Reparationen für Polen

PaD 40 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 40 2022 Reparationen für Polen

 

Ich kann nicht anders, ich muss diesen Beitrag mit einem speziellen Framing beginnen:

Die WELT, das Flaggschiff des Springer-Imperiums, mit seinem jeden Journalisten auf die Transatlantische Freundschaft einschwörendem Redaktionsstatut, hat heute – vorerst nur mit einem Meinungsartikel von Grzegorz Jankowski – zur polnischen Forderung nach Reparationszahlungen von 1, 3 Billionen Euro klar Stellung bezogen:

Nun sind Sie eingestimmt. Sie fragen sich, was „His Masters Voice“ der WELT aufgegeben haben mag, den Deutschen als Marschrichtung unterzujubeln. Ihr subtiler Antiamerikanismus wartet gespannt auf die Auflösung. Wird Biden Scholz und Baerbock den Rücken stärken, gegen diese unverschämte Forderung, oder ist Polen inzwischen wirklich neuer bester Freund der USA geworden? Hier die Auflösung aus der WELT:

Berlin muss zeigen, dass es in seinen östlichen Nachbarn mehr sieht als ein Spielfeld zur wirtschaftlichen Ausbeutung. Reparationen an Warschau zu leisten, wäre ein starkes Signal. Und der einzige Weg, um den Frieden zu bewahren.

Alles Weitere findet sich hinter der Bezahlschranke der WELT, die ich allerdings nicht durchbrochen habe. Google hat mir jedoch verraten, was die WELT ebenfalls hinter der Bezahlschranke versteckt, dass Jankowski ein polnischer Journalist ist, der bei Polsat News TV arbeitet und vorher als Chefredakteur der polnischen Zeitung Fakt tätig war.

Es kommt also im führenden deutschen Transatlantiker-Medium ein polnischer Journalist zu Wort, der sicherlich nicht der polnischen Opposition zuzurechnen ist, wie das sicherlich der Fall wäre, wenn Russland plötzlich Reparationen von Deutschland fordern würde, und vertritt die polnische Regierungslinie.

Die von der deutschen Bundesregierung vertretene Linie sieht allerdings anders aus. In Berlin beruft man sich „sonderbarer Weise“ auf den 2+4 Vertrag, mit dem alle Fragen der Folgen des Zweiten Weltkriegs endgültig abgeschlossen worden seien.

Das ist deshalb sonderbar, weil die Vertragspartner, nämlich die alte BRD und die alte DDR, die mit diesem Vertrag den Anschluss der neuen an die alten Bundesländer möglich machen wollten, sowie die vier Siegermächte, USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien, damit einen Vertrag zu Lasten Dritter abgeschlossen hätten, der als solcher unzulässig ist.

Die Last, die mit einem solchen unzulässigen Vertrag den Polen, aber  auch den Griechen und anderen Staaten, die im Zweiten Weltkrieg Schäden durch die Aktivitäten der Wehrmacht erlitten haben, auferlegt worden wäre, besteht schlicht darin, dass die sechs Vertragspartner stellvertretend für jene – in die Vertragsverhandlungen und den Vertragsabschluss nicht einbezogenen Dritten – deren Verzicht auf mögliche Entschädigungsansprüche vereinbart hätten. 

Natürlich haben die Juristen, die den 2+4-Vertrag formuliert haben, darauf geachtet, einen gerichtsfesten Vertrag vorzulegen und vorsorglich die Frage von Reparationen nicht zum Vertragsgegenstand gemacht. Es steht nichts drin, über Reparationen. Von daher ist die deutsche Position nicht mehr nur sonderbar, sondern mit dieser Argumentation schlicht nicht zu halten.

Es handelt sich da offenbar um eine gezielte Fehlinterpretation des 2+4-Vertrages, denn bis dahin hieß die deutsche Linie grundsätzlich, die Frage der Reparationen könne erst in einem Friedensvertrag geklärt werden. Ist man im Auswärtigen Amt also zu der Überzeugung gelangt, Deutschland sei es 1990 gelungen, nach einem 45 Jahre währenden Waffenstillstand, der mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft getreten ist, endlich zu einem Friedensschluss zu gelangen?

Und wenn dem so wäre, stünden dann die im 2+4-Vertrag offen gebliebenen Entschädigungsfragen nicht jetzt erst recht auf der Tagesordnung?

So verwirrend es auch erscheint, das wiedervereinigte Deutschland ist immer noch Feindstaat und befindet sich lediglich im Zustand des Waffenstillstands, was nicht weniger bedeutet, als dass der Krieg nur unterbrochen ist.

Krieg geführt wurde allerdings weder mit der BRD, noch mit der DDR, sondern mit dem Deutschen Reich, wobei – nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – die Bundesrepublik Deutschland als Staat identisch mit dem Staat „Deutsches Reich“ ist.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben 2007 dazu festgehalten, das BVerfG habe mit Urteil vom 31. Juli 1973 festgestellt:

Das Grundgesetz geht davon aus,

„dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist“.

Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern

„ein Teil Deutschlands neu organisiert […]. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger’ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich’, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch’, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“

Daran habe sich, so der Wissenschaftliche Dienst, seit der Wiedervereinigung nichts geändert. Es habe sich lediglich das Territorium der Bundesrepublik um das Gebiet der neuen Bundesländer erweitert. Am Fortbestand des Deutschen Reichs in der Gestalt der Bundesrepublik Deutschland änderte sich durch den Beitritt nichts.

Kurze Zusammenfassung:

Es gibt weder einen Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich, noch ist die Frage der Reparationen im 2+4-Vertrag überhaupt angesprochen. Das Deutsche Reich ist nicht untergegangen, sondern existiert – teil-identisch – in dem Staat Bundesrepublik Deutschland fort.

Sind die polnischen Forderungen nach Reparationszahlungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro also doch gerechtfertigt?

Nicht so ganz.

Die Geschichte der Reparationszahlungen des „Deutschen Reichs“ an Polen hat mit der Potsdamer Konferenz begonnen, in der die Siegermächte in der Zeit vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Potsdam sich über das weitere Vorgehen in Bezug auf Deutschland einigten. Als Ergebnis stand im „Potsdamer Abkommen“ unter anderem fest, dass die Reparationen an Polen aus den Leistungen zu entnehmen seien, die die Sowjetunion erhält.

Der 1946 erstellte Industrieplan des Alliierten Kontrollrats zur Rückführung der deutschen Industrie auf den Stand vor 1932 sah die Demontage vieler Fabriken und die Überführung des Inventars in die Siegerländer vor. Dieser Plan wurde in den Westzonen ab 1947 reduziert. 1949 wurde schließlich die Zahl der zu demontierenden Betriebe auf 680 festgelegt. 667 davon wurden bis 1951 tatsächlich demontiert.

Anders sah das in der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR aus. Zwischen 1948 und 1953 wurden dort 3.400 Industriebetriebe demontiert und auch Eisenbahngeleise abgebaut und in die Sowjet-Union verbracht. Dabei ging nach Schätzungen etwa ein Drittel der Industriekapazität der DDR verloren.

Nach den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens sollten Polens Ansprüche aus den Leistungen entnommen werden, die die Sowjetunion erhalten hat.

Natürlich war auch das Potsdamer Abkommen zustande gekommen, ohne dass die Polen dort vertreten waren, so dass auch damit die Ansprüche Polens nicht aufgehoben werden konnten. Doch es scheint sicher zu sein, dass tatsächlich in den ersten Nachkriegsjahren bereits Leistungen aus Deutschland über die Sowjet-Union nach Polen geflossen sind. Inwieweit dies bei den jetzt aufgestellten polnischen Forderungen Berücksichtigung gefunden hat, müsste geprüft werden.

Interessant in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass die Sowjetunion am 22. August 1953 erklärte, die Reparationen aus der DDR zum 1. Januar 1954 zu beenden. Dem folgte eine gleichartige Erklärung Polens, auf weitere Reparationen ab dem 1. Januar 1954 zu verzichten.

Warum sich die Bundesregierung nicht erst einmal auf diese Erklärung bezieht, sondern auf den 2+4-Vertrag, ist mir schleierhaft. Vielleicht soll damit auch etwas verschleiert werden, was damit zusammenhängen könnte, dass Polen „neuer bester Freund“ der USA in Europa geworden ist.

Doch es gibt noch einen zweiten Entwicklungsstrang, dem noch viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.

Im bereits erwähnten Potsdamer Abkommen wurden die ehemaligen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie unter polnische Verwaltung gestellt und damit praktisch an Polen übertragen, während die ostpolnischen Gebiete von der Sowjetunion übernommen wurden. Das war schon 1943 in Teheran so verabredet worden.

Das Deutsche Reich hat damit eine Fläche von 113.000 Quadratkilometern verloren. Die 9,5 Millionen Deutschen, die diese Fläche bis dahin besiedelten, wurden gewaltsam vertrieben, soweit sie nicht schon vor dem Vormarsch der Sowjet-Armee geflüchtet waren.

Legte man alleine für diese 113.000 Quadratkilometer (113 Milliarden Quadratmeter)  und die dort neben Grund und Boden noch vorhandenen, bei Flucht und Vertreibung zurückgelassenen sonstigen Sachwerte, die Gegenwartswerte zugrunde, die polnische Forderung über 1,3 Billionen Euro wäre schon bei einem durchsnittlichen Quadratmeterpreis von 10 Euro erfüllt.

Dem gegenüber stehen jedoch 180.000 Quadratkilometer Ostpolens, die an die Sowjetunion abgetreten werden mussten, wobei die deutschen Ostgebiete von den Sowjets als „Entschädigung“ für den Verlust Ostpolens bezeichnet wurden.

Der Anspruch des mit dem Staat „Deutsches Reich“ teilidentischen Staates „Bundesrepublik Deutschland“ auf die Rückgabe der deutschen Ostgebiete unter polnischer Verwaltung wurde – trotz faktischer Unmöglichkeit der Realisierung – über lange Jahre nicht aufgegeben.

Dass die DDR die „Oder-Neiße-Linie“ schon 1950 mit dem Görlitzer Abkommen anerkannte, änderte daran nichts, denn schließlich hielt die alte Bundesrepublik eisern an ihrem Alleinvertretungsanspruch fest.

Auch der Warschauer Pakt, in dem sich Polen und die BRD 1970 darauf einigten, auf gegenseitige Gebietsansprüche zu verzichten, war nur eine Absichtserklärung, ohne völkerrechtliche Relevanz, wozu das Bundesverfassungsgericht 1975 urteilte, die völkerrechtlich verbindliche Feststellung der Nachkriegsgrenzen bleibe – mangels Souveränität der BRD – den Siegermächten vorbehalten.

Mit den Vorbereitungen für die deutsche Wiedervereinigung war es daher verständlich, dass die Polen begannen, nervös zu werden. Tadeuzs Mazowiecki, damals polnischer Ministerpräsident, erklärt dazu:

„Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Art politisches oder juristisches Vakuum entsteht und eines Tages jemand sagt: ‚Der Görlitzer Vertrag wurde mit einem Land vereinbart, dass es nicht mehr gibt. Der Warschauer Vertrag wurde ebenfalls mit einem Land geschlossen, das es nicht mehr gibt. Und deshalb gehen wir jetzt wieder auf Start und beginnen die Diskussion von vorn!“

Die Bedenken der Polen gegen die Wiedervereinigung wurden mit Erklärungen des Deutschen Bundestages und der Volkskammer der DDR zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und einem Passus im 2+4-Vertrag, dass das wiedervereinigte Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkennen werde, schließlich ausgeräumt.

Dem folgte noch am 3. Oktober 1990 die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags in dem die Oder-Neiße-Grenze endgültig als unverletzliche Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bestätigt wurde.

Der bis dahin immer noch mit dem Deutschen Reich nur teilidentische Staat Bundesrepublik Deutschland hat damit die Gebietsabtretung rechtlich bindend anerkannt und damit – Völkerrechtler mögen mich eines Besseren belehren – auch das fortexistierende Deutsche Reich um diese Territorien reduziert und damit die vollständige Identität hergestellt.

Bleibt die Frage zu klären, ob die endgültige Abtretung der deutschen Ostgebiete als „Reparationsleistung“ Deutschlands gewertet werden darf, oder nicht. Dies wirft die Frage auf, wie es zur Abtretung der polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion gekommen ist.

Es war ja nicht so, dass zwischen Polen und der Sowjetunion Frieden herrschte. Was im geheimen Zusatzprotokoll zum „Hitler-Stalin-Pakt“ verabredet worden war, nämlich die Aufteilung Polens, nahm schon bei Kriegsbeginn 1939 Gestalt an. Die Wehrmacht marschierte am 1. September von Westen her in Polen ein, die Sowjet-Armee am 17. September vom Osten her und besetzte die polnischen Ostgebiete. Während die Rote Armee in Polen rund 250.000 Kriegsgefangene machte, floh die polnische Regierung nach Rumänien. Die Sieger – Deutschland und die Sowjet-Union – teilten Polen untereinander auf und halfen sich dabei, den polnischen Widerstand zu unterdrücken. Dazu gehört dann auch das für eine ganze Reihe von Massenmorden namensgebende „Massaker von Katyn“, wo im Frühjahr 1940 ungefähr 4.400 polnische Offiziere von Angehörigen des NKWD erschossen wurden. Etwa 20.000 weitere Angehörige der Vorkriegseliten Polens wurden in Russland, der Ukraine und Weißrussland aufgegriffen und ermordet.

So betrachtet können die deutschen Gebietsabtretungen an Polen als unabhängig von den Gebietsverlusten Polens an die Sowjet-Union angesehen werden und sollten in der wieder auflebenden Reparationsfrage eine nicht unerhebliche Rolle spielen.

Es kann jetzt nicht darum gehen, einfach ein „Sondervermögen Polen-Reparationen“ aufzulegen und die geforderten 1,3 Billionen nach Warschau zu überweisen, wie es der Kommentator Grzegorz Jankowski in der Welt als den einzigen Weg beschreibt, den Frieden zu bewahren.

Es muss jetzt endlich darum gehen, dass dieses nach wie vor mit dem Deutschen Reich identische Staatsgebilde Bundesrepublik Deutschland auf den Abschluss eines Friedensvertrages drängt.

Eine Veranstaltung, die sich über Jahre hinziehen könnte, gewiss, doch eine Veranstaltung die es ermöglicht, alle bisher gestellten und eventuell noch hinzukommenden Ansprüche zu erfassen, zu bewerten und gerechtfertigte Gegenrechnungen aufzumachen, wobei im Falle Polens durchaus auch die auf dem Umweg über die EU geleisteten deutschen Zahlungen an Polen, auch die Errichtung deutscher Fertigungsstätten in Polen und die Arbeitsgelegenheiten für unzählige Polen, die in Deutschland, regulär und irregulär entstanden sind und zum Wohlstand Polens beigetragen haben, zu berücksichtigen wären.

Gerade zu einem Zeitpunkt, wo der Weltfrieden extrem gefährdet ist, und polnische Offizielle die Sprengung der Ostsee-Pipelines begrüßt haben, als befände sich Polen im Krieg mit Deutschland, muss diese Initiative, als unverzichtbarer Baustein einer neuen europäischen Friedensordnung, jetzt ergriffen werden.

Der Schrecken ohne Ende, vor dem wir Deutschen seit 77 Jahren davonzulaufen versuchen, ohne ihn abschütteln zu können, muss jetzt in das Ende mit Schrecken überführt werden, um wenigstens danach als souveräner Staat die eigenen Geschicke nach eigenen Vorstellungen und zur Wahrung eigener Interessen selbst in die Hand nehmen zu können.

Quellenhinweis: Viele Detailinformationen und weiterführende Quellen zu diesem Paukenschlag habe ich in der MDR-Geschichts-Dokumentation „Deutsch-Polnische Nachbarschaft“ gefunden.