PaD 38 2022 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 38 2022 Krieg ist nicht lustig
Es gibt in diesem Krieg drei sich maßgeblich unterscheidende Erzählungen, sowohl was die Ursachen des Krieges betrifft als auch was den Verlauf der militärischen Aktivitäten betrifft. Es sind dies die Erzählungen der direkt involvierten Parteien, also der Ukraine und Russlands, sowie die Erzählung der NATO. Über die Vorgeschichte will ich mich heute nicht auslassen. Die Vorgeschichte ist seit dem 24. Februar ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte.
Für mich ist das entscheidende Merkmal der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine die Tatsache, dass die Waffenlieferungen der Ukraine-Unterstützer offenbar nahezu vollständig und unversehrt bei der kämpfenden Truppe ankommen. Das wirft die Frage auf, warum es Russland nicht gelingt, die Transportlinien zu unterbrechen. Der Seeweg ist nicht das Problem. Der Zugang zu den ukrainischen Schwarzmeerhäfen kann von der russischen Marine kontrolliert werden, zumal schon die Einfahrt ins Schwarze Meer über den Bosporus praktisch nicht unentdeckt bleiben kann.
Es sind die Landwege – und hier, wegen der zu bewegenden Tonnage – im Grunde nur die Bahnstrecken, die als Nachschubwege zur Verfügung stehen. Es ist also nicht erforderlich, die gesamte Grenzlinie der Ukraine zu Polen, zur Slowakei, Ungarn und Rumänien und eventuell Moldawien zu überwachen, es würde genügen, die grenzüberschreitenden Bahnlinien zu beobachten, um den Großteil der ankommenden Waffenlieferungen zu erkennen und mit gezielten Raketenangriffen zu zerstören, bevor sie bei der Truppe ankommen. Dies geschieht offenbar nicht.
Meine anfängliche Einschätzung ging dahin, dass die russische Aufklärung,
- sowohl was die Dienste betrifft, die in der Lage sein sollten, Waffentransporte im Vorfeld zu identifizieren,
- als auch was die direkte Überwachung durch Satelliten, Drohnen oder vor Ort eingesetzte Agenten betrifft,
sowohl technisch als auch organisatorisch vollkommen unzureichend aufgestellt ist.
Dem steht allerdings die Tatsache entgegen, dass es selbstverständlich möglich wäre, die Schienenwege selbst mit weitreichenden Waffen, von den russisch besetzten Gebieten oder von See her punktuell zu zerstören und dies so oft zu wiederholen, wie es die Reparaturanstrengungen der Ukrainer erforderlich machen. Die Zielkoordinaten dafür lassen sich – ganz ohne jegliche Aufklärungsaktivitäten – von jeder Landkarte ablesen.
Dies geschieht jedoch auch nicht, abgesehen von wenigen bekannt gewordenen Angriffen auf Bahnhöfe, weitab von den Grenzen, wo Waffen- und Munitionstransporte getroffen werden sollten. Dass die Russen zu solchen Schlägen in der Lage sind, haben sie jüngst mit den koordinierten Angriffen auf mehrere Elektrizitätswerke unter Beweis gestellt, die dazu führten, dass in der Ukraine zumindest vorübergehend die Lichter ausgingen.
Von keiner Seite hört man dazu etwas.
Die Ukraine bedankt sich ständig für die Waffenlieferungen und betont, dass noch viel mehr Material benötigt würde, vor allem auch moderne westliche Panzer und anderes, technisch hochentwickelte Gerät. Die NATO lobt sich selbst dafür, gigantische Mengen von Material in die Ukraine zu schicken und verspricht immer neue, milliardenschwere Unterstützung. Russland bestätigt die Waffenlieferungen an die Ukraine, warnt dabei davor, dass ein erheblicher Teil der Lieferungen – von korrupten Individuen umgelenkt – gar nicht an der Front ankomme, sondern im Schwarzhandel mit Waffen nicht mehr nachvollziehbare Wege nähme und leicht auch bei Terroristen landen könne, meldet aber täglich Einschläge von Raketen und Granaten aus westlicher Produktion in den von Russland kontrollierten Gebieten, zum Teil auch auf russischem Staatsgebiet. Über die Transportwege schweigen sich jedoch alle drei Parteien aus.
Ein weiteres Phänomen im russisch-ukrainischen Krieg betrifft die strategischen Ziele der russischen Spezial-Operation.
- Anfänglich sollte die Ukraine von den Nazis befreit werden, was die Absetzung der Kiewer Regierung eingeschlossen hat und mit dem frühen Vorstoß auf Kiew unterstrichen wurde. Dieser Vorstoß ist bekanntlich unter Verlusten steckengeblieben, die Truppen wurden zurückgezogen. Die Ukraine bewertete das als Beweis der Fähigkeiten ihrer Streitkräfte, die NATO hat applaudiert, die Russen ließen „private“ Beobachter erklären, beim Vorstoß auf Kiew habe es sich um ein Ablenkungsmanöver gehandelt, um ukrainische Truppen vom Donbass abzuziehen, so dass dort der eigentlich geplante Vormarsch auf weniger Gegenwehr gestoßen sei.
- Dann ging es mehr oder minder nur noch darum, die Republiken Lugansk und Donezk, die sich für unabhängig erklärt hatten, militärisch zu sichern, während gleichzeitig versucht wurde, in Richtung Odessa vorzustoßen, um die Ukraine vollends vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Auch dieser Vorstoß ist stecken geblieben.
Aktuell ist es der Ukraine gelungen, eine Fläche von etwa 6.000 Quadratkilometern im Norden des russisch besetzten Gebietes zurückzuerobern. Die Ukraine feierte einen überragenden Sieg ihrer Truppen, die NATO sicherte weitere Waffenlieferungen zu und die Russen berichteten über massive Verluste der Ukraine an Menschen und Material. Im Widerspruch dazu wiesen wiederum „private“ Auguren darauf hin, dass die russischen Truppen dieses Gebiet schon wieder verlassen und nur polizeiähnliche Sicherheitskräfte zurückgelassen hatten, was der westlichen Aufklärung nicht verborgen geblieben sei, so dass es möglich geworden sei, hier mit geringem Aufwand einen militärischen Sieg zu inszenieren, der mangels anwesender Gegner gar keiner gewesen sei.
Trotz der Unmöglichkeit, neutrale Informationen über das tatsächliche Geschehen zu erhalten, gibt es deutliche Indizien dafür, dass der Krieg mit diesem erfolgreichen ukrainischen Vorstoß in eine neue Phase eingetreten ist.
Das erste Indiz ist der russische Angriff auf mehrere Elektrizitätswerke gewesen, mit dem offenbar gezeigt werden sollte: Wir können auch anders.
Diesem einmaligen Akt des gezielten Angriffs auf die Infrastruktur sind allerdings meines Wissens bisher keine weiteren, die Ukraine nachhaltig schwächenden Aktivitäten gefolgt. Das könnte als bloße Warnung gedeutet werden, mit welcher die Ukraine zum Einlenken gebracht werden soll, doch ist dies unwahrscheinlich, zumal die Rhetorik Selenskis und der NATO keinen Zweifel daran lässt, dass Verhandlungen ausgeschlossen sind und das Ziel heißt, die russischen Truppen vollständig aus der Ukraine, einschließlich Donezk und Lugansk zu vertreiben. Bleibt als zweite Möglichkeit die Annahme, dass die russischen Munitionsvorräte zu einem sparsamen Umgang, vor allem mit weitreichenden und präzisen Systemen zwingen, und als dritte Möglichkeit, dass die russische Führung die Infrastruktur und die Zivilisten in der Ukraine nicht mehr als unbedingt erforderlich schädigen will.
Das zweite Indiz findet sich in den Reden von Putin und Schoigu vom 21. September. Beide haben sie rhetorisch von der Spezial-Operation zur Befreiung der russisch besiedelten Gebiete Abschied genommen und stattdessen vom Verteidigungskrieg Russlands gegen „einen Teil der westlichen Eliten“ gesprochen, deren Ziel es ist, Russland zu schwächen, zu zerschlagen und letztlich zu zerstören.
Das dritte Indiz steht im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Wechsel der Tonart und findet sich im Befehl zur Mobilmachung von 300.000 russischen Reservisten und dem Befehl zur priorisierten Produktion von Waffen und Munition in den russischen Betrieben.
Der Westen kann sich das Lachen kaum verkneifen. Deutet die Mobilmachung ebenso in eine Drohgebärde um, wie Putins Warnung, man verfüge über (nukleare) Waffensysteme, die denen des Westens überlegen seien und sei bereit, diese einzusetzen, wenn es die Sicherheit und territoriale Integrität Russlands gebiete. NATO Generalsekretär Stoltenberg hat dabei allerdings eine nicht so leicht erkennbare Ausnahme gemacht, als er erklärte, ein Atomkrieg könne grundsätzlich nicht gewonnen werden. Sein Nachsatz: „Schon gar nicht von Russland“, war dabei nicht nur überflüssig wie ein Kropf, er erinnert auch ein bisschen an das Pfeifen im Walde dessen, der sich verlaufen, bzw. verrannt hat. Die westlichen Medien haben sich beeilt, von den Demonstrationen in drei Dutzend russischen Großstädten zu berichten und dass dabei insgesamt 700 Festnahmen erfolgten, sowie darauf hinzuweisen, dass junge russische Männer in Scharen das Land verlassen, um der Einberufung zu entgehen. Alles Propaganda.
Dass Putin mit seiner Rede an die Nation sehr geschickt jene Saite in der russischen Seele zum Klingen gebracht hat, die mit dem „Großen vaterländischen Krieg“ in Resonanz steht, bleibt unkommentiert.
Stattdessen wird gemutmaßt, wie lange es wohl dauern könne, bis die Mobilmachung tatsächlich abgeschlossen sei wird, zumal Russland ja nach wie vor unorganisiert und dysfunktional aufgestellt sei. Am weitesten gehen dabei jene, die sich die Mobilmachung als einen Vorgang vorstellen, der seine Wirkung erst nach dem Winter entfalten soll, wenn der Krieg nach einer mehrmonatigen Pause im Frühjahr wieder fortgesetzt werden wird. Dann, so meinen sie, werde es sinnvoll sein, die Verluste der Truppe mit frischem Material und Personal wieder aufzufüllen.
Dies halte ich für Zweckoptimismus.
Mit der faktisch ausgesprochenen Kriegserklärung an den vereinten Westen kann das russische Kriegsziel im Grunde jetzt nur noch lauten, die von der NATO bewaffnete und beratene Ukraine komplett zu besetzen und damit den Krieg – ohne Ausweitung auf andere Weltregionen – zu beenden.
Es sind zwar keine Zahlen darüber zu finden, welche Truppenstärke Russlands in der Ukraine gebunden ist, doch dass der größere Teil der aktiven russischen Streitkräfte sich noch in den Heimatkasernen befindet und daher die Frage nach der an der Frontlinie verfügbaren Kampfstärke in die Irre führt, weil diese – ggfs. durch rotierenden Einsatz – durchaus im bisherigen Maße aufrecht erhalten werden könnte.
Die Mobilmachung deutet meines Erachtens eher darauf hin, dass Russland jetzt – und damit meine ich: sehr bald – den Einsatz in der Ukraine so massiv ausweiten und verstärken wird, wie es die neue Doktrin des Kampfes gegen den vereinten Westen erforderlich macht. Das heißt: Mit einer Übermacht an Truppen anzutreten, um in einer Vielzahl von Gefechten die Nachschublinien und Materialreserven der NATO soweit zu überfordern, dass der Ukraine die Munition ausgeht. Dies aber immer noch, ohne die direkte Konfrontation mit der NATO anzustreben.
Die Reservisten, die jetzt eingezogen werden, werden daher m.E. primär erst einmal in jene Kasernen einziehen, aus denen die aktiven Soldaten demnächst in Richtung Ukraine ausrücken werden.
Erst wenn daraufhin offiziell NATO-Truppen in den Krieg eintreten sollten, oder Russland mit Langstreckenwaffen (von außerhalb der Ukraine) auf ukrainischem oder russischem Boden angegriffen werden sollte, würde die Tür zum Dritten Weltkrieg aufgestoßen.