Sekret, Sekretär, NATO-Generalsekretär

PaD 24 /2024 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 24 2024 Sekret, Sekretär, Nato-Generalsekretär

Der Nordatlantikrat hat Mark Rutte, dem vor einem Jahr der  Job als Ministerpräsident der Niederlande abhanden gekommen war, angeboten, die Nachfolge von Jens Stoltenberg als  Generalsekretär anzutreten.

Es sieht so aus, dass man sich beim Gehalt einigen konnte, denn Rutte hat zugesagt, sich zunächst  für vier Jahre zu verpflichten. Am 1. Oktober wird er die Amtsgeschäfte übernehmen.

Wird Rutte damit neuer Chef der NATO, Herr über Krieg und Frieden, Hüter des Beistandspaktes – oder was?

Wenn man dem folgt, was die westlichen Medien suggerieren, und sich am Auftreten und den starken Worten des scheidenden Generalsekretärs orientiert, sieht es  tatsächlich so aus, als bestimme der Generalsekretär  den Kurs der NATO.

Der Job ist aber – General hin oder her – nur der Job eines Sekretärs.

Nehmen wir Kevin Kühnert, einen anderen Generalsekretär. Kühnert ist – wenn man es überspitzt auf den Punkt bringen will – in dieser Funktion der „durchaus privilegierte“ Laufbursche von Saskia Esken und Lars Klingbeil. Privilegiert, weil er in die geheimen Pläne des Parteivorstands eingeweiht wird, um deren Umsetzung zu organisieren. Privilegiert, weil er sogar an der Entwicklung dieser Pläne beteiligt wird.  Voraussetzung dafür ist, dass gegenüber den Chefs ein äußerstes Maß an Loyalität gezeigt wird, was vor allem in der absoluten Geheimhaltung vertraulicher Informationen, aber auch in der getreulichen Ausführung von Aufträgen aller Art zum Ausdruck kommt.

Wie aber kommt Loyalität zustande? Im besten aller denkbaren Fälle entsteht Loyalität aus Überzeugung, aus Vertrauen in die Klugheit des Chefs, aus Übereinstimmung in den großen Zielsetzungen, verbunden mit der gerechtfertigten oder irrtümlich gehegten Einsicht in die eigenen Defizite, oder aber dem fehlendem Mut, selbst die Verantwortung übernehmen  zu wollen.

Es gibt aber auch andere Ursachen für Loyalität. Sehr verbreitet ist jene Loyalität, die sich aus materiellen Erwägungen ergibt.  Ich nenne das einfach einmal eine Loyalität zur Sicherung von Einkommen und Karrierechancen. Die kann sehr plötzlich enden, wenn ein lukrativeres Angebot noch bessere Chancen verspricht.

Die übelste Sorte von Loyalität ist dort zu finden, wo es die Leichen im Keller sind, mit denen der Sekretär zu lebenslänglicher Loyalität  erpresst wird, will er nicht lebenslänglich hinter Gittern sitzen. Gelegentlich beruht das auf Gegenseitigkeit. Dann sind schier unauflösliche Schicksalsgemeinschaften entstanden, es sei denn, dass der Tod sie scheidet.

Je weniger die Loyalität auf einen edlen Charakter gegründet ist, je mehr der Chef glaubt, seinen Sekretär in der Hand zu haben, desto stärker die Neigung der Sekretäre, eine eigene Macht zu entwickeln und ihr Mittel dazu ist ein geschicktes, intrigantes Agieren.

Hier ist es vor  allem die Möglichkeit, die ankommende Kommunikation des Chefs zu kontrollieren,  wichtige Informationen von ihm fernzuhalten und fragwürdige Informationen durchzulassen, die es ermöglicht die Entscheidungsfindung maßgeblich zu beeinflussen, während andererseits auch die Weitergabe von Informationen und Aufträgen des Chefs durch zufällig missverständliche Formulierungen oder zufällige Verzögerungen bei der Weiterleitung ganz gezielt Probleme hervorrufen kann, die dann durch Maßnahmen  bereinigt werden, die wiederum ganz im Sinne des Sekretärs sind.

Begünstigt wird intrigantes Verhalten vor allem dann, wenn der Sekretär nicht nur einen Chef hat, sondern zwei oder noch mehr. Selbst  Mütter, die sich noch so sehr bemühen, alle ihre Kinder gleich gut und liebevoll zu behandeln, müssen sich eingestehen, dass eine oder einer eben doch ihr Liebling ist, was sich durchaus auch in bestimmten (ggfs. gut getarnten) Formen der Bevorzugung niederschlägt.

Ein wilde gedankliche Kapriole führt zum Papst, den man ja in seiner Funktion des Stellvertreters auf Erden duchaus auch als den Generalsekretär der Römisch-Katholischen Kirche bezeichnen könnte.  Der hat nun gar keinen Chef und muss seine Anweisung mühsam aus überlieferten, jüngeren und älteren Testamenten rekonstruieren, die in Form der so genannten Bibel in unterschiedlichen Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen vorliegen.

Wenn Franziskus, der Amtierende, nun beschlossen hat, den Vatikan mittels einer großen Fotovoltaik-Anlage energie-autonom und klimaneutral zu machen, darf schon die Frage aufkommen, ob ihm das vom Heiligen Geist eingegeben wurde, ob es sein unerschütterlicher Glaube an von Propheten verheißene Wunder ist, oder ob er einfach auch das haben will, was jetzt alle haben, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Kirche wende sich vom Zeigeist ab. Schließlich hängen Wohl und Wehe der Kirche von der Zahl der Mitglieder und deren Spenden und Vermächtnissen ab. Beim Papst sind es also nicht die Chefs, deren Wohlwollen es zu erhalten gilt, sondern die Chäfchen,  denen es offen steht, in Scharen davonzulaufen.

Von da aus geht es, ohne noch einmal den Umweg über die SPD zu nehmen, wieder direkt zurück zur militärisch stärksten Organisation auf dieser Erde.

Wem gegenüber wird Mark Rutte ab Oktober seine grenzenlose Loyalität beweisen müssen?

Die NATO zeigt auf ihrer Website ein Organigramm, das sich vom Organigramm der NATO, wie es Wikipedia zeichnet, stark unterscheidet.

NATO-Organigramm
Wikipedia-Organigramm

Die NATO sieht ihren Generalsekretär in der Hierarchie unter den beherrschenden Mitgliedsstaaten und den von ihnen geschaffenen zivilen Gremien (Natorat und Nukleare Planungsgruppe) und dem ebenfalls von den Mitgliedsstaaten bestückten militärischen Gremium (Militär Ausschuss), auf  der gleichen dritten Ebene wie die so genannten „nachgeordneten Einrichtungen“.

Die Wikipedia hingegen stellt das Generalsekretariat unangefochten an die Spitze der Organisation und betont (auf groteske Weise) die Tatsache, dass der Generalsekretär innerhalb der Gremien als Vorsitzender fungiert. Dies ist aber nicht eine Machtposition, sondern eine rein organisatorische, allenfalls moderierende Funktion. Wikipedia suggeriert damit, der Europäer als Generalsekretär sei der Garant für die Vertretung der europäischen Interessen in der NATO.

Ich halte das Organigramm, das die NATO sich selbst gezeichnet hat, für die ehrlichere Darstellung der Machtverhältnisse.

Kommen wir nun kurz zum Funktionsprinzip der NATO. Dies ruht, nach dem Statut, auf drei Säulen:

1. Entscheidungen werden im Konsens getroffen.

2. Die zivilen Gremien sind den militärischen übergeordnet.

3. Wird ein Mitgliedsstaat von einem Nichtmitglied angegriffen, wird der Beistandsfall ausgerufen.

Dem Funktionsprinzip gegenüber steht die Verteilung von Macht und militärischer Stärke im Bündnis. In der Augsburger Allgemeinen vom 27.02.2024 findet sich dazu eine aussagekräftige Aufstellung. Ich nenne hier daraus nur wenige Angaben:

Von 3.358.000 aktiven Soldaten der NATO stellen die USA alleine 1.328.000, also ziemlich genau 40 Prozent. Der NATO-Staat mit der nächstgrößeren Armee ist die Türkei mit 355.000 Aktiven. Dann folgt Polen mit 202.000  Soldaten.

Nicht anders sieht es bei den Militärausgaben aus.

1.305 Milliarden Dollar hat die NATO 2023  insgesamt fürs Militär aufgewendet, 876 Milliarden Dollar (67 Prozent) haben davon die USA alleine aufgebracht. Die nächstgrößeren Militäretats weisen die Briten mit 77, Deutschland mit 74 und Frankreich mit 58 Milliarden auf.

Diese Zahlen verdeutlichen unmissverständlich, dass einzig die USA gegenüber den übrigen Mitgliedsstaaten ein glaubhaftes Schutzversprechen für den Fall eines militärischen Großkonfliktes mit Russland bzw. China abgeben können, während sich alle übrigen, insbesondere alle, die nicht über eigene Atomwaffen verfügen, unter den Schutzschirm der USA  begeben haben, der aber nicht umsonst zu haben ist.

Es steht in den NATO-Statuten ja auch nicht geschrieben, dass alle NATO-Staaten im Falle eines Angriffs dem angegriffenen Staat zur Hilfe eilen müssten. Die Wikipedia führt  dazu unmissverständlich aus:

Kern der Pflichten ist Artikel 5, der den Bündnisfall regelt. Danach können die Staaten einen bewaffneten Angriff auf ein Mitgliedsland als Angriff auf alle definieren und die gemeinsamen Kapazitäten gegen den Angreifer mobilisieren. Welche Maßnahmen ergriffen werden, entscheidet jeder Mitgliedstaat nach den eigenen Regeln selbst, es gibt also keinen automatischen Militäreinsatz aller Mitglieder.

Damit lässt sich die erste Säule des Funktionsprinzips der NATO – Konsens aller Mitgliedsstaaten – auf eine ganz einfache Formel reduzieren:

Wer sich dem Willen der USA widersetzt, muss damit rechnen, im Bündnisfall von den USA nicht unterstützt zu werden.

Dies wiederum wird verständlicherweise zur Folge haben, dass sich auch kaum ein anderer Mitgliedsstaat entschließen wird, seinen Bündnispartner zu unterstützen, wenn die USA sich zurückhalten.

Aufgabe des Generalsekretärs der NATO ist es folglich, dafür Sorge zu tragen, dass Konsens darüber hergestellt wird, dass die Ziele und Absichten der USA zugleich die Ziele und Absichten aller übrigen Mitgliedsländer sind, und dies öffentlich so darzustellen.

Wer Chef des NATO-Generalsekretärs ist, lässt sich nicht so einfach feststellen.

Nach den Statuten ist es der Nordatlantik-Rat, in dem alle Mitgliedsstaaten vertreten sind. Da treffen sich wöchentlich die „Ständigen Vertreter“, halbjährlich die Außen- und Verteidigungsminister, sowie im Abstand von zwei bis drei Jahren die Staats- und Regierungschefs. Wenn der Generalsekretär, der den Vorsitz führt, dann den Konsens herbeigeführt hat, schrumpft die Zahl der Chefs allerdings schon wieder zusammen. Bei einem starken und mit dem Deep State im Einvernehmenden stehenden US-Präsidenten ist es dieser. Andernfalls sind es die, die hinter dem Präsidenten die Fäden ziehen.

Im Augenblick herrscht offenbar Konsens  darüber, dass Deutschland seine Autobahnen, insbesondere die Brücken, aber auch die Schieneninfrastruktur insofern kriegstüchtig machen muss, als der Aufmarsch der NATO gegen Russland über die Drehscheibe Deutschland (demnächst) reibungslos vonstatten gehen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Idee am Konferenztisch der Bundesregierung ausgeheckt wurde, obwohl die darniederliegende Bauwirtschaft die Milliardenaufträge mit Kusshand annehmen würde. Schließlich ist über Jahrzehnte das Gegenteil erfolgt. Die Infrastuktur, die letztlich auch einen Standortvorteil für die Wirtschaft bedeutete, wurde  ganz bewusst vernachlässigt und heruntergewirtschaftet.

Wiederum ist es die Augsburger Allgemeine, diesmal in der Ausgabe vom 16. Juni, die darüber berichtet, wie sich inzwischen die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit dieser Aufgabe herumschlagen. Daraus ein Zitat mit Aussagen des hessischen MP Boris Rhein:

„Wenn die Nato die Ostflanke schützen muss, dürfen Truppenverlegungen und Transit nicht an mangelnder deutscher Infrastruktur scheitern“, betonte Rhein. Im Ernstfall müsse eine große Zahl an Militärtransporten in Konvois rollen können, und dafür müssten die Straßen und Brücken in entsprechendem Zustand sein, sagte der hessische Ministerpräsident mit Blick auf die Verteidigung der Nato-Ostgrenzen. Zudem brauche es Vorbereitungen für große Rastplätze mit entsprechenden Übernachtungsplätzen für Soldatinnen und Soldaten. „Das alles muss gut geplant sein, damit es im Ernstfall funktioniert“, so Rhein.

Sie sehen, Jens Stoltenberg wird niemand vorhalten können, er habe nicht den notwendigen Druck gemacht.

Wobei mir beim Stichwort „Druck“ noch eine Analogie zum Wirken des NATO-Generalsekretärs einfällt. Er verhält sich wie  Hydrauliköl, nimmt Druck auf und gibt ihn (verstärkt) weiter, ohne dabei selbst in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Es ist die Struktur (aus Leitungen und Kolben), die zur Funktion führt. Das Öl ist dabei ebenso unverzichtbar, wie austauschbar, wäre außerhalb dieser Struktur aber zu nichts nütze.

Sollte man Mark Rutte zur Amtsübernahme gratulieren?

Ich weiß nicht.