Was heißt „aktuell“?

PaD 19 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 19 2022 Was heißt aktuell

Robert Habeck lässt sich mit seiner Aussage, die Gasversorgung sei „aktuell“ nicht gefährdet, gleich ein ganzes Sortiment von Hintertürchen offen. Das wirft Fragen auf.

Wie verhält es sich zum Beispiel mit der Aussage, es sei seit „Kriegsbeginn“ gelungen, die Abhängigkeit von russischem Erdgas von 55 Prozent auf 35 Prozent zu drücken?

Das sieht auf den ersten Blick nach 20 Prozent aus (55 – 35 = 20), tatsächlich würde es sich aber um eine Reduzierung des Gasbezugs aus Russland um gut ein Drittel (36%) handeln. Habecks Aussage weckt bei mir erhebliche Skepsis.

Handelt es sich dabei um Angaben, die sich bei den 55 Prozent auf die Jahreslieferung russischen Gases beziehen, und bei den 35 Prozent um den aktuellen Bezug russischen Gases, der nach dem Ende der Heizperiode ausreicht, um Haushalte und Industrie zu versorgen, aber nicht, um die Speicher aufzufüllen?

Die Bundesnetzagentur zeigt in ihrem Lagebericht eine Grafik „Monatlicher Erdgasverbrauch in Deutschland“. Diese weist für das Vorjahr einen saisonal bedingten Rückgang des Gasverbrauchs von rund 140 Terrawattstunden im Januar auf weniger als 40 Terrawattstunden im Juli und August auf. Der Verlauf für 2022 beginnt bei 130 TWh im Januar und endet vorläufig bi 80 TWh im April.

Sind das die „Einsparungen“ seit Beginn des Krieges?

Es heißt allerdings auch, Norwegen und die Niederlande würden mit Gaslieferungen nach Deutschland einspringen. Aber wie viel ist das?

Wie viel Gas steuern momentan die Niederlande und Norwegen nach Deutschland um, und wo wäre es sonst angekommen?

Das ZDF sendete am 19. Januar 2022 ein Interview mit dem norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Store, der auf die Frage, ob Norwegen einspringen könnte, falls North Stream 2 nicht in Betrieb gehe, antwortete:

„Wir sind bereits eingesprungen, wie gesagt, wir liefern ein Drittel des Gasbedarfs Deutschlands, aber wir drehen bei voller Kapazität. Wir haben keine Reserven, mit denen wir andere Dinge ersetzen könnten.“

Das hört sich nicht so an, als sei aus Norwegen große Hilfe zu erwarten, wenn russisches Gas ausbleibt. Es hört sich noch nicht einmal so an, als könnte Norwegen an der Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Erdgas von 55 auf 35 Prozent nennenswert beteiligt sein.

Am 10. Januar berichtete das Handelsblatt (teils hinter Bezahlschranke), von einem „geharnischten“ Brief des damaligen niederländischen Wirtschaftsminister Stef Blok an den deutschen Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck. Blok schrieb, er empfinde die Anfrage nach höheren Liefermengen als „unangenehme Überraschung“. Eine Erhöhung der Lieferungen nach Deutschland stelle ein Risiko für die  niederländische Versorgungssicherheit dar und könnte erhebliche Debatten in den Niederlanden auslösen. 

(Die Niederlande sind von  Geländeabsenkungen im Groninger Gasfeld betroffen, was bereits Forderungen nach der Einstellung der Gasförderung ausgelöst hat.)

Auch dieser Beitrag vom Januar klingt nicht eben so, als könnten uns die Niederlande aus der Patsche helfen.

Nur zur Erinnerung: Im Januar ging es noch darum, Versorgungssicherheit herzustellen, falls die USA die Inbetriebnahme von North Stream 2 definitiv verhindern könnten. Es ging darum, den Mehrbedarf an Gas für neue Gaskraftwerke sicherzustellen, um Stromlücken aus Schwächephasen der „Erneuerbaren Energien“ überbrücken zu können.

Es ging nicht um die Bezahlung von Kohle, Öl und Gas in Rubel, und es ging noch nicht um den Krieg in der Ukraine, nicht um ein Kohle-, Öl- und Gasembargo, und schon gar nicht um den jetzt eingetretenen Fall, dass die Ukraine die Durchleitung russischen Gases nach Westeuropa reduziert, und dass Russland die Belieferung der von Deutschland enteigneten Töchter von „Gazprom Germania“ einstellen würde.

Dennoch wagt Robert Habeck die Aussage, der Markt könne den Gasausfall aus Russland kompensieren  (SPIEGEL 12.05.2022), und, die Vorraussetzung dafür, dass Deutschland in Zukunft sicher sei, sei der Ausbau der erneuerbaren Energien, um den sich die Bundesregierung bemühe. 

Im gleichen SPIEGEL-Artikel wird darauf hingewiesen, dass nicht nur der Gazprom Speicher in Rheden fast vollständig leer sei, sondern auch, dass das Anlegen von Gasvorräten mit russischem Gas in den Speichern Europas – laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax –  künftig verboten sei.

Stellt sich erneut die Frage, was Habeck mit „aktuell“ meinen könnte, und zudem die Frage, von welchem „Markt“ er spricht, wenn er erklärt, der Markt könne die Ausfälle kompensieren.

Bei „aktuell“ komme ich zu dem Schluss, dass damit immer nur der gegenwärtige Augenblick gemeint sein kann, maximal die Zeit des Hoffens und Bittens bis zur vollständigen Leerung der Gasspeicher.

Bei „Markt“ wird es schwieriger. Der Markt außerhalb des Gaspipeline-Systems ist der Markt für Flüssiggas. Dieser Markt ist von seiner Kapazität her definiert durch die Einrichtungen zur Verflüssigung und Verladung (Terminals), durch die Zahl der verfügbaren Tankschiffe und durch die Zahl der Einrichtungen zur Entladung und Rückführung in den gasförmigen Zustand (Terminals).

Es kann dazu nur eines gesagt werden: Terminals und Schiffe entsprechen derzeit dem, was an langfristigen Lieferverträgen zwischen Erzeugern und Abnehmern vereinbart ist. Es gibt keine nennenswerten Kapazitätsreserven. Siehe dazu auch mein Artikel „Flüssiggas vom Milchmädchen“ und die zugehörige „Richtigstellung“ mit der Aussage:

Meine Aussage, es würden 120 LNG-Tanker benötigt, um North Stream 1 zu ersetzen ist also falsch. Knapp die Hälfte davon würde ausreichen.

Die grundsätzliche Aussage, dass es auch diese zusätzlichen Kapapzitäten nicht gibt, bleibt jedoch bestehen, auch wenn die Lücke durch Schiffsneubauten schneller geschlossen werden kann.

Das einzige, was der Markt schaffen kann, ist über Angebot und Nachfrage den Preis zu bilden. Das wiederum heißt, die deutsche Energiewirtschaft wird am Markt alle anderen Nachfrager so lange überbieten müssen, bis der deutsche Nachfrager den Zuschlag erhält. Deutschland macht sich somit selbst arm und trägt gleichzeitig zum maximalen Anstieg der weltweiten Gaspreise bei.

Doch trotz der heilenden Kräfte der unsichtbaren Hand des Marktes und der Damen und Herren in den Hinterzimmern der Märkte, die die Fäden in der Hand halten, ist noch eine bemerkenswerte Relativierung aus dem Munde des Klimaschutzministers und Vizekanzlers zu entnehmen:

Deutschland kann im Fall eines Abrisses der russischen Gaslieferungen einigermaßen über den Winter kommen, falls:

  • wir zum Jahreswechsel volle Speicher haben,
  • zwei der vier angemieteten schwimmenden LNG-Tanker (er meint LNG-Terminals) schon am Netz angeschlossen sind, und
  • wir deutlich an Energie sparen.

Die vollen Speicher sind nach dem von Russland ausgesprochenen Verbot, Speicher zu befüllen illusorisch, gegen die LNG-Terminals klagt die DUH mit den Argumenten der Umweltschutz-Grünen, und das „Energie-Sparen“ des Robert Habeck ist ein Euphemismus für strikte Rationierung und Gaszuteilung durch eine Bundesbehörde. Die Priorität für private Haushalte, die bis vor Kurzem noch beschworen wurde, wird dabei allerdings ganz schnell übergeordneten Interessen der Wirtschaft geopfert werden müssen.

Es ist zwar schon weit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, doch die Frage, warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, muss immer wieder neu gestellt werden. Die Antwort lautet:

Wir werden nicht für den Frieden
frieren und massive wirtschaftliche Einbußen und
Wohlstandsverluste hinnehmen müssen,

sondern einzig für die geostrategischen Ziele der USA.

Ein bisschen auch für den grünen Traum von der Dekarbonisierung,
der die gangbaren vernünftigen Lösungen weiterhin
mit klammheimlicher Freude ausschließt.