Über den Boden des Grundgesetzes, auf dem der Demokrat zu stehen hat

Es gibt Floskeln, die hat man hundert- und tausendmal gehört, ohne sich daran zu stoßen, bis der Tag kommt, an dem man erkennt, das die Floskel leer und damit bestenfalls noch als heiße Luft angesehen werden kann.

„Fest auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen“, das ist so eine Floskel. Vor vierzig Jahren noch, nur um eine Hausnummer zu nennen, war vollständig klar, dass, wer fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ein ehrbarer, das Recht schätzender Mensch ist, dem auch dann, wenn er sich als Politiker betätigt, ein  gewisser Vertrauensvorschuss sicher sein kann.

„Fest auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen“, das war damals quasi ein Synonym für jene Art von Gesetzestreue, die alles daran setzt, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren, und dies alles im gesteckten Rahmen der Gesetze. Der „Boden des Grundgesetzes“ war als Metapher gedacht, mit der das unerschütterliche Fundament unserer Rechtsordnung gewürdigt werden sollte.

Es war einmal.

Heute drängt sich die Frage geradezu auf, ob das Grundgesetz überhaupt einen Boden hat.

Es handelt sich schließlich um ein abstraktes Neutrum, dessen immaterieller Zustand sich auch nicht dadurch verändert, dass es in gedruckten Ausgaben existiert. Es kommt weder auf die Schriftart, noch auf den Satzspiegel an, auch die Buchstaben, die da schwarz auf weiß auf dem Papier erscheinen, spielen keine Rolle. So ein gedrucktes Grundgesetz lässt sich, je nach grundsätzlicher Geisteshaltung sowohl prima verbrennen als auch regenwurmfreundlich kompostieren. Das Grundgesetz geht durch solche Exzesse allerdings nicht unter, es ist ein geistiges Konstrukt und als solches ebenso unverletzlich wie die Würde des Menschen.

Aber einen Boden hat das Grundgesetz nicht.

Man kann auch schlecht behaupten, der „Geltungsbereich“ des Grundgesetzes sei eben jener „Boden“ auf dem es Gültigkeit entwickelt. Stattdessen muss man in der jüngeren Zeit zur Kenntnis nehmen, dass – im Widerspruch zu seinem Titel: „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ – behauptet wird, dass es von diesem Geltungsbereich aus seine Gültigkeit für alle Menschen dieser Erde entwickelt, was – weitergedacht – nur bedeuten kann, dass es letztlich auch für alle uns noch nicht bekannten Bewohner ferner Welten (sog. Aliens) gelten muss, die, sollten sie – auf welchem Wege auch immer – den Boden der Bundesrepublik Deutschland erreichen, in Bezug auf ihre Rechte gegenüber dem Staat und den Staatsbürgern, den Staatsbürgern gleichzustellen sind, während sich Pflichten daraus nicht ergeben oder zumindest nicht wirksam eingefordert werden.

Ist das Grundgesetz also so etwas wie rechtsphilosophischer Urknall, der sich seit 1949 mit Lichtgeschwindigkeit im gesamten bekannten Universum – und  vielleicht sogar, wenn dieses aufhören sollte, sich auszudehnen, noch weit darüber hinaus – ausbreitet?

Nein. Das Grundgesetz ist weit davon entfernt, eine universelle Richtschnur für das Zusammenleben  von Lebewesen im gesamten Universum zu sein. Es hat außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik keinerlei Relevanz für die Konstitution anderer Staaten, Nationen und Völker.

Für uns Deutsche hat es jedoch einen erheblichen Vorteil: Es wurde von Deutschen auf Deutsch niedergeschrieben, und dies in weiten Bereichen in einer durchweg leicht verständlichen Sprache. Wir hätten Pech haben können und ein Grundgesetz bekommen, dass in den Amtssprachen der drei westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs verfasst wurde. Diese haben sich jedoch darauf beschränkt, den Entwurf des Grundgesetzes nach Einarbeitung von Korrekturen zu genehmigen.

Der Vorteil für uns Deutsche liegt darin, dass weite Teile des Grundgesetzes keiner gelehrten Interpretation bedürfen, um ihren Sinn zu erfassen. Da stehen einfache, klare Sätze, deren Bedeutung auch von Zwölfjährigen erfasst werden kann.

Der rätselhafte Charakter des Grundgesetzes zeigt sich erst, wenn politische Personen nach Erreichen des Mindestalters für das passive Wahlrecht in politische Ämter geraten und zu der Überzeugung gelangen, so, wie die Artikel da, einer nach dem anderen, geschrieben stehen, könnten sie nicht gemeint gewesen sein, da sie in dieser Form den besten Absichten und Notwendigkeiten der Zeit einfach nur im Wege stehen.

Das Grundgesetz ist ein abstraktes geistiges Konstrukt. Es ist von Menschen gemacht und kann von Menschen  geändert werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Änderung von Bundestag und Bundesrat jeweils mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder angenommen wird.

Da hat sich über die letzten 72 Jahre im Grundgesetz etwas vollzogen, was an die Plattentektonik der Erde erinnert. 63 Änderungsgesetze zum Grundgesetz zählte man bis zum  Mai 2019, von denen etwa jeder zweite Artikel des Grundgesetzes (manche mehrfach) betroffen war. Auch hat sich die Zahl der Grundgesetzartikel von ursprünglich 146 auf 192 erhöht. Mit diesen Änderungen ist vieles der ursprünglich klaren und eindeutigen Sprache einem komplizierten Juristendeutsch gewichen. Siehe hierzu den Kommentar von Sven Felix Kellerhoff der im Mai 2019 in der WELT veröffentlicht wurde.

Doch so überflüssig oder unsinnig oder kontraproduktiv dem einen oder anderen diese oder jene Grundgesetzänderung erschienen sein mag:

Die erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wurden erreicht. Die Änderung erfolgte im vorgegebenen demokratischen Prozess.

Wenn man im Bild vom „Boden des Grundgesetzes“ bleiben will, dann wurde dieser Boden alle paar Jahre an so mancher Stelle aufgerissen, teils samt dem Estrich, wobei das ursprüngliche Bodenmosaik nur noch stellenweise zu erkennen ist, weil es an anderen Stellen durch unterschiedlichste Beläge, von einfachen, geölten Holzdielen über Parkett und Keramikfliesen bis hin zu kuschelweichen, hochflorigen Teppichböden ersetzt wurde.

Der einst einheitliche und in sich widerspruchsfreie Boden des Grundgesetzes ist also einer vom wechselnden Zeitgeist diktierten Vielfalt gewichen, was es möglich macht, auch bei höchst unterschiedlichen Standpunkten das feste Stehen auf dem Boden des Grundgesetzes für sich zu reklamieren und es anderen, wegen des anderen Standpunktes auf anderem Bodenbelag abzusprechen.

Doch noch bewegt sich die Betrachtung an der Oberfläche der vielfältigen Bödigkeit des Grundgesetzes. Einer Oberfläche, deren Umgestaltung vom Grundgesetz selbst ermöglicht wurde, indem es  jene Mehrheiten definierte, die sich für eine Änderung zusammenfinden müssen. Dies im guten Glauben, Mehrheiten entstünden  dadurch, dass frei gewählte und nur ihrem Gewissen verantwortliche Abgeordnete – wie es das Grundgesetz vorsieht – nach  gründlicher Abwägung mehrheitlich zu den gleichen Schlüssen kommen würden.

Alleine mit der Nennung des Begriffs „Fraktionszwang“ öffnet sich jedoch die Falltüre zu den Kellerverliesen des Grundgesetzes. Unter dem Schauboden findet sich im lichtlosen Dunkel der menschlichen Schwächen ein zweiter Boden, der sowohl Grund als auch Abgrund ist und mit der hellen Oberfläche nur noch die Worte, nicht aber den Sinn gemeinsam hat.

Die Doppelbödigkeit gehört  jedoch ebenso wenig zum Grundgesetz, wie satanische Rituale zur Bibel. Der Keller unter dem Grundgesetz ist die Wohnstatt der Interpretatoren.

Wo die Aussagen des Grundgesetzes selbst in ihrer Klarheit umfassend und frei von Einschränkungen formuliert sind, abgesehen von dem gelegentlich vorzufindenden Hinweis auf Detailregelungen in den Bundesgesetzen, suchen die Interpretatoren mit Eifer und Inbrunst nach dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner, auf den man die einzelnen Artikel unter Verlust ihres Sinngehaltes herunterbrechen könnte. Dabei geht, neben dem Sinn, auch die Schutzwirkung des Grundgesetzes für die Staatsbürger verloren.

Das Grundgesetz bestimmt den Ordnungsrahmen der Staatlichkeit und die Pflichten, sowie die Grenzen der Befugnisse der Staatsorgane. Der Bürger sollte auf die Beachtung dieses Ordnungsrahmen und auf seine sich daraus ergebenden Rechte vertrauen können. Wird dieses Vertrauen durch anmaßendes und übergriffiges Verhalten der Staatsorgane verletzt und nicht zügig wieder hergestellt, zerbricht die Ordnung zwangsläufig.

Dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Auch alle Versuche, dem verletzten Vertrauen einer zunehmenden Zahl von Bürgern durch ein zunehmendes Misstrauen des Staates gegenüber den Bürgern zu begegnen, indem die freien und unbescholtenen Bürger unter Generalverdacht gestellt werden, die „freiheitlich, demokratische Grundordnung“ beseitigen zu wollen, können den Zerfall nur mittels Zwangsmaßnahmen verzögern, aber nicht aufhalten. Es bedarf immer weiterer sinnverändernder „Interpretationen“ der Buchstaben des Grundgesetzes, die es legitimieren sollen, grundgesetzlich garantierte Bürgerrechte bis zur Unkenntlichkeit zu beschneiden (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Post- und Fernmeldegeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, usw.).

Der Effekt: Die Verantwortlichen des Staates in Legislative, Exekutive und Judikative erodieren die grundgesetzliche Ordnung zu Gunsten der Wahrung der Interessen von Parteien, den die Parteien dominierenden Personen und Ideologien, sowie zu Gunsten der Vertreter mächtiger wirtschaftlicher Interessen.  

Letzteren gelingt es zunehmend – und inzwischen auch in schamloser Offenheit – ihre „Gefolgsleute“ an den Schaltstellen der Politik zu installieren. Beispielhaft sei nur die Heranbildung einer Schar so genannter „Young Global Leader“ durch das WEF des Klaus Schwab angeführt, dessen Traum vom Great Reset und der Verwirklichung des Transhumanismus, also der Umprogrammierung der Menschheit zu bedürfnislosen, entseelten, aber „glücklichen“ Bio-Robotern, bereits breite Unterstützung da findet, wo von den Medien herausgehobene und dann „demokratisch“ gewählte Figuren, oft ohne ausreichenden sachlichen und persönlichen Erfahrungshintergrund, die politischen Entscheidungen treffen.

Dies sind, unter dem sichtbaren Patchwork-Boden des Grundgesetzes, bereits die Katakomben der Republik, das zweite oder dritte Untergeschoss, wo von der breiten Öffentlichkeit nahezu unbemerkt daran gearbeitet wird, Aktionen und Prozesse in Gang zu setzen, die vom „Publikum“ dann als Zufälle wahrgenommen werden, wie sie z. B. in der Formel: „Der Krieg ist ausgebrochen“ zum Ausdruck kommen. Dass Kriege nicht ausbrechen, sondern  geplant, vorbereitet und beschlossen werden, wird allenfalls dem Gegner unterstellt, und dies auch dann, wenn er nichts anderes tut, als sich eines Angriffs zu erwehren.

Ich könnte derzeit spontan keinen einzigen aktiven Politiker Deutschlands benennen, der auf dem Boden jenes Grundgesetzes steht, das mir in jungen Jahren im Sozialkunde-Unterricht nahegebracht wurde.

Ohne dabei weiter ins Detail gehen zu müssen, zeigt alleine die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag nicht aus 598 Abgeordneten besteht, wie es das Grundgesetz vorschreibt, sondern auf 736 angeschwollen ist – ein Zustand, den das Verfassungsgericht als verfassungswidrig erkannt hat – einen erheblichen Mangel an Verfassungstreue bei jener Mehrheit der Abgeordneten, die eine wirksame Änderung des Wahlrechts bisher zu verhindern wussten.

Dabei läge die Lösung auf der Hand:

299 Abgeordnete werden in ihren Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit direkt gewählt. Weitere 299 Sitze werden nach dem Verhältnis der Stimmanteile der Parteien verteilt. Das ergibt stets 598 Sitze.

Der Zwergenaufstand der kleineren Parteien, sie würden dadurch benachteiligt, entbehrt jeder Grundlage. Jede Partei hat auch bei dieser Regelung exakt die gleichen Chancen. Es wird nur sehr viel deutlicher, welche Kandidaten (aufgrund ihrer bevölkerungsnahen Arbeit in den Wahlkreisen) das größere Vertrauen der Wähler genießen, und wenn diese Direktkandidaten zufällig überwiegend der gleichen Partei angehören, dann scheint das Wirken dieser Partei doch bundesweit von den Wählern honoriert zu werden.

Diese Regelung würde auch zu mehr „Ehrlichkeit“ im Wahlkampf und in der Regierungsarbeit führen, denn die Notwendigkeit, Koalitionen einzugehen und damit die eigenen Wahlversprechen unter Verweis auf den Koalitionsvertrag brechen zu können, wird stark nachlassen. Alleinregierende Parteien können mehr durchsetzen, doch dabei ist ihre Arbeit auch transparenter und leichter kontrollierbar.

Es ist auch unerklärlich, warum der Deutsche Bundestag bislang nicht nur keine Mehrheit für den Auftrag des Grundgesetzes gefunden hat, das deutsche Volk möge sich, an Stelle des Grundgesetzes in freier Selbstbestimmung eine Verfassung geben, sondern noch nicht einmal ein ernsthafter Anlauf in diese Richtung unternommen wurde. Spätestens seit dem Beitritt der neuen Bundesländer und dem Abschluss der 2+4-Verträge hätte das doch ohne Genehmigung der Alliierten, möglich sein müssen.

 

Der Boden des Grundgesetzes?

Er hat etwas von einem einst fruchtbaren Acker der zum Moor renaturiert wurde. Eine spezielle Artengemeinschaft bevölkert dieses morbide Biotop.

Die Frösche, heißt es, darf man nicht fragen.