Der Bundeskanzler hat gestern, anlässlich des Krieges in der Ukraine und des 77. Jahrestages der Kapitulation der Wehrmacht, per Fernsehansprache an die 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert und das Handeln seiner Regierung im aktuellen Konflikt zu erklären versucht.
Ich habe mir die Übertragung im ZDF um 19.30 Uhr angesehen und heute Morgen noch einmal die Aufzeichnung.
Ich empfand diese Rede gespenstisch.
„Gespenstisch“, das ist für mich eine Situation, die oberflächlich betrachtet vollkommen normal und alltäglich erscheint, eine Situation, in der „business as usual“ betrieben wird, während in den Obertönen eine für alle hörbare Gefahr nur darauf wartet, im nächsten Augenblick hervorzubrechen.
Es erinnerte an Alfred Hitchcocks Film „Der unsichtbare Dritte“ mit Cary Grant, der am helllichten Tag vollkommen einsam und alleine an einer Straße mitten in der Pampas steht und auf jemanden wartet. Eine Szene, die sich quälend in die Länge zieht, unterbrochen vom Auftauchen eines zufällig erscheinenden und dann wieder wegfahrenden Automobils, bis dann am Horizont klein und winzig das Flugzeug auftaucht, das näher und näher kommt, das ist gespenstisch. Das war das Gefühl, das mich bei der Rede des Bundeskanzlers überkam. Alles klang so selbstverständlich, so normal, so sachlogisch, ja irgendwie sogar trist und langweilig. Ferne Gefahr in Zwischentönen, während die Zuversicht, Putin werde gestoppt werden, von uns, von unseren Freunden und Verbündeten, von unseren wohlabgewogenen Schweren Waffen, zäh wie Sirup aus dem Fernseher tropfte.
Im Hitchcock Film endet das Gespenstische in dem Augenblick, in dem das Flugzeug im Tiefflug zum Angriff übergeht und Agrarchemikalien versprüht. Die Ablösung des Gespenstischen durch eine fast schon erlösend wirkende, tödliche Gefahr …
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Und noch etwas erinnerte in der Rede des Bundeskanzlers an den Dritten Mann. Der von Cary Grant dargestellte Werbefachmann, Roger Thornhill, hat ja keine Ahnung, warum er verfolgt und gejagt wird. Er steckt unversehens in einem Albtraum, der sich erst auflöst als klar wird, dass er Opfer einer Verschwörung und einer Verwechslung ist.
Der Bundeskanzler wirkte in seiner Rede wie Roger Thornhill / Cary Grant. Er hat keine Ahnung, wie es zu dem barbarischen Überfall Putins auf die Freiheit und Demokratie in der Ukraine kommen konnte. Seine Erinnerung endet am 8. Mai 1945 und setzt erst am 24. Februar 2022 wieder ein. Nur Dank dieser retrograden Amnesie konnte es ihm gelingen, jene Parallelen zu ziehen, die er gezogen hat, und jene Entscheidungen zu begründen, die er getroffen hat, und die Behauptung von der Alleinschuld Russlands aufzustellen und den unverhohlenen Bellizismus der Falken in USA und NATO als einen der Not gehorchenden, bewaffneten Pazifismus auszugeben.
Die Entschuldigung, die er sehr versteckt in seiner Rede vermittelt hat, kam gleich im ersten der vier Grundsätzen der deutschen Politik die der benannte, zum Vorschein:
„Erstens – Keine deutschen Alleingänge.“
Das Verbot der Lieferung von Waffen in Kriegs- und Krisengebiete, das sich die Bundesrepublik einst auferlegte, ist diesem Diktum nach einigen Wochen des Zögerns und Hinhaltens erneut zum Opfer gefallen – wie schon im Jugoslawienkrieg, wo wir nicht nur Waffen, sondern die Soldaten gleich mitgeliefert haben, nicht anders als beim Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Aber der Bundeskanzler erklärte gestern, Deutschland habe dieses Mal zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Waffen in ein Krisengebiet geliefert …
Früher sprach man von der „Koalition“ der Willigen. In der Erinnerung an schlimme Zeiten wird, in Abgrenzung zu jenen, die Widerstand geleistet haben, immer gerne der Terminus „Mitläufer“ verwendet.
Auch wenn sich die real existierenden Lemminge nicht, wie im Disney-Film gezeigt, selbstmörderisch in Massen über die Klippen ins Meer stürzen, ist das doch ein gutes Bild für eine Situation, in der Deutschland, ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit, auf die Interessen der eigenen Wirtschaft und auf die Interessen der eigenen Bevölkerung seinen Beitrag zu der Absicht leistet, Russland in einem durch Waffenlieferungen und Informationsbereitstellung absichtlich in die Länge gezogenen Krieg so entscheidend zu schwächen, dass es in der längst angesagten Auseinandersetzung der USA mit China keine wesentliche Rolle mehr spielen kann.
Olaf Scholz nimmt erstickenden Rohstoffmangel, katastrophalen Energiemangel und galoppierende Inflation für Deutschland in Kauf, ja letztlich sogar die Gefahr, dass Deutschland, mit seinen vielen US-Basen, zum Kriegsschauplatz werden könnte, und entschuldigt das mit: „Keine deutschen Alleingänge“.
Dass sein vierter Grundsatz lautet:
„Viertens – Wir werden keine Entscheidung treffen, die die NATO Kriegspartei werden lässt“,
hilft da nicht weiter, denn das hat Deutschland nun weiß Gott nicht in der Hand. Eine Provokation aus Polen – ein russischer Gegenschlag – und lange bevor sich der Pulverdampf verzogen hat und die Schuldfrage geklärt ist, kann die NATO den Bündnisfall ausgerufen haben.
Olaf Scholz betonte in seiner Rede auch, er habe in seinem Amtseid geschworen, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden.
Es war einfach nur gespenstisch.