Beginn der ukrainischen Großoffensive?

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über die Berichterstattung der deutschen Medien über den Beginn einer Großoffensive ins Lachen kommen. War da bis Ende der letzten Woche stets zu lesen, dass die Ukraine in Kürze durchstarten, sich mitten durch die russischen Stellungen hindurch einen Korridor zum Schwarzen Meer schaffen und erst die Krim, und danach alle russisch besetzten Gebiete zurückerobern werde, was mit Hilfe der westlichen Waffen zweifellos gelingen werde, so lese ich heute am Morgen:

Russland: Ukrainischer Großangriff in Donezk abgewehrt | tagesschau.de

Kreml meldet Erfolg in Donezk

Ukraine News: Russland will größere ukrainische Offensive vereitelt haben

Aber eben auch diese Meldungen sind zu verzeichnen:

Krieg gegen die Ukraine – Angriffe auf russische Grenzregion Belgorod fortgesetzt, Alarm auch in Kiew

Russische Nachrichten, die zu Beginn der militärischen Sonderaktion geradezu euphorisch von Fortschritten berichtet haben, aber seit Monaten immer zurückhaltender werden, oft nur noch ukrainische Quellen zu den Wirkungen russischer Angriffe zitieren, sind auch heute zurückhaltend.

So meldet RT mit dem Zeitstempel 08.13 Uhr:

Russlands Verteidigungsministerium: Russisches Militär schlägt Offensive der ukrainischen Armee zurück

und bereits Minuten später, 08:36 Uhr:

Saporoschje-Behörden melden weitere großangelegte Angriffsversuche des ukrainischen Militärs

Wenn ich den Versuch unternehme, diese Informationen einzuordnen, dann ist die wichtigste Erkenntnis:

„Es ist – nach langen Monaten unerbittlicher Grabenkämpfe mit minimalen Geländegewinnen – etwas in Bewegung gekommen.“

Dies hat, nach meiner Einschätzung, sehr viel mit dem Fall von Bachmut – Selenskis Stalingrad – zu tun. Diese Stadt so lange wie möglich und unter größten Verlusten zu halten, war wohl der Versuch, möglichst viele russische Truppen dort zu binden und damit die Kräfte für einen weiteren russischen Vormarsch klein zu halten. Dies  verbunden mit der Erwartung, parallel dazu neue westliche Waffen- und Munitionslieferungen für eine erfolgversprechende Gegenoffensive anzusammeln und die entsprechenden Truppenkontingente auf diesen Einsatz vorzubereiten. Dies ist womöglich besser gelungen als von russischer Seite eingeschätzt, aber nicht in dem Maße, das die notwendige zwei- bis dreifache Überzahl an Menschen und Material hervorgebracht hätte.

Wichtig, um die Moral der Truppe aufrecht zu erhalten, waren daher Siegesmeldungen, die mit den Angriffen auf russisches Territorium im Bereich Belgorod und natürlich mit dem Drohnenangriff auf den Kreml selbst zeigen sollten:

Die Russen sind nicht unbesiegbar.
Die Russen zeigen deutliche Schwächen.

Es kam nicht darauf an, sich tatsächlich auf russischem Territorium zu halten und quasi einen Brückenkopf zu bilden, es kam nur darauf an, zu zeigen, dass man auch mit einem sehr kleinen Verband ohne aufgehalten zu werden 40, 50 Kilometer weit auf russisches Staatsgebiet vordringen und dass sogar der Kreml in Moskau von ukrainischen Waffen erreicht werden kann. 

Wir haben also, nach meiner Einschätzung, reine Propaganda-Aktionen für die ukrainischen Truppen gesehen, die nach dem Fall von Bachmut schleunigst zuschlagen müssen, bevor sich die im Kampf um Bachmut gebundenen, russischen Truppen neu organisieren, die Stellungen entlang der tausend Kilometer langen Kontaktlinie verstärken oder einen Stoßkeil für einen weiteren Vormarsch bilden können.

Dass es nun an insgesamt fünf Stellen im Frontbogen um Donezk ukrainische Vorstöße gegeben hat, die offenbar alle von den Russen zurückgeworfen werden konnten, ist jedoch ein Indiz dafür, dass die große Gegenoffensive immer noch nicht begonnen hat, sondern dass es sich auch dabei um reine „Aufklärungsangriffe“ handelte, mit dem Ziel, den Gegner noch einmal abzutasten, um herauszufinden, welche seiner Kräfte mit welchen Fähigkeiten an welchen Abschnitten der Front anzutreffen sind.

Die Meldungen der westlichen Medien über das Scheitern der Großoffensive sind daher ebenfalls als Propaganda einzustufen. Propaganda, die auf die Bevölkerung abzielt und ihre Bereitschaft, noch mehr Waffen zu liefern, stärken soll, wenn die Bevölkerung damit nicht gar bereits auf das Eingreifen regulärer Truppen aus NATO-Staaten eingestimmt werden soll, was  unvermeidlich sei, um den russischen Bären aufzuhalten. 

Es wäre naiv zu glauben, dass in den Stäben der NATO nicht längst Pläne vorbereitet sind, wie man, im Zuge der größten Luftwaffenübung der Geschichte, die vom 12. bis zum 23. Juni angesetzt ist und mit mehr als 250 modernsten Kampfflugzeugen, die für die Übung in Deutschland zu Gast sein werden, eine Gegenoffensive der Ukraine unterstützen könnte. Natürlich nur Pläne, geistige Fingerübungen der Planungsstäbe, die keinesfalls zum Einsatz kommen sollen, aber eben doch zum Einsatz kommen könnten, wenn es die Situation gebieten sollte. Mit einem Anflugweg von 1.000 Kilometern bis nach Rumänien, wo ggfs. eine Luftbetankung erfolgen kann, weiteren 700 km bis an die Frontlinien und 700 km zurück zur Lufttankstelle, um auch heil wieder nach Deutschland zurückzukehren, handelt es sich um durchaus durchführbare Einsätze. Da hilft es den Russen auch nichts, dass sie in den letzten Tagen noch einmal gezielt die ukrainischen Flugplätze angegriffen haben. Wenn die NATO eingreift, braucht es keinen funktionsfähigen Flugplatz in der Ukraine.

Spinne ich den Gedanken weiter, stellt sich die Frage, wie Russland auf derartige Einsätze reagieren würde. Es ist anzunehmen, dass man in der NATO davon ausgeht, dass Russland sich darauf beschränken wird, gegnerische Flugzeuge nur innerhalb des Luftraums der Ukraine anzugreifen, aber davor zurückschrecken wird, die Kampfflugzeuge bereits im Anmarsch über westlichem Territorium oder gar ihre Stützpunkte in Deutschland oder, noch schlimmer, den US Flugzeugträger  Gerald Ford anzugreifen, der sich derzeit, ebenfalls zu einer großen Übung, in norwegischen Gewässern bewegt.

Allerdings hat die Vergangenheit gezeigt, dass die roten Linien Russlands deutlich sensibler geworden sind. Es gab, als es um den Erhalt der Marinestützpunkte an der syrischen Mittelmeerküste ging, das ebenfalls nicht erwartete russische Eingreifen, um den IS zu besiegen, bevor die USA Syrien unter dem Vorwand des Kampfes gegen den IS vollständig besetzen. Es gab – und das sollte als Indiz für das Ende der russischen Geduld sehr ernst genommen werden – den Einmarsch in die Ukraine, obwohl schon damit das Risiko der direkten Konfrontation mit der NATO verbunden war. Das russische Narrativ, es ginge um nicht weniger als um das Überleben Russlands als souveränem Staat, ist oft  und laut genug verkündet worden, um die Tür „bis zum Äußersten zu gehen“ zu öffnen und offen zu halten.

Mir fällt Olaf Scholz ein, seine Rede auf dem Europafest der SPD, und seine emotionale Botschaft an die Kritiker seiner Ukraine-Kriegs-Politik. Meiner Meinung nach wird sich erst noch herausstellen müssen, wie das ist, mit dem fehlenden Funken Verstand im Hirn