziellen Mehrbedarf an Haushaltsmitteln im Bundeshaushalt führen, nur umgesetzt werden, wenn sie innerhalb der Einzelpläne der jeweiligen Ressorts dauerhaft finanziell und stellenmäßig ausgeglichen werden.
Im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit ergeben sich aus den Regelungen dieses Gesetzentwurfs im Jahr 2023 Mehrausgaben in Höhe von rund 14 Millionen Euro, deren Anstieg bis zum Jahr 2026 auf rund 437 Millionen Euro pro Jahr geschätzt wird.
In Erfüllung der mit diesem Gesetzentwurf verbundenen Regelungen fallen bei der Bundesagentur für Arbeit auf Basis ihrer Personal- und Sachkostenpauschalen jährliche Personal- und Sachkostenbedarfe in Höhe von etwa 5,5 Millionen Euro und einmalige Umstellungsaufwände inklusive IT-Aufwände in Höhe von etwa 3 Millionen Euro an (dies enthält den unter E.3 dargestellten Erfüllungsaufwand).Den Mehrausgaben stehen Minderausgaben und auch Mehreinnahmen gegenüber, die sich durch Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Aufbau zusätzlicher Beschäftigung aufgrund der mit diesem Gesetz verbundenen Verbesserungen bei Aus- und Weiterbildung ergeben werden, die sich allerdings nicht beziffern lassen.Darüber hinaus ergeben sich Mindereinnahmen in geringfügiger Höhe in allen Zweigen der Sozialversicherung, da während des Bezugs von Qualifizierungsgeld geringere Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt werden.E. Erfüllungsaufwand
E.1 Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger
Gesamter zusätzlicher Erfüllungsaufwand pro Jahr etwa 28.443 Stunden und etwa 6.000 Euro jährlicher Sachaufwand.
E.2 Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft
Einmaliger Erfüllungsaufwand etwa 292.000 Euro; zusätzlicher Erfüllungsaufwand pro Jahr etwa 1,8 Millionen Euro, der im Rahmen der Bürokratiebremse nach dem One in, one out-Prinzip durch das Achte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze kompensiert wird.
Keine Bürokratiekosten aus Informationspflichten.
E.3 Erfüllungsaufwand der Verwaltung
Für die Bundesagentur für Arbeit entsteht zusätzlicher Erfüllungsaufwand in Höhe von etwa 3 Millionen Euro pro Jahr und einmaliger Erfüllungsaufwand in Höhe von etwa 1,7 Millionen Euro. Für den Bund entsteht zusätzlicher Erfüllungsaufwand in Höhe von etwa 509.000 Euro pro Jahr und einmaliger Erfüllungsaufwand in Höhe von etwa 63.000 Euro.F. Weitere Kosten
Auswirkungen auf Einzelpreise, auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucherpreisniveau, sind nicht zu erwarten.

Um noch einmal auf die Kanzlerworte vom Donnerstag zurückzukommen:

„Wer ein bisschen zurückdenkt, weiß, dass das schon einmal ganz anders war.“

Damals war vor allem auch anders, dass es die Wirtschaft noch als ihre Aufgabe angeseheh hat, ihre Mitarbeiter auf eigene Kosten zu qualifizieren und weiterzubilden.

Damals waren Managerschicksale auch noch nicht an Quartalsergebnisse gebunden, sondern an die langfristig positive Geschäftsentwicklung, was eben auch eine langfristig vernünftige Personalplanung und -Entwicklung ermöglichte, während die Bereitstellung der benötigten Fachkräfte heute als Aufgabe des Staates angesehen wird, der diese zusätzliche Kompetenz gerne, mit einem neuen Wust an Bürokratie, Leerlauf und dislozierten Mitteln auf sich nimmt.

Ja, Herr Scholz. Das ist lösbar.
Man muss doch nur Gesetze machen.